17. Wie soll es weitergehen?

In den nächsten Tagen verbrachten wir viele intensive Stunden damit, uns mit den Sternen zu beschäftigen.
Da das Wetter sich am ersten Abend leider doch verschlimmert hatte, sodass der Himmel komplett bedeckt war, hatten die Lehrer entschlossen am darauffolgenden Tag weiterzumachen.
Als wir am nächsten Tag wiederkamen, wurden wir direkt ins Forschungsgebäude gebracht. Da wir zu viele Leute waren, teilte man uns in zwei Teams auf.
Marina, ein Mädchen mit roten Haaren, welche sich als Takumis Freundin herausstellte, wurde mir zugeteilt. Zusammen gehörten wir der ersten Gruppe an, die sich am ersten Tag um das Untersuchen von Gestein und Funden kümmern würden und am Mittwoch ums Kartografieren.
Am ersten Tag war die Stimmung zwischen Marina und mir recht eingerostet, aber als wir abends dann ans Teleskop durften und wir beide begeistert waren, fanden wir zueinander.
„Schau dir diese Qualität an, Froy. Das Teleskop muss ganz neu sein"
Auch ich blickte hindurch und erkannte wirklich alles ganz genau. Der Zoom des Teleskops war unglaublich.
„Wow" konnte ich nur flüsternd erwidern, als ich den Mond sah, als wäre er direkt vor mir.

Am Mittwochnachmittag kamen wir alle im Forschungszentrum wieder zusammen und Marina und ich wurden mit den anderen Teams in das Erdgeschoss geschickt.
Dort wurden viele Karten ausgestellt, aktuelle sowie sehr alte.
„Dieses Karte scheint eine Nachempfindung aus dem Mittelalter zu sein" meinte ich nachdenklich, als ich eine Karte mit seltsamen Zeichen und Tierfiguren in den Sternen sah.
„Scheint so. Früher drehte sich wohl alles um den Polarstern" antwortete Marina und deutete mit dem Finger auf einen Stern, der im Vergleich riesig groß gezeichnet worden war.
„Wenn er der einzige Orientierungspunkt war, ist das auch recht verständlich"
„Trotzdem ein bisschen übertrieben" schmunzelte das Mädchen schulterzuckend und wand sich den nächsten Karten zu.
Im Raum befanden sich viele Vitrinen, sowie Tische und Materialien für Notizen.
Unsere Aufgabe für den Tag lautete einen Teil des Himmels in allen Kartenvarianten, die hier ausgestellt waren, darzustellen.
Marina schlug vor das Sternzeichen Wassermann und Umgebung zu nehmen, weil wir beide in dem Zeitraum Geburtstag hatten und ich war einverstanden.
Zuerst nahmen wir uns die mittelalterliche Karte vor und es stellte sich heraus, dass Takumis Freundin eine heimliche Künstlerin war, denn die Zeichnungen, die sie beifügte, um die Karte echter wirken zu lassen, sahen sehr gut aus.
„Danke, aber das ist wirklich nur ein kleines Hobby von mir" bedankte sie sich lächelnd, als ich sie lobte.
„Naja, du hättest auch Kunst studieren können" erwiderte ich und in dem Moment fiel mir ein, dass ich das zu Hera auch schon einmal gesagt hatte. Bevor ich von ihrer wahren Identität gewusst hatte.
Marina wank lächelnd ab und strich sich eine rote Strähne hinters Ohr.
Plötzlich blinkte etwas in ihrem Ohr auf und ich zog überrascht meine Augenbrauen noch oben.
Das Mädchen bemerkte meinen Blick und bevor ich etwas sagen konnte, erklärte sie schon:
„Das ist ein Hörgerät. Ich bin so gut wie taub auf dem Ohr"
„Das tut mir leid. Schon immer?"
Sie schüttelte den Kopf:
„Ne, erst seit einem Autounfall. In ein paar Jahren werde ich auf der Seite aber nichts mehr hören können. Ist ein unaufhaltbarer Prozess"
„Oh, das tut mir wirklich leid" sagte ich und stellte mir diesen schlimmen kriechenden Prozess vor, der mein Ohr zerstörte.
