12. Mehr als nur ein blaues Auge

Ich trat in die Pedale meines Fahrrads und es fühlte sich so an, als würde ich mir ein Bein brechen. Naja, das war vielleicht etwas übertrieben, aber bei jeder Bewegung zuckte mein Körper und wollte sich dagegen wehren.
Doch was würde es bringen tagelang nur im Bett zu liegen, obwohl ich geistig fit war?
Heute Morgen hatte ich mir schon eine Schmerztablette eingeworfen, die mir die Ärztin verschrieben hatte und ich befolgte ihren Rat für die nächsten Wochen keinen Sport zu machen. Deswegen hatte ich Harvey gestern, obwohl es Sonntag gewesen war, angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ich beim Hockey erstmal ausfallen würde.
Das Fahrradfahren war mir allerdings erlaubt gewesen und der Weg zu Fuß zur Uni wäre schon ein ganzes Stück gewesen und vermutlich dann auch zu viel für meine körperliche Verfassung.
Als Hera am Wochenende den Krankenwagen gerufen hatte, hatte sie zwar meinen Rucksack, aber nicht mein Fahrrad, mit in Krankenhaus nehmen können, weshalb ich erstmal herausfinden musste, wo es überhaupt geblieben war.
Das einfachste wäre gewesen, Hera anzurufen und zu fragen. Doch etwas hielt mich zurück und obwohl ich dem Mädchen gerne gesagt hätte, dass es mir besser ging und ich wieder zuhause war, rief ich sie nicht an.
Denn, obwohl ich mir einreden wollte, dass ich am Abend nur fantasiert hatte, fühlte sich alles zu real an. Ich konnte mich, wenn ich mich bemühte, genau daran erinnern, wie Hera vor mir stand und die Zeit angehalten hatte. Ich sah den goldenen Nebel vor meinem inneren Auge und fühlte die Kraftlosigkeit als ich ihn berühren wollte. Auch der Moment, wo das blonde Mädchen im Gras vor mir sahs und erzählte, dass sie wirklich ein Stern war, verschwand nicht aus meinem Kopf. Obwohl ich hier zugeben muss, dass ich mich an das Ende des Gesprächs nicht mehr erinnere.
Ich spürte ihre kalte Hand auf meiner Stirn, weil sie vor mir stand und verspürte einen kurzen Schmerz, als sie mich am Hinterkopf berührte. Der Rest danach war eine Erinnerung bestehend aus teilweisen verschwommenen Bildern und anderen Sinneseindrücken.
Aber es hatte sich so real angefühlt, obwohl es verrückt klang. Und das verunsicherte mich extrem.
Ich wollte mich nicht vor Hera zum Affen machen und sie nach diesen ganzen Dingen fragen, wenn ich das alles nur fantasiert hatte.
Diese Unsicherheit gefiel mir nicht, aber ich konnte nichts dagegen tun. Meine einzige Möglichkeit war sie anzurufen. HR 8832.

Aber ich hatte sie nicht angerufen und musste deswegen mein Fahrrad aus dem Feld holen. Der Weg dorthin war recht weit und ich war kurz davor gewesen, Ellie anzurufen und sie um Hilfe zu bitten, da es sich angefühlte hatte, als könnten meine Füße keinen Schritt weitergehen.
Doch dann hatte ich mein Rad tatsächlich wiedergefunden und war mit letzter Kraft nach Hause gefahren.
Auf dem Weg war ich wieder an der Bar und der dunklen Gasse voller Garagen vorbeigefahren. Ein ungutes Gefühl und eine Gänsehaut hatten sich auf meinem ganzen Körper verbreitet, obwohl mir nicht mal was Schlimmes passiert war. Ich hatte Hera gerettet, die hilflos gewesen war.
Obwohl ich mich im Nachhinein frage, wenn meine Erinnerungen wirklich wahr sind, warum hat sie dann nicht früher die Zeit angehalten und sich gerettet? Das würde doch viel mehr Sinn ergeben...
Ist das der Beweis dafür, dass mir mein Kopf einfach nur einen Streich gespielt hat?

