22. Love und Sugar

In der Nacht auf Montag konnte ich nicht schlafen.
Es war schrecklich, wirklich nicht aushaltbar.
Meine Gedanken fraßen mich von innen auf und ließen mich keine Sekunde in Ruhe.
Ich lag in meinem Bett und wollte schreien und um mich schlagen. Aber ich tat es nicht und lag einfach nur still und starr da. In Wirklichkeit wollte ich nicht einmal mehr hier sein.
Nicht in meiner Wohnung. Nicht in London. Nicht mal mehr in England.
Mitten in der Nacht stand ich also auf, weil ich meine Augen nicht zubekam, schnappte mir mein Teleskop und fuhr ins Feld.
Ganz bewusst folgte ich nicht dem Weg zur Bank, sondern radelte in eine andere Richtung und landete letztendlich auf einem alten Friedhof mit einer kleinen Kapelle. Ich war so weit gefahren, dass dieser Friedhof schon nicht mehr zu Egham, sondern zum nächsten Dorf gehörte. Die Lichter der Straßenlaternen sah ich in der Ferne flackern.
Mein Fahrrad lehnt ich gegen das Steintor und schloss es nicht ab. Wer sollte es schon hier um diese Uhrzeit stehlen?
Langsam schritt ich durch den Eingang in den ummauerten Bereich, mein Teleskop weiterhin auf der Schulter. Meine Schuhe rutschten etwas auf den nassen bunten Blättern, die von den Eichen und anderen Bäumen gefallen waren. Nur noch wenige Blätter befanden sich noch in den Kronen und die schwarzen kahlen Äste erstreckten sich über den Friedhof wie ein kaputtes Dach.
Ich hörte nachtaktive Vögel hoch über mir, doch hatte ich keine Angst.
Gemäßigt schlenderte ich über den Friedhof an den ganzen Gräbern vorbei, aber ich warf keinen genaueren Blick auf die Namen, die auf den Steinen standen.
Ein Windzug wuschelte durch meine Haare und die zwei silbernen Kreuze, die an meinem Ohr hingen, wackelten hin und her.
Geradezu schien mir die kalte Luft ziemlich gut zu tun, denn meine kreisenden Gedankenfetzen beruhigten sich und erstarrten.
Für einen Moment fühlte ich mich wirklich frei. Auch wenn das nur eine Täuschung war, denn ob ich es wollte oder nicht, war ich in eine überirische Angelegenheit verwickelt, aus der es wohl keinen Ausweg gab. Nun ja, es gab einen, doch das konnte ich nicht zulassen.
Verärgert darüber, dass meine Gedanken wieder zu diesem Thema gefunden hatten, wischte ich sie weg und begann mein Teleskop auf eine niedrige Außenmauer zu stellen. Die Steine waren zwar feucht und nicht auf einer exakten Höhe, doch dafür hatte ich schließlich ein gutes Stativ.
Ich nahm mir alle Zeit der Welt, um mein Teleskop einzustellen und schaute dann hinauf in den Himmel. Sofort fiel mir der Nordstern, Polaris, ins Auge. Er thronte unverkennbar über mir im Sternzeichen des großen Wagens.
„Warum nur ich?" murmelte ich leise vor mich hin und seufzte. Warum hatte er mich für HR 8832 ausgewählt?
Schnell zog ich mein Teleskop zur linken Seite und beobachtete weitere Sterne, die nicht so viele Leute kannten und nicht so eine intensive Verbindung zu mir hatten. Blind zog ich ein Bleistift und einen kleinen Notizblock aus meiner Hosentasche und zeichnete die Punkte auf, ohne dass mein Auge sich vom Fernrohr löste.
Ich wollte mir nur über das Gedanken machen. Nur über die Sterne und nicht über das, was mich in einigen Stunden erwarten würde.
Im Inneren war ich sehr niedergeschlagen und kaputt, doch trotzdem ging ich richtig in meiner Arbeit, mitten in der Nacht, auf. Es war das Einzige, was im Moment richtig erschien zu tun.
Nach einigen Minuten löste ich mein Gesicht vom Ausguck zu den Sternen und rieb mir über mein Auge. Dann schaute ich herunter auf meinen Notizblock und beobachtete wie sich die vielen Punkte und Linien aus dem Himmel auf dem Papier wiederfanden.
Ganz oben rechts in der Ecke befanden sich viele Striche. Ich drehte den Block ein wenig und musste schlucken.
Deutlich erkannte ich dort den Buchstaben E.
E wie Ellie.