„Das hast du schon gesagt, aber danke" sie lächelte „Es hindert mich zum Glück nicht an meiner Arbeit und solange ich auf dem anderen Ohr hören kann, ist das schon in Ordnung"
„Naja, wenn du das so siehst"
„Was soll ich sonst tun? Ich gebe nicht auf" Marina zwinkerte mir zu und ich nickte. Trotzdem hatte ich ein zuschnürendes Gefühl im Bauch und obwohl es total meiner Natur widersprach, legte ich vorsichtig meine Hand auf ihre Schulter.
Ich wusste nicht, warum ich es tat, vielleicht wollte ich Mitgefühl zeigen. Zumindest fühlte es sich richtig an.
Überrascht blickte sie mich an und nickte mir dann beruhigend zu.
Dann nahm ich meine Hand wieder herunter und Marina begann über die nächste Karte zu sprechen, die wir entwerfen sollten, als wäre gerade nichts passiert.

Wir beide schafften es nicht ganz alle unsere Karten zu vollenden und Professor South meinte beruhigend, dass wir morgen dafür noch Zeit hätten, da es vielen Studenten, auch denen von gestern, so ergangen war.
Das beruhigte mich, sodass ich entspannt zum Teleskop gehen konnte. Arthur stieß kurz vorher zu uns und erzählte, wie sein Kartografieren verlaufen war. Auch er und sein Teampartner waren nicht fertig geworden.
Obwohl Marina nicht gezwungen war auch das Teleskop schauen mit mir, also ihrem Gruppenpartner, zu machen, blieb sie in meiner Nähe und unterhielt sich mit uns.
Am Anfang, vor allem auf dem Campus, hatte ich sie für schüchtern gehalten, doch nun merkte ich, wie sie aufblühte, wenn man sich erst einmal gut mit ihr verstand.
Aber sie ähnelte auch Ellie ein wenig, denn beide waren nahezu besessen von guter Leistung. Marina gab sich die ganzen Tage richtig Mühe, machte sich sogar nebenbei Notizen für den Ausflugsbericht und durchlöcherte die Angestellten der Sternenwarte mit Fragen. Unsere Dozenten schienen das recht positiv zu bewerten, denn sie hatten uns oft gelobt, wenn sie an unserem Tisch vorbeigekommen waren.
Auch Takumi kam zum Sterne schauen zu uns und klopfte mir leicht auf die Schultern.
Arthur schaute erst erschrocken zu mir und wartete auf meine Reaktion, doch ich blieb ruhig. Ich hatte meinem Zimmerkameraden schon am ersten Abend geschildert, dass ich Probleme mit Berührungen hatte, und dieser hatte es wie selbstverständlich akzeptiert.
Als wir uns gestern am Dienstag dann aber doch aus Versehen berührt hatten, als wir gleichzeitig durch die Tür wollten, hatte er sich richtig ehrlich entschuldigt.
Seltsamerweise hatte mir Takumis Berührung nichts wirklich ausgemacht, weshalb ich ihm solche Kleinigkeiten erlaubt hatte. Sein Lächeln daraufhin war unbeschreiblich.

Marina trat ans Teleskop heran, beugte sich vor, verstellte die Rädchen um winzige Millimeter und schaute dadurch durch die geöffnete Kuppel in den Himmel, der heute nur leicht bedeckt war.
„Komm Froy, schau du mal durch" winkte sie mich zu sich heran.
Ich ging die Stufen aus Metall hinauf, um auf die erhöhte Position des Teleskops zu gelangen und stand dann neben der rothaarigen jungen Frau.
Ich beugte mich ebenfalls vor und legte mein Auge an die Linse. Mein anderes Auge kniff ich zu, damit das helle Licht mich nicht ablenken konnte.
Ich schaute hindurch und sah das Sternenbild Aquarius, das Sternzeichen Wassermann. Marina hatte das Teleskop genauso eingestellt, dass man alle Sterne sah, die wir auch auf unserer Karte verzeichnet hatten.
Ich musste lächeln: „Das kommt mir doch bekannt vor"
„Hoffe ich doch" hörte ich Marina grinsen, ohne dass ich mein anderes Auge öffnete.
Ich löste mein Gesicht wieder vom Teleskop und blinzelte kurz. Das Licht im Teleskopturm war sehr schwach. Im Vergleich zum Schein des Himmels aber recht hell.
Jedem Studenten waren fürs erste 5 Minuten pro Tag am Teleskop versprochen worden und so trat ich zurück, um Marina nicht ihre Zeit zu klauen.
