Traurige Treffen

Sechs Fassaden sitzen an einem kleinen Tisch in einem feinen Restaurant, beleuchtet von einem  hellen, warmen, sich einen Weg durch das schmutzige Fenster kämpfenden Licht der untergehenden Sonne.
Sie halten starre Konversationen, erkundigen sich über belanglose Dingen, schweigen über Probleme und geben wenig Auskunft über sich selbst. Wozu auch?

Darum ging es nicht, es ging darum, nach Außen das Bild einer tollen Familienfeier darzustellen und sich nach Innen vorzuspielen, man wäre das auch, obgleich man sich eigentlich viel zu selten traf und sich viel zu wenig für die anderen interessierte. Im Endeffekt musste man eben doch auf sich selber schauen und nicht auf die anderen und wenn jeder sich so verhielt, dann fiel ja auch keiner durch das Raster.

Eine Fassade hatte extra ihr hellblaues Kleid angezogen, hoffte insgeheim ein Kompliment und eine warme Welle Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen, was aber nicht passierte.
Sie war die jüngste, saß ganz am Rand und langweilte sich schrecklich, weil niemand sie in die unglaublich interessanten Gespräche über die untätige Politik, das tolle Wetter, die steigende Wirtschaft und zum Brüllen komische, zweideutige Witze mit einbezog.
Weil sie aber hier sein musste, einfach weil sich das so gehörte, schwieg sie, nickte einige Male, ohne wirklich den Inhalt des Gesagten zu verstehen und senkte irgendwann den Blick, weil dieses scheinhelig süße Lächeln, ihr das Gehirn zermürbte und die Energie nahm.

Zu gerne hätte sie mitgeredet, wusste aber nicht, was sie sagen sollte, war ja noch nicht erwachsen und selbstbewusst genug, um überall mitzureden.
Irgendwann, das war glasklar, würde sie genauso fantasielos  enden, würde genauso hochgestochen sprechen, genauso das Kinn in die Höhe recken, als wäre sie etwas Besseres, würde sich genauso vor ihren Liebsten verschließen, einfach weil man sonst zu viel Schwäche zeigte, die man sich in einem solchen Umfeld nicht eingestehen durfte.

Wie ein leerer Akku fühlte sich die blütenweiße Fassade während Stunde für Stunde an ihr vorbeirauschte wie in einem bösen Traum, den man am liebsten sofort wieder vergessen wollte, was dann meist doch nicht gelang.
Wenn der Akku zu leer war, würde die Maschiene ausgehen.

Immer wieder huschte der Blick ihrer himmelblauen Augen, die verloren schienen in ihrem weißen Leinwandgesicht zu der roten Uhr an der Wand direkt über ihr, die glühte wie feurige Kohlestücke. Gerade einmal fünfzig Minuten war sie hier, obgleich das Sonnenlicht immer blasser wurde, sodass grelle Lampen den Raum erleuchten mussten.
Nichts wollte sie lieber als diesem Raum und diesen fremden Fassaden entfliehen, doch es war ihre Pflicht hier drinnen zu sitzen und schweigend zuzuhören und Pflicht stand über der Freiheit, die Arbeit über der Freizeit, der Kopf über dem Herzen.

Die Fassade fühlte sich immer kleiner, immer schwächer, gar nicht mehr so unnahbar und kalt, eher wie ein krächzender Vogel eingesperrt in einem goldenen Käfig, dem in diesem stickigen Raum die Luft ausging.
Nur leider bemerkte das Niemand, jeder war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Zuende gegessen hatte man schon vor langer Zeit, aber die sinnlosen Gespräche versiegten nicht. Immer wieder wurden die gleichen Themen wie in erschütternden Wellen des wilden Meeres an ihre tauben Ohren herangeschleppt und ein Ende war nicht in Sicht.

Sekunden fühlten sich an wie Minuten, Minuten wie Stunden und Stunden wie Tage, weil sie diese Kälte, die ihr die Flügeln lähmte, nicht mehr ertragen konnte. Draußen senkte sich die schwarze Nacht über die Stadt und verschluckte das letzte Licht.
Sie konnte nicht mehr, brauchte Luft zum Atmen, musste raus, jetzt, sofort.

Sie stand auf, breitete ihre Flügel aus, ohne abzuheben, weil das hier drinnen nicht möglich war und ignorierte den strengen Blick ihrer peinlich berührten Eltern, die einen Moment später ihre Masken wieder zu sichern wussten, nur kurz war das Schauspiel ihnen entgleist. 'Können wir nicht einmal über wichtige Dinge reden, über Erlebnisse, Probleme, Gefühle? Können wir uns nicht einmal dazu aufraffen, uns mehr als einmal im Jahr zu treffen, selbst zu kochen, zusammen zu sitzen und die Welt da Draußen zu vergessen? Können wir nicht einmal die Fassaden ablegen und wir selber sein?', platze sie hervor, war der einzige Mensch in diesem Raum.

Ihr schmerzte die abgrundtiefe Enttäuschung in den eiskalten Augen ihrer Eltern und das peinlich berührte Lachen, dass zeigen sollte, dass ihre selten so wahren Worte nicht der Wahrheit entsprachen.

'Du wirst mal Politikerin. Die versprechen Utopien und eine bessere Welt und verwirklichen nichts.', scherzte eine Fassade, die sie nicht näher bestimmen konnte.
Ein schallendes, kaltes Gelächter hallte durch den Raum wie ein Echo über schneebedeckte Berge, nur ohne weißen Schnee und hohe Berge und ohne die frische Luft.

'Komm setz doch wieder hin, wir können ja über deine Probleme reden. Teenager haben einen Haufen Probleme. Sie fahren auf der Achterbahn namens Pubertät.', erklärte die Fassade, die am nächsten mit ihr verwandt war, sachlich und alle nickten verständnisvoll.
Das Mädchen wäre am liebsten auf der Stelle in Grund und Boden versunken und nie wieder aufgetaucht. Gläserne Tränen schimmerten in ihren Augen. Sie war die reinste Lachnummer, ein Volltrottel, ein Nichtsnutz und niemand nahm sie ernst.

Bevor jemand noch einen weiteren komischen Witz über sie reißen konnte, rannte sie raus in die einsame, schwarze Dunkelheit und knallte die Tür wütend hinter sich zu. Die grauen Fassaden schüttelten synchron den Kopf, wie von einer höheren Macht gesteuert und als wäre das Mädchen verrückt geworden und müsste sich erst einmal beruhigen.
Als wäre ein solcher Ausbruch in dieser dunklen Welt normal.
Als wäre es normal, dass man sich in seiner Familie nicht wohl fühlte. Als wäre es normal, dass man als Jugendlicher keinen Bezugspunkt mehr hatte.

Nein, das konnte man wirklich nicht machen.
Sie wusste sich zu benehmen, blieb still sitzen und war den ganzen Abend still wie der Tod höchst persönlich, bis man sich verabschiedete und jeder erschöpft seine eigenen Wege ging.

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