Trübe Weihnachtsgedanken
Bunte Lichter, altbekannte Lieder und ein reges Treiben in der weihnachtlich geschmückten Stadt.
Leise rieselt der Schnee, verkündet, was eh schon jeder weiß, dass es endlich so weit ist, dass der Adventskalender leer ist.
In jedem Haus ein riesiger Weihnachtsbaum mit goldglänzenden Kugeln, unter dem sich ein unüberschaubarer Haufen Geschenke sammelt, der Duft von herrlichen Plätzchen erfüllt die Luft und jeder ist wunschlos aaglücklich.
Jeder?
Eigentlich sollte Weihnachten ein Fest der Liebe sein.
So hatte ihre Mutter es ihr immer beigebracht.
Eigentlich sollte Weihnachten ein Fest der Liebe sein, weil man gemeinsam mit denen Zeit verbrachte, die einem am Herzen lagen.
Eigentlich sollte Weihnachten ein Fest der Liebe sein, aber vielleicht ist es das nicht mehr.
***
Sie sitzt an dem großen Fenster im Wohnzimmer, an ihrem Lieblingsplatz, wo von aus sie schon als kleines Mädchen in die große, weite Welt hinaus schauen wollte, die dann doch gar nicht so groß und aufregend war, wie in ihren Träumen.
Den Kopf an die eisig kalte Scheibe gepresst, an der an den Seiten Frost festgebissen hat, schaut sie in die trübe, graue Welt hinaus, ist schweigsam, still.
Es dämmert bereits, die Sonne wandert ihren letzten Weg, auch an diesem heiligen Tag und winzige Schneekristalle klammern sich an die Fensterscheibe, um dem erbarmungslosen Winterwind zu entgehen.
Niemand ist jetzt noch auf den Straßen unterwegs, leer und leblos schweigen sie.
Die Weihnachtsbäume auf der Straße lassen ihre zuvor noch anmutig in die Höhe gereckten Spitzen enttäuscht hängen und einige bunt glitzernde Kugeln, die der Wind durch die frostige Luft gewirbelt hat, liegen zerbrochen auf dem Boden. Von ihnen sind nurnoch kleine glitzernde Scherben übrig geblieben.
Scherben, die für Trauer und Schmerz stehen, selbst an diesem heiligen Tag.
Ein alter Mann, einer von vielen, sitzt in einem schmutzigen Hauseingang gegenüber. Hinuntergebeugt, gebrochen, einsam.
Man kann sein faltiges Gesicht bis hier oben sehen, so tief sind die wettergegerbten Furchen in seinem Anlitz. Sie sprechen von harten Jahren, von einem Leben ohne Dach über dem Kopf, von Einsamkeit.
Niemand wird ihn besuchen.
Wer sollte das auch?
Sie schüttelt den Kopf, steht langsam und steif auf, als wäre sie aus einem tiefen Dornröschenschlaf erwacht und versucht ihre Traurigkeit wegzugähnen.
Gleich würden sie da sein, da musste sie einen guten Eindruck machen. Diese Leute sah man schließlich nur einmal im Jahr und behandelte sie dann wie den besten Freund oder die beste Freundin.
Der Ablauf war immer gleich, ein traditionelles Ritual, eine schöne Show, ein nie endender Teufelkreislauf.
Die Leute würden sie begrüßen, schmatz, Küsschen rechts Küsschen links, oh bist du groß geworden, was für ein schöner Tag und ein schönes Wetter heute.
Alle würden ihr ein Geschenk reichen, meistens Geld, ein Gutschein, vielleicht sogar irgendeine liebevoll eingepackte Überraschung, die nie ganz auf sie passte, weil diese Leute sie nicht kannten, nicht kennenlernen wollten, aber selbst das war irrelevant.
Wie lange machte sie dieses Geschenk schon glücklich? Drei, vier Stunden, wenn sie in wirklich guter Laune war.
Danach das Essen, bestellt natürlich, nicht selbstgemacht, dafür war dann doch keine Zeit mehr gewesen, weil das stressige Einkaufen der Geschenke auf den letzten Drücker, das Planen der jedes Jahr gleich ablaufenden Feier und das Dekorieren des von tausenden Kugeln behängten, durch goldenes, blendendes Lametta fast nicht mehr sichtbaren Weihnachtsbaumes zu viel Zeit und Nerven in Anspruch genommen hatten.
Zeit.