Dann stellte ich mich zurück zu Arthur und Takumi und wartete.
Ich hatte schon oft den Himmel beobachtet, zwar nicht mit so einem guten Teleskop, aber ich hatte Zeit, um zu warten, bis ich dran war. Der Himmel lief schließlich nicht weg.
Um 1 Uhr morgens fiel ich dann müde ins Bett und träumte von Karten, die in den Himmel führten.

Die letzten Tage hatten wir immer am Vormittag freie Zeit gehabt, doch am Donnerstag war eine Stadtführung angesetzt. Sie war nicht lang, denn die Stadt war auch nicht groß, aber anstrengend, da wir wieder bis in die Nacht gearbeitet hatten.
Normalerweise war ich diese späte Schlafens Stunde gewohnt, aber die neue Umgebung von Chichester stresste mich ein wenig, so auch das andere Bett und das Zimmer teilen mit einem fremden Jungen. Außerdem lief ich zuhause nach dem Aufstehen auch nicht ewig durch Stadt und Land, sondern setzte mich aufs Fahrrad, fuhr zu Uni und blieb da für den Rest des Tages. Dazwischen gab es einen deutlichen Unterschied.
Trotzdem war es seltsam zu wissen, dass wir nur noch den heutigen Tag und morgen bis Mittag hierbleiben würden. Die jetzige Nacht auf Freitag würde unsere letzte am Teleskop sein.
Als wir nachmittags also wieder bei der Sternenwarte eintrafen, verschwanden die Paare in die unterschiedlichsten Räume. Marina, ich und viele andere gingen in den Kartenraum, um unsere Aufgabe fertig zu machen. Eine Hand voll Leute ging nochmal in die Planetarium Ausstellung und der Rest setzte sich in die Gemeinschaftsräume, um in Ruhe ihre Berichte schreiben zu können. Ich persönlich nahm mir das eher fürs Wochenende vor.
Die Stimmung war locker und ich verstand mich mit meinen neuen Freunden immer besser, sodass ich öfters auch richtig lachen musste. So langsam bekam ich das Gefühl die Leute gefunden zu haben nach denen ich im Studium gesucht hatte.
Das stellte sich auch noch genauer heraus, als Takumi und ich abends in unserem Zimmer saßen.
Wir hatten die eher früheren Zeitslots fürs Teleskop bekommen, diesmal bekam jeder zum Abschluss 10 Minuten, und waren deswegen schon um kurz vor 23 Uhr zur Jugendherberge geschickt worden, um ins Bett zu gehen.
Nach und nach würden die anderen dann auch kommen, aber so hatten wir beide unsere Ruhe, nachdem Takumi und ich einzeln hintereinander geduscht hatten.

Ich saßs auf meinem Bett, mit einem grauen lockeren Pullover übergezogen und an die kalte Wand gelehnt.
Ich dachte an Ellie und was sie wohl gerade so tat, als Takumi sein Buch über Raumfahrten im 20. Jahrhundert zur Seite legte und mich anschaute.
„Woran denkst du gerade, Froy? Du siehst irgendwie traurig aus" meinte er sachlich ohne einen Hauch von Wertung oder Vorwurf.
„Ich denke an meine Freundin, aber traurig bin ich eigentlich nicht" antwortete ich etwas verwundert.
„Achso, wie heißt sie denn?" fragte Takumi nach.
„Ellie Odds"
„Ein ungewöhnlicher Name für jemanden mit japanischen Wurzeln" dachte mein Zimmernachbar laut nach.
„Das hat sie auch oft gesagt" bestätigte ich und schaute zum Fenster, wo sich die Dunkelheit breitgemacht hatte und Regentropfen gegen das Glas klopften. Wir hatten wirklich Glück gehabt, dass wir vorhin unsere 10 Minuten gehabt hatten.
„Studiert sie auch?"
„Ja, Geographie. Wie habt du und Marina euch eigentlich kennengelernt?"
„Ist gar nicht so spannend, wir haben uns im letzten Jahr getroffen, als wir unsere Bewerbungsunterlagen für das Studium abgegeben haben. Dann sind wir in Kontakt geblieben und dann zusammengekommen" erzählte er kurz und knapp und ich nickte.