Die Universität war in letzter Zeit schon oft mehr ein Ort des Horrors als des Lernens für mich gewesen, und heute fühlte es sich an, als hätte sich die Zeit gegen mich verschworen.
Ich wollte, dass die Stunden nicht herumgehen würde, doch die Zeit rannte nahezu davon und bevor ich mich versehen konnte, war es früher Nachmittag.
Mit meinem Bein tippte ich nervös auf dem Boden herum und ich hatte das Gefühl nicht mehr aufhören zu können.
„Alles in Ordnung mit dir?" flüsterte mir Arthur leise zu und wand sein Blick von der Tafel des Vorlesungssaales ab.
„Ich bin nervös" antwortete ich leise und legte meine Hand auf meinen Oberschenkel und drückte ihn bewusst herunter. Gefühlt hatte mein Bein ein Eigenleben entwickelt. Ich wollte nicht vor den anderen Studenten unnötig auffallen, auch wenn mich jetzt so gut wie alle schon kannten. Schließlich war ich Froy, der Verschwörungstheoretiker mit dem blau geschlagenen Gesicht. Vor allem die Reihe vor mir und Arthur hatte sich schon öfters zu uns umgedreht, um zu schauen, woher das klopfende Geräusch kam.
„Darf ich fragen warum?" antwortete mein Studienfreund diskret.
„Ich..." begann ich und war mir dann unsicher. Meine Entscheidung war getroffen, aber das hatte ich vor meinem Gespräch mit Hera auch gedacht und hatte meine Meinung danach doch geändert. Ich konnte es ihm noch nicht sagen, noch nicht jetzt.
„Wenn es getan ist, können wir drüber reden" meinte ich nur und mein Bein hörte in dem Moment auf zu zucken als ich mir etwas niedergeschlagen durch die Haare strich.
Ich wusste, dass ich es tun musste, doch das hieß nicht, dass ich zufrieden war. Eher das Gegenteil war der Fall.
„Schönen Tag noch, liebe Zuhörerschaft, wir sehen uns dann am Donnerstag wieder" schloss meine Professorin ihre Stunde ab und alle machten sich daran aufzustehen und zu gehen. Für Arthur und mich war das die letzte Stunde für heute gewesen.
„Dann reden wir darüber, wenn du es für richtig hältst" schloss mein Nachbar unser Gespräch ab und ich nickte. Mir fehlten die Worte, weil die Zeit so schnell herumgegangen war. Viel zu schnell für meinen Geschmack. Ich war noch nicht bereit!
„Viel Glück, Froy" sagte Arthur noch wissend zum Abschied und verschwand dann in Richtung Innenstadt, während ich zu den Fahrradständern ging. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass mein Freund mehr wusste, als ich dachte.

Unruhig tigerte ich in meiner Wohnung hin und her.
Für heute hatte ich sogar extra das Hockey Training abgesagt, weil ich nicht wusste, wie viel Zeit ich brauchen würde.
Heute würde ich mich von Ellie trennen.
Die Worte brannten schmerzvoll in meinem Kopf, aber ich musste es tun.
Ich wollte Hera nicht sterben lassen und damit sie am Leben blieb, brauchte sie meine Liebe.
Und deswegen musste ich mich entscheiden. Ich wollte Ellie nicht weh tun, aber ich wollte auch nicht, dass HR 8832 für immer starb. Deswegen wählte ich das Sternenmädchen, schweren Herzens, denn eigentlich hatte ich mich vor ein paar Tagen für Ellie entschieden. Jedoch hatte ich damals nicht die Wahrheit gewusst.
Als ich Hera dann noch gefragt hatte, warum sie denn nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatte, meinte sie:
„Ich wollte dich zu nichts zwingen und dich nicht überfordern. Ich wusste, dass das neue Wissen viel für dich sein würde und ich wollte, dass du dich wirklich in mich verliebst"
Und sie hatte es tatsächlich irgendwie geschafft, sie hatte meine Gefühle für Ellie ins Wanken gebracht und auf den Kopf gestellt.
Ich hätte wütend auf sie sein sollen, doch nun verstand ich sie auch endlich. Mir wurde ihr ganzer Schmerz bewusst und obwohl ihr Leben mehr einer Hölle als dem Himmel glich, war es ihr Leben. Hera hatte Angst zu sterben und nicht mehr aufzuwachen. Sie wollte nicht aufgeben und deswegen hatte sie mir letztendlich die Wahrheit gesagt. Auch wenn das bedeutete, dass die Beziehung zwischen ihr und mir nie wieder die gleiche sein würde. Denn auch wenn sie es nicht wollte, Hera zwang mich zu einer Entscheidung, die mit großer Sicherheit auf sie fallen würde.