Etwas kostbares.
Etwas, das die meisten Menschen nicht schätzen.
Etwas, das man nicht aufhalten kann und das sich nicht wiederholt.
Sie rauscht an uns vorbei, wir können sie nutzen oder auch nicht. Doch wenn wir es nicht tun, nicht richtig tun, dann ist der Moment vorbei, die Chance verpasst.
Sie sieht sich um. Der bunt geschmückte Raum, vollgefüllt mit glitzernden Dekoration, die jedes Jahr eine andere ist, frei von Erinnerungen mit ihren zarten Schmetterlingsflügeln.
Wenn sie nur nicht alle so oberflächlich wären, wenn sie nur nicht alle so ihre Zeit verschwenden würden. Wenn wir das nicht tun würden, denn wir sind doch alle gleich.
Individualität scheint unmöglich zu sein, wenn jeder in die gleiche, enge Form der Werte und Normen gedrückt wird wie bei einer Legosteinfabrik.
Anonymität gibt es, wenn niemand versucht auszubrechen, anders zu sein, etwas zu verändern.
Normalität kehrt ein, wenn niemand daran denkt, dass wir mehr Roboter als Menschen sind, uns mehr Anpassen als wir selbst zu sein.
Und das jedes Jahr aufs Neue.
***
"Das wird wunderbar!", ruft ihre Mutter energiegeladen und voller vorgetäuschter Vorfreude aus der Küche. Sie weiß genau, dass ihre Mutter eigentlich keine Familientreffen mag, weil jeder sie auf ihre Probleme auf der Arbeit, ihren Ex und andere Zwickmühlen anspricht und weil die Leute, die heute hier auftauchen, sich das ganze Jahr über, nicht um ihr Wohl scheren. Sie versucht nur das Beste aus diesem Tag zu machen, ihre Tochter hat das schon längst aufgegeben, ist in Gedanken ganz wo anders.
Laute, feierliche Weihnachtsmusik erklingt aus der Küche. Gleich wären sie da und dann musste alles perfekt sein, denn mit Fehlern gab man Schwäche preis und Scherben gab es in dieser Familie genug.
"Mach bitte die Kerzen an, Schatz."
Sie schweigt und macht gehorsam mit mechanischen Bewegungen die dicken, roten Kerzen an, deren Wachs bald wie Blut an den Rändern herunterlaufen wird, bevor sie sich wieder an ihr Fenster setzt, um hinauszustarren.
Ihre Mutter kommt ins Wohnzimmer, trägt ihr einziges schwarzes Kleid, in dem sie sich alles andere als wohl fühlt und zupft zur Bestätigung ständig daran herum, aber heute muss man sich ja schick machen.
"Der schönste Tag im Jahr, nicht wahr? Immer für Überraschungen gut."
Sie nickt abwesend, denn auch das sagt ihre Mutter jedes Jahr.
"Ich sehe schon, du kannst es gar nicht mehr erwarten, dass der Besuch kommt. Er müsste auch gleich da sein.", trällerte sie im Rhythmus der Musik und verlässt tanzend wieder den Raum.
Das Mädchen weint an ihrem zugefrorenen Fenster mit ihrem zugefrorenen Herzen, vermisst jemanden, der ihr beisteht, ihr zuhört und sie nicht mit belanglosem Geschwätz abtut.
Jemanden, der sich wirklich noch über selbstgemachte Geschenke freut, der sich auch an diesem heiligen Fest nicht verstellt und sie in den Arm nimmt, einfach so, ohne Grund.
Vertrauen, Liebe, Glaube, Hoffnung. Ja, Weihnachten ist wirklich toll.
Jedes Jahr wieder ein Fest der Freude.
***
Gedämpfte, blasse Lichter, menschenleeren Gassen, ein weinender Weihnachtsbaum, auch zuhause, wo alles so festlich geschmückt ist, wo die Luft so warm ist und die Gespräche so kühl. Die grünen Tannen wurden gepflanzt und gegossen für Weihnachten,
in Eile abgeholt für Weihnachten, lieblos geschmückt für Weihnachten, kaum beachtet an Weihnachten und schnell wieder entsorgt nach Weihnachten.
Alte, zu oft wiederholte Lieder, ungemütlich kalte Schneestürme,
im Ofen schwarz gewordene Plätzchen, über die man sich nur kurz ärgern darf, weil ja jeder glücklich ist.
Jeder?
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