„Und was ist mit dir und Ellie, wie liefs bei euch?" fragte Takumi und packte sein Kissen hinter seinen Rücken, sodass er sich nicht an die harte Wand anlehnen musste.
„Etwas komplizierter" ich dachte kurz nach und begann dann zu erzählen. Es war eine schwierige Übergangszeit für mich gewesen, aber auch schön.
„Ich muss ein bisschen ausholen, um es zu erklären, denn eigentlich hätten Ellie und ich uns vermutlich gar nicht so bewusst kennengelernt. Wir sind in Dover auf eine sehr große Schule gegangen und waren im gleichen Jahrgang. Allerdings hatte ich nie Kontakt mit vielen Menschen und schon gar nicht mit den Schülern aus anderen Klassen.
Vor fast zwei Jahren habe ich an einem Wettbewerb von einer Uni teilgenommen, wo es um die Bewertung von Planeten ging. Also ab welchem Punkt man ein Gestein als Planeten bezeichnet, so wie das früher ja auch bei Pluto die Frage war. Die Aufgabe war es, ein Dokument zu gestalten, auf dem die eigenen Vorstellung und Maßstäbe präsentiert werden. Zusätzlich habe ich mich dann noch mit Sonnen befasst und das hat mir den ersten Platz eingebracht.
Ich bekam ein Preisgeld und weil die Schule mich bei dem Wettbewerb unterstützt hatte, wurde ich daraufhin von der Schülerzeitung interviewt. Ich weiß es noch ganz genau. Ich saßs im November, es stürmte draußen und hagelte, im Klassenraum der 5e und zwei Mädchen aus der 10 Klasse hatten mir Fragen gestellt. Sie waren wohl vorher darüber informiert worden, dass ich nicht so der gesprächige Typ sei, denn sie reagierten sehr professionell, als alle meine Antworten recht kurz ausfielen. Mein Interesse an der Schülerzeitung war nie hoch gewesen und den Wettbewerb hatte ich aus eigenem Interesse gewonnen und nicht für die Schule.
Ich war froh als das Gespräch vorbei war und die Mädchen mir bestätigten, dass sie von mir schon ein Foto finden und für den Artikel benutzen würden.
Als ich den Raum verließ und in die Pausenhalle ging, die direkt nebenan war, sah ich Ellie. Ich sah ihr sofort an, dass sie auch auf das Interview wartete, sie wirkte nervös, aber selbstbewusst.
Du musst wissen, Takumi, ich hatte eine schwierige Phase, bevor ich sie kennengelernt hatte und war deswegen unsicher, als ich sie sah. Ich hatte ein seltsames Bedürfnis dieses Mädchen kennenlernen zu wollen"
Takumi nickte interessiert, als ich kurz stoppte.
„Also sprach ich sie an: Hey, bist du auch zum Interview hier? hatte ich sie gefragt. Sie hatte genickt und sich direkt vorgestellt, sie war viel besser erzogen als ich. Sie fragte mich, ob ich zur Schülerzeitung gehörte, aber ich erklärte, dass ich interviewt worden war. In dem Moment wollte ich vor ihr angeben, ich wusste, dass es einen Grund haben musste, warum die Schülerzeitung sie auch sprechen wollte. Ellie musste irgendwas Besonderes an sich haben. Das reizte mich.
Es stellte sich heraus, dass sie zum wiederholten Male für die Schule im Turnen die Goldmedaille geholt hatte, und es freute mich, als sie meinte, dass sie auch schon von meinem Wettbewerb gehört hatte.
Ich hätte mich sehr gerne noch länger mit ihr unterhalten, aber sie wurde von den zwei Redakteurinnen aufgerufen und sie gab mir noch schnell ihre Nummer, damit ich ihr schreiben konnte. Ich brauchte Stunden, um endlich die erste Nachricht zu schreiben, aber wir kamen über die nächsten Monate in tolle Gespräche, verabredeten uns und irgendwann kamen wir zusammen. Sie ist meine erste richtige Beziehung" schloss ich und dachte an die Zeit zurück.
Damals merkte ich, dass Liebe vielleicht doch etwas anderes war als ich gedacht hatte.
