Schwäche
Mein Blick ist starr auf die schmutzige, grüne Tafel gerichtet, ungewollt blinzeln meine Augen mehrmals, sind angespannt und müde. Es ist schwierig, sie offen zu halten, weil sie sich diese Nacht nicht schließen wollten.
Ich höre abgelenkt und nur mit einem Ohr dem zu, was dort vorne passiert, verstehe nicht, worüber sie redet.
Laute Geräusche und dumpfe Töne schallen durch den kleinen, dunklen Raum, erreichen mich aber nicht, prallen an mir ab wie ein Echo in den kahlen Bergen.
Ich sehe, wie sie ihre Hände wild hin und her bewegt, als würde sie braunes Herbstlaub aufwirbeln, stelle mir vor, ich wäre in einem Wald, weit weit weg von hier, unter den schützenden Armen der alten Bäume, versteckt zwischen dicken Wurzeln, schmalen Ästen und grünen Blättern und das ganz allein.
Hier konnte ich nicht bleiben, physisch vielleicht, ja ganz bestimmt sogar, das musste ich, das war meine Pflicht, aber nicht mental, nicht jetzt, nicht heute.
Wie hätte ich auch all meine die letzten Monate jeden einzelnen Tag aufs Neue aufgeraffte Konzentration an diesem letzten Tag noch einmal zurückholen können?
Woher hätte ich die Kraft nehmen sollen, diesen belanglosen Worten zuzuhören, wenn ich eigentlich schon hier raus war, wenn ich draußen war, unabhängig, stark, frei?
Wer könnte das jetzt noch aufrichtig von mir verlangen, wenn ich doch bald weg war, um zu leben, wenn ich endlich beginnen konnte, meine Träume zu erfüllen?
Es ist nicht so, bitte versteh mich da nicht falsch, dass ich es hier nicht mehr aushalte und dass die letzten Jahre der reinste Horror waren, nein, ganz im Gegenteil, ich hatte mir viele schöne Erinnerungen in meine Schultasche gepackt, hatte sie nicht nur mit schlechten, ungemütlichen Tagen, sondern vor allem mit schönen Stunden gefüllt.
Da waren haufenweise Druck und Stress, aber auch Erinnerungen an meine wenigen, wirklich guten Freunde, über die ich dankbarer nicht sein könnte.
Und selbst wenn meine Tasche mit all diesem Zeugs wirklich schwer war, eine Last auf meinen jungen Schultern, würde ich sie weiter tragen. Ich würde mit einem lachenden und einem weinenden Auge gehen, denn die Zukunft voller Freiheit und Möglichkeiten, von denen man mir mein ganzes Leben vorgeschwärmt hatte, lagen nun unberührt vor mir und warteten darauf, dass ich sie abholte, dass ich endlich kam, mich traute, meine Grenzen überwand, die mir all die Jahre kindliche Sicherheit versprochen und mich selbst die letzten Wochen noch gehütet hatten wie ein kleines, hilfloses Kind.
Die Zukunft schien so unendlich weit weg zu sein, so unerreichbar, so fern und doch war sie jetzt plötzlich da.
Was war da?
Die Zukunft?
Ich? Du? Wir?
Was wird passieren?
Reisen? Arbeiten? Zweifeln?
Werde ich es schaffen?
Nur leider kann mir niemand eine Antwort auf diesen Berge an Fragen geben, einfach weil jeder es für sich alleine erfahren muss, kann, will. Das war keine Pflicht, das waren Wünsche und Träume.
Und gerade deshalb wollte ich mich auf den Weg machen, selbst wenn ich keine Kontrolle darüber hatte, wenn ich verworrene Abzweigungen nehmen würde, wenn ich mich verlaufen würde, wenn ich nie wieder zum Hauptweg zurückfinden würde.
Das war es wert, selbst wenn ich Angst hatte. Angst loszulassen, alleine zu sein, unabhängig zu sein, ich zu sein, schwach zu sein.
'Kira? Alles in Ordnung?', ließ ihre schrille Stimme mich aus meinen verzwirbelten Gedanken aufschrecken, katapultierte mich erbarmungslos zurück in die reale Welt und ließ mich blinzeln, als
wäre ich gerade erst aufgewacht.
'Sicher, wieso auch nicht?', fragte ich möglichst wenig beeindruckt, aber meine Stimme zitterte hörbar.
Da kam es wieder, das unerwünschte, grausige, schmerzende Gefühl in meinem Hals.
Es war meine Pflicht, stark zu sein, mir nichts anmerken zu lassen, meinem Alter zu entsprechen, bloß nicht zu weinen, sie würden es nicht verstehen, würden mich nie verstehen, so wie ich diesen Schmerz nicht verstand, der mich immer wieder einholte wie ein Jäger seine lang gesuchte Beute.
Dieses Mal konnte ich mich nicht im Wald verstecken. Er hatte mich schon anvisiert, zielte, schoss.
'Du bist so seltsam blass.'
Unsicherheit durchfuhr mich in einer riesigen Welle, begrub mich unter sich, presste mir die Luft aus den Lungen und zog mich willenlos mit.
Ein kurzer Blick in den Spiegel über dem ramponierten, schmutzigen Waschbecken am Eingang direkt neben der roten Tür genügte, um mir zu zeigen, dass ich nicht blass war.
Ich war kalkweiß wie eine frisch gestrichene Wand, nur meine Augen blickten mir wie zwei glühend rote Punkte entgegen, zeigten mir, was gleich passieren würde, was ich hätte wissen müssen, weil der Jäger mich schon vor einigen Sekunden erschossen hatte.
Wo waren die übrig gebliebenen Stunden? Wo waren die schönen Träume? Wo waren die Tabletten?
Mit einem lauten Knall schlug mein Kopf vor mir auf den bemalten Holztisch, mir wurde schwarz vor Augen, schrecklich schwarz, dunkler als die schwärzeste Nacht.
Mein Geist verließ mich wie dunkler Rauch einen Schornstein im kalten Winter, flog hämisch lachend hoch, sah die erschrockenden Gesichter von oben und vergnügte sich an ihnen.
'Es waren keine Träume. Es waren Illusionen.'
Das Licht ging aus.
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