Es klingelte an meiner Tür und sofort brach mir der Schweiß aus.
Zitternd ging ich zum Eingang und erkannte durch die Kamera, dass es wirklich meine Freundin war. Und bald würde sie es nicht mehr sein.
Mein Gott, was tat ich hier?! Ich wollte das doch alles gar nicht, wie konnte es so weit kommen?
Ellie klingelte erneut und endlich drückte ich den Türöffner.
Unruhig tigerte ich wieder davon und versuchte tief durchzuatmen.
Ein und Aus.
Ich musste es tun.
Ein und Aus.
Es gab keinen anderen Weg.
Ein und Aus.
Du schaffst das, Froy.
Ich schloss noch einmal beruhigend die Augen, bevor ich meine Tür öffnete und meine Love gerade die letzten Stufen zu mir hinaufkam.
Sie lächelte mich zur Begrüßung an und ich zwang mir auch ein Lächeln ins Gesicht, doch es war nicht überzeugend genug.
„Hey Sugar, alles in Ordnung, du siehst betrübt aus?" fragte das Mädchen und griff nach meiner Hand, während ich die Tür hinter ihr Schloss.
„Wir müssen reden" brachte ich nur schwerfällig heraus und führte sie in mein Schlafzimmer. Dort deutete ich ihr an, dass sie sich auf mein Bett setzen solle. Als sie dies tat, ließ ich mich auf meinem Schreibtischstuhl nieder.
Ellie beobachtete jede meiner Bewegungen und ich spürte, dass sie ahnte, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise war ich nicht der Typ, der andere nur für ernste Themen herbestellte. Oft sprach ich meine Gedanken und Sorgen erst an, wenn man sowieso schon im Gespräch war.
„Worüber möchtest du mit mir sprechen?" fragte Ellie und unterbrach die Stille, die herrschte. Sie rieb sich über ihre Hände und sah dort auf meinem Bett ziemlich verloren aus.
„Ich möchte dir etwas sagen und es tut mir wirklich leid" begann ich betrübt, während sich ihre Augen langsam weiteten.
„Ich möchte Schluss machen, Ellie. Es tut mir leid" brachte ich es zu Ende und sah, wie sie nur fassungslos den Kopf schüttelte. Ihre Augen wurden feucht.
„Warum? Warum, Froy?" fragte sie und ihre Stimme zitterte.
„Ich... Meine Gefühle sind nicht mehr dieselben" murmelte ich schuldbewusst und wand meinen Blick ab.
Ich hörte, wie sie keuchend die Luft einzog und sich dann die Hand vor den Mund hielt:
„Du liebst mich nicht mehr?"
Doch, ich liebte sie noch. Aber ich konnte nichts tun. Ich war gefangen.
„Es tut mir so leid, Ellie" konnte ich nur antworten.
Ich wusste, dass es passieren würde, doch dass es mir so dermaßen das Herz brach, hätte ich nicht gedacht: Ellie begann schmerzlich zu weinen. Sie war verzweifelt, und zwar richtig. Ich konnte mich an keinen Tag erinnern, wo sie so bitterlich geweint hatte. Ihre Hände wollten die Tränen auffangen, doch sie tropften auf meine Bettwäsche.
Überfordert saßs ich auf meinem Stuhl und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihr so gerne helfen und sie umarmen. Ich wollte ihr sagen, dass alles gut werden würde, aber ich konnte es nicht. Ich hatte sie verletzt und ihr wehgetan. Als hätte ich ihr Herz herausgerissen.
Ellie schnappte nach Luft und sah mich wieder an. Ihre Augen waren rotgeweint und ihre Hände zitterten.
Plötzlich stand sie auf, kam auf mich zu und legte ihre Hände an mein Gesicht. Ihre Hände waren ganz warm und zart. Dann beugte sie sich vor und küsste mich auf die Lippe.
Ich spürte, dass ihr Kuss voller Leidenschaft war, sie steckte ihre ganze Liebe in diesen Kuss. Sie suchte nach einem Rettungsring, der zu meinem Herzen führte, doch ich hatte mich verschlossen. Es durfte kein Zurück mehr geben, auch wenn ich diesen Kuss so gerne erwidert hätte.
Eine Träne lief mir aus den Augen, ohne dass ich es kontrollieren konnte.