Ich fuhr die Straße entlang zum Campus Gelände.
Die Studenten, die mir entgegen kamen, sahen mich überrascht an und ich ignorierte es. Ich wusste wie ich aussah, verletzt. Meine langen Sachen, trotz Sommerhitze, die jetzt auch noch bis in den September anhielt, verdeckten den meisten Teil meines Körpers und somit auch die vielen blutigen Kratzer. Aber mein Hals und mein Gesicht waren deutlich zu sehen und nicht ungeschoren davon gekommen. An der linken Seite meines Hals, sah man ein helllila Abdruck von Edgars Hand. Dort hatte er mich gewürgt und meine verletzten Adern vergaßen nicht so schnell wie ich es gerne gehabt hätte.
Auch mein Gesicht sah geschunden aus, ich hatte es zwar mit ein wenig Fondation von Love kaschieren können, doch mein blaues Auge schimmerte trotzdem immer noch gut sichtbar hervor, genauso wie meine leicht gerötete Gesichtshälfte.
Als ich gestern auf dem Weg zu meinem Fahrrad gewesen war und mich die Leute dort angeschaut hatten, war ich beschämt ihren Blicken ausgewichen.
Ich hatte zwar ein gutes Selbstbild von mir, doch diese Blicke von fremden Leuten, durchbohrten mich wie Nadeln und raubten mir fast den Atem. Als ich dann wieder zuhause gewesen war, war mir bewusst geworden, wie erbärmlich ich mich gerade benahm. Ich sollte stolz sein auf das, was ich getan hatte, es war eine andere Art von Prügelei gewesen. Eine gute Art. Sie war sinnvoll gewesen. Es gab eigentlich keinen Grund mich zu schämen.
Ich schwor mir, dass mir die Blicke heute egal sein würden.
So wie ich mir am ersten Tag in der Uni geschworen hatte, bloß nicht negativ aufzufallen.
Und so fuhr ich durch die Straßen, starrte ins Leere und nickte Leuten zu, als wäre es das Selbstverständlichste so auszusehen wie ich.
London war als Großstadt zu Privat, als dass man wegen solchen Kleinigkeiten angesprochen werden würde. Ja ich sah verletzt aus, aber nicht nach jemanden der akute Hilfe brauchte.
Auch wenn Egham nur ein Vorort von London war, war es der großen Stadt in der Beziehung recht ähnlich. Zwar sah ich Leute tuscheln, nachdem sie mich sahen. Doch es waren auch nur Leute, die ich schonmal auf dem Campus Gelände gesehen hatte. Ich unterdrückte den Gedanken und die Sorge, was sie wohl gerade über mich denken würden.
Am liebsten hätte ich mir ein Schild umgehängt, auf dem der Grund für alles stand, doch das wäre albern.

Endlich erreichte ich die Fahrradständer und stieg ab. Meine Tasche drückte meine Schulter herunter, aber ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen.
Langsam und bedachte machte ich mich auf zu meinem Vorlesungsaal. Ich hatte gleich eine Mathematik Vorlesung und Arthur würde ich dann auch sehen.
Als ich den besonders großen Raum betrat, saß Arthur schon auf unseren Standardplätzen im vorderen Drittel des Saals. Mathematik war zwar nicht der Grund, warum wir studierten, aber es musste getan werden. Wenn man direkt vor dem Dozenten sahs, fiel es einem schwerer sich ablenken zu lassen.
Jetzt war mein Professor aber noch nicht da und stieg die Stufen am vordersten Pult vorbei, hinauf zu Arthurs Reihe.
Als würde er meine Anwesenheit spüren, hob er den Kopf und schaute mich überrascht mit hochgezogenen Augenbrauen an. Auch manche anderen Studenten beobachteten mich, wieder anderen war es völlig egal.
Ein Junge stand auf um mich in die Mitte der Reihe zu lassen und ich ging an ihm vorbei. Bei Arthur angekommen ließ ich mich auf den Stuhl fallen und reichte meinem Freund zur Begrüßung die Hand. Er schüttelte sie und stieß überrascht aus:
„Wow Froy, was ist denn mit dir passiert?"
„Lange Geschichte" seufzte ich und atmete tief durch. Ich hätte nicht gedacht, dass mich der Weg zur Uni so fertig machen würde.
„Gibt's auch ne Kurzfassung?" fragte Arthur interessiert und sah mich an.
„Ich hab Hera wieder gesehen..." antwortete ich nachdenklich.
„Habt ihr euch ausgesprochen?"
Ich stockte und dachte an ihren Zettel: „Nicht direkt"
„Was ist dann passiert?" bohrte Arthur nach.
„Edgar, du weißt schon, der Blöde aus Stern- und Planetenentstehung, der Wissenschaftler, hat sich am Freitag an Hera rangemacht. Die wollte das nicht..." erzählte ich.
„... und dann hast du dich mit ihm geprügelt?" fragte mein Freund verblüfft.
Ich nickte: „Was hätte ich sonst tun sollen? Er war betrunken"
Ich zögerte bevor ich weitersprach: „Ich hätte es nicht ausgehalten sie zurück zulassen. Ich hätte mir auf ewig Vorwürfe gemacht" mein Blick wanderte zu meinen Händen „Es hat mir weh getan sie so zu sehen. Ich bereue nichts, die Wunden erinnern mich daran, warum es gut war es zu tun"
Arthur nickte und war wie verstummt.
„Du hast das richtige getan, Froy. Edgar ist ein Arsch und ich kann mir richtig vorstellen, wie er am Freitag war. Betrunken meine ich" meinte er, als er seine Stimme wieder gefunden hatte.
Ich nickte nur, mein Kopf schmerzte ein wenig.
„Wer hat denn gewonnen?" fragte der junge Mann zögerlich und spielte an seinem Ring herum.
„Es gab keinen Gewinner. Ich bin davongekommen, bevor etwas schlimmeres passieren konnte" murmelte ich.
„Schlimmer als das?" meinte Arthur und deutete mit einem Nicken auf meinen Oberkörper.
„Ich hätte sterben können" antwortete ich leise und dachte an Heras Worte. Sie hatte mir prophezeit, dass wenn sie nicht eingriffen, ich gestorben wäre. Das Messer hätte mich in den Bauch getroffen und die Ärzte wären nicht rechtzeitig gekommen. Ich musste schlucken.
„Hast du denn Edgar nach der Schlägerei nochmal gesehen" fragte mein Sitznachbar nachdenklich.
Ich schüttelte den Kopf
„Dann wird's wohl in der nächsten Unterrichtsstunde passieren"
„Ja. Stern- und Planetentstehung. Was für eine Ironie" seufzte ich und schloss die Augen, während unser Professor hereinkam und mit seiner Vorlesung begann.

Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken. Edgars Blick.
Arthur und ich saßen im Unterricht von Professor Harris und hörten ihm zu. Doch immer wieder schweiften meine Gedanken ab. Zu Edgar, der ganz am Ende des Saals und somit hinter mir sahs.
Er war vor uns im Raum gewesen und so konnte ich sein Gesicht sehen, als wir den Raum betraten.
Sein Hals hatte nichts abbekommen, aber sein Gesicht sah meinem recht ähnlich. Es war an manchen Stellen lila und seine Lippe war angeschwollen.
Ich erinnerte mich daran, dass er in der Nacht aus seinem Mund geblutet hatte.
Auch er trug lange Klamotten, was darauf schließen ließ, dass sein restlicher Körper nicht besser aussehen musste.
Aber insgesamt hatte ich schon das Gefühl gehabt, dass ich schlimmer verletzt worden war. Mein Rücken, wo ich das volle Ausmaß der Katastrophe erst bei mir zuhause gesehen hatte, hatte mich geschockt und das Sportverbot von der Ärztin bestätigt.
In der Mitte war mein Rücken so lila, dass es schon fast schwarz aussah. Die Adern waren alle dunkelrot gefärbt und schlängelt sich von der Mitte aus weg.
Diese Prellung war einmal davongekommen, als Edgar mich an das Blech der Garage gedrückt hatte und davon als ich auf den Beton gefallen war, ohne mich ordentlich abrollen zu können.
Vermutlich würde ich es erstmal vermeiden, schwimmen zu gehen.
Edgars Blick vorhin war kalt gewesen, böse, aber auch gezügelt. Er war eindeutig sauergewesen, aber er schien sich zumindest ein wenig beruhigt zu haben, denn er hatte mich bloß starrte bloß und ich war wortlos mit Arthur zu meinem Stuhl mit dem grünen Polster gegangen.