Die Mädchen, mit denen ich Sex gehabt hatte, hatten mir nicht das Gefühl gegeben, was Ellie mir nur mit ihrer puren Anwesenheit gab. Auch nach dem Interview ging ich noch wochenlang mit meinen bescheuerten Freunden feiern und machte mit fremden Mädchen herum. Aber dann merkte ich, dass mein Kopf nicht leer war, bestückt mit sinnlosem Verlangen. Nein, ich wollte Ellie, ich wollte mit ihr das erleben.
Am Anfang hatte ich sie überreden wollen, mit zu den Partys zu kommen, denn ich wollte ihr näher sein, wusste aber nicht, wie das ohne Alkohol gehen sollte. Doch sie hatte nur den Kopf geschüttelt und gemeint, dass sie kein Alkohol trinken und deshalb auch nicht auf solche Feiern gehen würde. Das hatte mich natürlich etwas niedergeschmettert, aber da ich mich dadurch immer mehr von meinen Freunden entfernte und mehr Zeit mit Ellie verbrachte, merkte ich langsam was für ein Monster aus mir geworden war. Es hatte Ellie gebraucht, um mir die Augen zu öffnen.
Unser erster Kuss, nach 7 Monaten Freundschaft, war kurz und zögerlich gewesen und er war von Ellies Seite gekommen. Ich hätte mich Anzufangen nie getraut und habe bei dem Gedanken schon vor Unsicherheit gezittert.
Mum, ich glaube ich habe Liebe gefunden; habe ich dann in dem Moment gedacht und es nicht wirklich fassen können. Das erste Mal mit Ellie folgte wenige Wochen später und es war ihr egal, woher ich die Erfahrung hatte, woher ich wusste wie man Mädchen glücklich machte, sie nahm mich einfach, wie ich war. Wir harmonierten von Anfang an sehr gut und das sorgte bei mir für eine unglaubliche Erleichterung.
Kurz danach beendete ich die Freundschaft zu meinen Ersatzfreunden für Tristan und ging nicht mehr auf solche Partys und trank so gut wie kein Alkohol. Ellie führte mich auch in die Welt der Beziehung ein: Zärtlichkeit, Verlangen, gemeinsame Zeit zusammen, ohne etwas Bestimmtes tun zu müssen, alles das hatte sie mir beigebracht und gezeigt.
Am Anfang war ich überfordert mit solchen Dingen wie Geschenke oder regelmäßige Treffen, ich hatte Sorge, dass ich etwas falsch machen würde oder dass Ellie so viel Zeit bräuchte, dass ich die Sterne vernachlässigen würde, doch sie sorgte für ein gutes Gleichgewicht in der Beziehung. Durch ihren Perfektionismus und meinen leichten Kontrollzwang war es manchmal nicht leicht gewesen, aber wir hatten uns so schnell wieder vertragen, dass es gar nicht der Rede wert gewesen war.

„Das ist wirklich eine interessante Kennenlern-Geschichte" Takumi lächelte mir zu und schon fast hatte ich vergessen, was ich ihm das erzählt hatte. Die Gedanken an die Vergangenheit sorgte oft dafür, dass ich mein Umfeld vergaß.
„Weißt du Takumi, Marina hat mir erzählt, dass sie bald auf einem Ohr taub sein wird..." meinte ich plötzlich, weil mir der Gedanke wieder in den Sinn gekommen.
Er nickte und strich sich über seine kurzen Haare:
„Ja, sie hatte einen Unfall und die Ärzte meinte wohl, dass es keine Hoffnung mehr für das Ohr gibt"
„Belastet dich das?"
„Ja natürlich, es ist für mich vermutlich schwer als für sie, wenn ich sie zu den Terminen begleite und ihr Hörgerät verstärkt werden muss"
„Warum sollte es für dich schlimmer sein?"
„Weißt du, Marina hat ihr Schicksal schon akzeptiert, aber ich hoffe jeden Tag das Beste für sie und so bete ich dafür, dass ihr Ohr nicht komplett taub wird" erklärt er.
„Obwohl es vermutlich aufhaltbar ist..." füge ich leise zu und Takumi zuckt nickend mit seinen Schultern.
Nach einer kurzen Schweigepause, in der ich nach draußen sah und das Wasser am Fenster herunterlief, begann ich wieder zu sprechen:
„Du erinnerst mich übrigens an jemanden, Takumi"
„An wen denn?" fragte er neugierig und ich musste lächeln, plötzlich wirkte er gar nicht mehr wie Ende 20.