Auch Ellie spürte nun, dass ich nicht reagierte und wich einen Schritt zurück. Flehend sah sie mich an:
„Sag mir nicht, du hättest dabei nichts gefühlt. Ich liebe dich, Froy. Ich kann dich nicht gehen lassen"
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
„Du hast mir geholfen, die letzten Jahre zu überstehen. Wie soll ich ohne dich weitermachen? Wie soll ich das schaffen? Ich kann das nicht..." sie stand hilflos in meinem Zimmer herum und wirkte nicht mehr wie die Ellie, die ich kannte. Ihr Selbstvertrauen war verschwunden.
„Wir müssen weiterleben. Du wirst es schaffen und ich muss es auch tun" brachte ich nur heraus, schaute zu ihr hinauf und richtete mich ein wenig in meinem Stuhl auf.
Ihr schienen die Worte zu fehlen, denn sie schaute mich einfach nur an und weitere Tränen kamen aus ihren Augen. Langsam stand ich auf und trat an sie heran, ohne sie zu berühren.
Ich wollte ihr doch nur helfen.
„Wir können ja Freunde bleiben" meinte ich und wollte vorsichtig nach ihrer Hand greifen, doch dieser Satz schien etwas in ihr wachzurütteln, denn sie zog ihre Hand entschieden zurück. Ihr Ausdruck wandelte sich von der einen Sekunde auf die andere zu Wut. Und wie ich mich versehen konnte, holte sie aus und schlug mir ins Gesicht.
Es tat nicht doll weh, ich hatte schlimmeres ertragen müssen, aber solche Handgreiflichkeiten waren zwischen Ellie und mir immer nur Spielerein gewesen. Doch das war kein Spiel. Ihre Backpfeife war völlig ernst gemeint gewesen, auch wenn sie jetzt aussah, als würde sie es bereuen. Trotzdem sah sie immer noch wütend aus und wischte sich energisch ihre Tränen weg.
„Wie soll ich mit dir befreundet bleiben, wenn du mit dieser blöden Kuh Hera am Gange bist?!"
Ich blickte sie nur fassungslos an.
„Ich habe dich doch gewarnt vor dieser Schlange, Froy! Aber du bist so ein Idiot und fällst auf sie rein und vergisst mich dabei!" beschimpfte sie mich und ich nahm ihre Beleidigungen einfach hin. Ich hatte Ellie verletzt und ihre Worte deswegen auch verdient.
„Du bist so ein Arschloch!" frustriert fing sie an auf meiner Brust zu trommeln und mit jedem Schlag, zerbrach mein Herz noch mehr.
Aber ich hatte es verdient. Ich hatte ihren ganzen Zorn verdient.
Deswegen stand ich einfach nur da und ertrug ihren Wutanfall.
Auch fing Ellie wieder an zu weinen und nach einigen Sekunden hörte sie auf mich zu schlagen und lag schluchzend in meinem Arm.
Ich streichelte ihren Rücken und seufzte betrübt und hilflos:
„Es tut mir leid, Love, wirklich"
Als sie sich nach ein paar Moment wieder ein wenig gefasst hatte, meinte sie krächzend:
„Du kannst nichts für deine Gefühle" dann löste sie sich aus meinem Arm „Ich werde jetzt gehen" sie strich sich durch ihre verwuschelten und unordentlichen Haare. Ellie versuchte eine starke Miene aufzusetzen, obwohl ihr Gesicht glühte:
„Ich werde weitermachen müssen"
„Das werde ich auch versuchen" antwortete ich traurig und sie nickte nur schwach.
„Auf Wiedersehen, Froy" sagte sie noch zum Abschied, bevor sie sich umdrehte und aus meiner Wohnung verschwand.
„Auf Wiedersehen, Ellie, ich werde dich nie vergessen" antwortete ich noch, doch meine letzten Worte hörte sie schon gar nicht mehr.

Langsam schloss ich die Tür und erst jetzt wurde mir bewusst, was ich getan hatte.
Ich musste weitermachen.
Aber wie sollte ich das ohne Ellie können?
Mein Herz fühlte sich an, als würde es zerspringen.
Machtlos und erschöpft spürte ich wie meine Beine unter mir nachgaben. Ich fiel zu Boden und mein Kopf knallte mit voller Wucht gegen die harte Wand.
Benommen lag ich auf dem Flur und starrte hinauf an die Decke.
Tränen flossen aus meinen Augen, während über mir Lichtpunkte wie Sterne auf funkelten.
Wie sollte ich nur weitermachen können?
Das Einzige, was ich fühlte, war Schmerz und er schien nicht enden zu wollen. 

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