Ich spielte an meinem Piercing herum und versuchte mich von meinen Gedanken abzulenken, indem ich dem Unterricht zuhörte. Doch mit Schrecken stellte ich fest, dass mein Lehrer dabei war die Stunde zu beenden.
Ich drehte meinen Kopf und blickte über die Schulter in die Richtung meines Mitstudenten. Dieser spielte mit einem Stift herum und schien recht unbeeindruckt von der ganzen Sache zu sein.
Als er allerdings meinen Blick bemerkte, runzelt er die Stirn und seine Laune schien sich plötzlich zu verschlechtern.
„Dann bis zum nächsten Mal, liebe Leute" beendete Professor Harris den Unterricht und wir klatschten.
Ruckartig fingen alle an ihre Sachen einzupacken und den Raum zu verlassen. Auch ich und Arthur machten Anstalten zu gehen.
Als die meisten Leute schon gegangen waren und auch unser Dozent schon weg war, vernahm ich Edgars Stimme. Langsam drehte ich mich um und sah, wie der große junge Mann langsam auf mich zu geschlendert kam.
Schnell verschwanden die anderen Studenten, sodass nur wir drei kurz vor der Tür aufeinandertrafen.
„Ey, Verschwörungstheoretiker. Wir sind noch nicht fertig" rief er abschätzig und blieb einige Schritte vor mir stehen. Arthur stand dicht hinter mir.
„Es ist vorbei, lassen wir es sein" antwortete ich kalt.
„Das sehe ich anders, aber zum Glück muss ich deine Anwesenheit bald nicht mehr ertragen" erwiderte Edgar und verdrehte die Augen.
„Wie kommts?" fragte mein Freund.
„Wer hat dich gefragt, Streber? Ich verlasse diese Uni und ziehe in die USA. Dort gibt es viele bessere Chancen als an diesem Campus voller Esoteriker"
„Na dann herzlichen Glückwusch" meinte ich ironisch und freute mich aber darüber, dass ich diesen Jungen bald nicht mehr wieder sehen würde.
„Vielleicht verklag ich dich dann dort wegen Körperverletzung. In Amerika haben sie gute Anwälte" sponn Edgar seine Erzählung weiter und betrachtete mich prüfend.
„Das wagst du nicht. Ich kann dich genauso anzeigen und Vergewaltigung wiegt bestimmt mehr" zischte ich gereizt.
„Vergewaltigung? So ein Unsinn. Ich hab der kleinen Hexe doch nichts getan" meinte Edgar und zog seine Auenbraue auffordernd auf.
„Hexe?" fragte ich tonlos und Edgar nickte.
„Sie scheint taffer zu sein als du, wenn sie dich ‚rettet'" meinte er und machte mit den Fingern Anführungsstriche.
„Was hast du gesehen?" fragte ich Edgar prüfend und mir schossen die Erinnerungen in den Kopf.
„Das geht dich gar nichts an, Loser. Ich hätte ja gerne unsere Partie ordentlich beendet, aber du wirst noch von mir hören" erwiderte dieser, schaute mich dann noch einmal verächtlich an und verließ den Raum.
Arthur und ich blieben sprachlos zurück.
Etwas war Freitagnacht passiert, etwas das Edgar dazu bewegte, Hera als Hexe zu bezeichnen. Auch wenn er anscheinend nicht wusste, was passiert war, wusste er, dass es übernatürlich gewesen sein müsste.
Und er war derjenige gewesen, der uns für unseren Glauben verachtet hatte.
Vielleicht war das der Grund dafür, dass er mich ziehen ließ.

Das Gespräch mit Edgar brachte mich zum Nachdenken. Irgendetwas musste passiert sein, etwas was Edgar zurückschreckte. Hatte er bemerkt, dass ich mich aus seiner Sicht teleportiert hatte?
Ich stand auf dem Gelände der Royal Holloway University, mitten auf einer Rasenfläche. Es war Anfang der Mittagspause und viele Studenten aßen entspannt zu Mittag.
Doch ich hatte keinen Bissen herunterbekommen und war alleine nach draußen geflüchtet.
In meiner einen Hand hielt ich mein Handy, in der anderen den Zettel von Hera mit ihrer Telefonnummer.
Ich atmete einmal tief durch, raffte mich dann zusammen und wählte ihre Nummer. Ich musste es einfach wissen.
Nach ein paar Sekunden hob Hera ab:
„Hallo, hier ist Hera"
„Hi, Froy hier"
„Froy" hörte ich sie erleichtert ausatmen „Wie geht's dir?"
„Besser, habe keinen inneren Verletzungen, aber blaue Flecken überall. Und naja mein Kopf..." meinte ich langsam.
„Was ist mit deinem Kopf?" fragte Hera besorgt.
„Ich weiß nicht, was am Freitag wirklich passiert ist" gestand ich ihr.
„Aber du erinnerst dich an mich?" ihre Stimme klang leicht geschockt und panisch.
„Ja, aber da ist noch mehr. Aber die Ärzte sagen ich habe wegen dem Fieber fantasiert" zögerte ich.
„Nein, du hast nicht fantasiert, Froy" meinte sie ernst.
„Das bedeutet?" fragte ich sie. Ich wollte es von ihr hören, ich konnte es nicht laut aussprechen.
„Mein Name ist HR 8832. Ich bin deine Seelenverwandte, gekommen von den Sternen und habe dir neulich das Leben gerettet, indem ich die Zeit gestoppt habe"
Ich stockte und atmete tief durch: „Es ist also alles wahr. Ich hab es mir nicht eingebildet" mir kamen fast Tränen vor Erleichterung und beschämt drückte ich auf meine Augenlider.
„Ja, es ist wahr"
„Ich muss dich sehen. Ich muss dir Fragen stellen. Wann können wir uns treffen?"
„Lass uns morgen Abend treffen"
„Wieder im Feld?" fragte ich ein wenig aufgeregt.
„Gerne. Ich muss auflegen. Sag Bescheid, wenn du eine Uhrzeit hast. Bis dahin"
„Bis dahin" antwortete ich und Hera legte auf.
Obwohl ich es nicht wollte, begann ich zu grinsen und gleichzeitig stiegen mir Tränen in die Augen. Ich war überfordert von meinen Gefühlen, aber ich ließ es zu.
Nach meiner Tortur hatte ich es mir verdient.

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