„An Tristan, das war mein ehemals bester Freund. Er war immer locker drauf, hat mehr gesprochen als ich, naja das ist ja auch nicht schwer. Aber ich konnte irgendwie immer mit ihm reden"
„Mit mir kannst du auch immer reden" erwiderte der junge Mann und lächelte mir freundlich zu.
Ich nickte: „Ja das Gefühl habe ich auch. Mit dir kann ich auch über Sterne reden, das war nicht so Tristans Thema" ich grinste. Mein bester Freund hatte sich nie wirklich für die Sterne interessiert, er unterstützte mich zwar, aber den gemeinsamen Nenner hatten wir beim Hockey gefunden. Er war ein großer Fan vom Profi Hockey Sport gewesen, woran ich nur mäßiges Interesse hatte, aber wir waren beste Freunde und diese hörten dem anderen zu, auch wenn es für einen nicht das spannendste war, für den anderen bedeutete es vielleicht die Welt.
Takumi lachte laut: „Ja, also mit Sterne triffst du mich jederzeit"
„Hast du dir deswegen auch alle Tierkreiszeichen in Sternenkonstellation tätowiert?" fragte ich grinsend und sprach seine Arme und Beine an, die voll mit schwarzen Tattoos waren. Für einen Laien waren das vielleicht nur Punkte und Striche, aber ich erkannte sie sofort zwischen den Blumen und Blättermotiven, die sich außerdem auf Takumis Haut befanden.
Er strich sich lächelnd über eine Stelle am Arm, wo das Sternzeichen Steinbock thronte und wo eine Nadel mit Tinte in ihn eingedrungen war, viele Male. Diese Vorstellung machte mir ein wenig Angst, was auch der Grund dafür war, warum ich nicht unbedingt Tattoos haben wollte.
„Ich glaube an Horoskope, also auch an die Sternzeichen und hab sie mir deswegen stechen lassen. Aber ich glaube auch an Engel, Geister und anderen übernatürlichen Kram, da bist du ja vermutlich nicht so der Typ für, oder?" er lachte leise und hielt sich die Hand vor die Augen.
Bei dem Wort Engel blieb mein Herz für einen kurzen Moment stehen, da ich an Heras Worte dachte:
‚Läuft also jemand vor ein Auto und wird wie von Zauberhand doch nicht überfahren, sagt ihr Menschen, ein Schutzengel hätte die Hand schützend über euch gehalten, doch in Wirklichkeit war es ein Lichtkind'
Ich zögerte bevor ich antwortete: „Naja, Sternzeichen ist nicht mein Gebiet, aber mein Gedankengang zu Engeln und Geistern verändert sich im Moment ein wenig" versuchte ich es indirekt zu beschreiben, ohne das ganze Geheimnis auszuplaudern.
„Wie kommt's?" fragte mein neuer Freund interessiert nach.
Etwas nervös spielte ich an meinem Nasenpiercing und an meinen Ohrringen herum. Ich wollte das Geheimnis über die Lichtkinder nicht einfach offenbaren, aber so langsam machte mich dieses Wissen verrückt. Irgendwem musste ich es erzählen, zumindest einen winzigen Teil der großen Sache. Und Takumi Hayami schien die richtige Person dafür zu sein.
„Ich habe eine Erfahrung mit meinem Schutzengel gehabt, neulich als ich mich mit Edgar geschlagen habe" ich deutete auf mein Auge, dass nun schon nicht mehr blau und geschwollen war.
„Ein Engel hat mich gerettet, bevor etwas schlimmeres passieren konnte" ich schluckte und dachte an die Vision von HR 8832 „Nun sehe ich die Welt ein wenig anders"
Takumis Augen waren weit geöffnet: „Ja gut, dass ist verständlich, dass das nun alles auf den Kopf stellt"
„Ja das tut es, ich habe immer geglaubt, diese fremden Energien seien so weit weg, unbegreifbar für uns Menschen, aber nun sind sie hier auf der Erde. Ich habe Dinge erfahren, nach denen ich mein ganzes Leben lang gesucht habe und weiß nicht, wie ich jetzt damit umgehen soll" ich schüttelte leicht verärgert den Kopf
„Jedes Wissen hat seinen Preis und ich dachte ich wäre bereit den Preis zu bezahlen, egal wie hoch er ist. Ich hatte idiotischerweise gedacht, ich müsste vielleicht gar keinen Preis bezahlen. Und nun stehe ich in die Ecke gezwungen und kann nicht mehr zurück"
Takumi nickte verständnisvoll über meine Emotionen, obwohl er vermutlich nicht mal verstand, wovon ich redete.
„Wir hoffen alle, dass wir für nicht einen Preis zahlen müssen, Froy" sagte er mit ruhiger Stimme „Jeder hofft, dass er mit dem davonkommt, was er anstellt, aber so ist es nicht. Leider. Marinas Mutter fuhr betrunken Auto, kam in einen Unfall und ihre Tochter muss nun jeden Monat zum Arzt um gesagt zu bekommen, dass ihr Gehör immer schlechter wird. Ist das der Preis gewesen den Marinas Mutter für ihr Vergehen gezahlt hat? Auch sie war nach dem Unfall verletzt, hat aber keine Langzeitschäden.
Das Leben ist manchmal ungerecht, weil wir den Preis für unseren Taten nicht kennen.
Aber auch wenn du dich in die Ecke gedrängt fühlst, gibt es immer einen Ausweg. Solange du einen freien Willen hast, ist nichts festgeschrieben"
„Ich habe das Gefühl, dass das nicht immer stimmen kann, Takumi"
„Du musst an dich glauben, Froy. Ich weiß, dass du anders tickst als andere Personen, die ich kenne. Ich weiß, dass du dich viel mehr mit dir beschäftigst und mit deiner Passion als mit den Dingen, die Leute über dich sagen. Manche würden dich für eingebildet halten oder überheblich, aber das bist du nicht. Du bist perfekt so wie du bist"
„Die anderen Leute kann ich nur ignorieren, weil ich sie nicht verstehe. Ich schaue in ihre Gesichter und verstehe sie nicht. Ich kann ein Lächeln lesen, wenn jemand böse oder traurig ist, aber alles dazwischen verstehe ich nicht. Ich kann dich nicht mal richtig lesen, obwohl ich dich mag..." erschöpft ließ ich meine Arme aufs Bett fallen und schaute an die Decke. Mein Zimmernachbar blieb weiterhin gegenüber von mir auf seinem Bett sitzen.
„Irgendwann wirst du mich lesen können. Mein Cousin hatte früher genau die gleichen Schwierigkeiten wie du. Aber seine Liebsten konnte er irgendwann auch ohne Worte verstehen" meinte er leise. Dann hörte ich wie sein Bett knackte und schaute wieder nach vorne. Takumi stand neben meinem Bett und deutete auf meine Matrazenkante:
„Darf ich?"
Ich nickte. Er setzte sich und achtete darauf genügend Abstand zwischen ihm und mir zu lassen.
„Du willst es vielleicht nicht hören, aber ich sehe dir an, dass da noch mehr ist. Wenn du willst, kannst du es mir erzählen. Ich verrate auch niemanden was, versprochen" er hob seine Hand und legte die andere auf sein Herz.
Ich seufzte leise. Eigentlich waren die ganzen Gefühle schon zu viel für mich, aber ich wollte die Sorgen endlich loswerden und sie aussprechen. Heute würde die letzte Nacht in Chichester sein und danach würde ich vermutlich nicht mehr einfach so mit Takumi alleine in einem Zimmer sein.
„Es gibt noch eine Sache und da kannst du mir vielleicht ganz gut helfen"
„Hau raus"
„Es geht um ein anderes Mädchen und ich weiß nicht, was ich für sie empfinde" sagte ich und verschwieg ihm, dass es sich bei dem Mädchen um den besagten Engel handelte.
„Oh verstehe und Ellie, liebst du sie denn immer noch?" murmelte er nachdenklich.
„Natürlich, so wie immer, aber dieses andere Mädchen liebt mich glaube ich und im Prinzip mag ich sie auch" erklärte ich ihm und wischte mir mit der Hand übers Gesicht, meine Stirn kam mir ganz warm vor.
„Und wenn du nicht mit Ellie zusammen wärst, würdest du vielleicht in Betracht ziehen, sie näher kennenzulernen?"
Ich nickte.
„Schwierig, Froy. Weißt du zufällig, ob du polyamor bist?"
„Was ist Polyamor?" fragte ich etwas verwirrt und schaute Takumi fragend an.
„Das ist, wenn man mehrere Leute gleichzeitig liebt" erklärte er.
„Ich weiß nicht, Ellie ist das erste Mädchen, was ich liebe. Beim anderen Mädchen fühlt es sich irgendwie anders an, nicht so sehnsüchtig. Glaube ich zumindest" versuchte ich meine Gefühle in Worte zu fassen.
„Ich kann natürlich keine Diagnose für dein Problem stellen, das musst du selbst entscheiden, aber wenn das deine erste Beziehung ist, dann reite dich vielleicht lieber nicht in solche Schwierigkeiten rein. Du liebst Ellie? Sehr gut und wenn die Gefühle so bleiben, noch besser, dann bleib bei ihr, vergiss die andere und sei glücklich. Wenn du dir unsicher bist, könntest du über eine Veränderung nachdenken, aber die Verwirrung, die du gerade spürst, ist vielleicht was ganz anderes"
„Was denn?"
„Hast du schon mal was von einem Squish gehört?"
„Nein"
„Wundert mich nicht, ist in dem Kontext auch eher ein unbekanntes Wort. Es bedeutet, das Verlangen nach einer Person, aber auf freundschaftlicher Ebene. Vielleicht möchtest du mit diesem anderen Mädchen sehr gerne befreundet sein, dich mit ihr unterhalten, ihr Dinge anvertrauen und Zeit verbringen. Aber vielleicht war es das schon. Sie wäre dann einfach nur eine gute Freundin für dich. Ist das vielleicht eine Möglichkeit?"
Ich dachte nach. Irgendwie passte das schon, was Takumi gesagt hatte. Meine Gefühle für Hera waren ganz anders als die für Ellie und ich wollte gerne viel Zeit mit Hera verbringen, weil ich ihr zuhören und mit ihr über die Welt philosophieren wollte. Da war nicht dieses andere Verlangen.
„Vielleicht hast du Recht" brachte ich heraus und klopfte mit meiner Hand leicht auf seinen Arm
„Danke Takumi"
„Kein Ding, kannst immer zu mir kommen, wenn du Hilfe brauchst. Aber wir sollten jetzt vielleicht lieber schlafen gehen" er stand auf, schaltete das Licht aus und zog sich in sein Bett zurück.
Ich lag in meinem Bett und starrte an die Decke, vor meinem inneren Auge sah ich Sterne und Planeten, auch wenn ich die Augen geschlossen hatte.
Nach ein paar Minuten drehte ich mich in Takumis Richtung und da er noch nicht gleichmäßig atmete, wie er es die letzten Nächte getan hatte, nahm ich an, dass er noch wach war.
„Takumi?" flüsterte ich.
„Ja?" antwortete er leise, obwohl es keinen Grund gab wirklich still zu sein.
„Wie würdest du reagieren, wenn ich dir sagen würde, dass immer, wenn eine Sternschnuppe vom Himmel fällt, ein Engel auf die Erde kommt?" ich blinzelte und ein winziges Licht spiegelte sich in seinen Augen wider.
„Ich würde dir glauben" ich hörte sein Lächeln, ohne es zu sehen und drehte mich ebenfalls mit einem Lächeln wieder zurück.
„Danke"
Es hatte gut getan einem Freund alles erzählen zu können, naja zumindest einen Teil der Wahrheit.
Ich schlief wenige Augenblicke später ein und träumte seit Tagen endlich mal wieder von nichts.

Am nächsten Tag holten wir alle verblieben Sachen aus dem Sternen Forschungszentrum, verabschiedeten uns von den Angestellten, die uns die letzten Tage unterstützt hatten und fuhren am Mittag wieder nach London. Nach Hause.
Dort angekommen begrüßte mich Ellie mit einem stürmischen Kuss und ich umarmte sie so fest wie ich nur konnte.
Als mein Blick wieder auf Takumi und Marina fiel, sah ich wie er mir zunickte. Sein Blick war wissend. Auch ich nickte, schloss dann die Augen und vergrub mein Gesicht in Ellies Haaren. Ich wollte meine Umwelt vergessen.
Ich hatte Zeit gebraucht, um nachzudenken, hatte Abstand benötigt und einen beratenden Freund, dem ich mein Leid klagen konnte, das ich so lange heruntergeschluckt hatte.
All das hatte ich erhalten und eines war mir jetzt klar: Ich wollte Ellie nicht verlieren. 

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