Planwechsel
Wochenlang hatte ich mich auf diesen Tag gefreut.
Tagelang hatte ich jeden Morgen bei dem Blick in meinen kleinen, schwarzen Terminkalender unwillkürlich gelächelt, weil der so lang ersehnte Tag immer näher rückte.
Stundenlang hatte ich aufgeregt und bereits mit gepacktem roten Koffer in meinem Zimmer gesessen, hatte mit den Füßen gezappelt, hatte an meinen Nägeln gekaut, war sogar wild im Zimmer herumgehüpft.
Jetzt war es endlich soweit.
Jetzt konnte es losgehen.
Jetzt war die Stunde der Wahrheit eingetreten.
Okay okay, alles gut, so dramatisch war es dann doch nicht, aber - und das würde ich auch gleich unterschreiben - ich hatte mich selten in meinem Leben so auf einen Tag gefreut wie diesen.
Sobald die runde, große Uhr über meinem unaufgeräumtem Schreibtisch, der zu meinen chaotischen Gedanken passte, ihren dicken, kleinen Zeiger endlich ganz oben auf der Zwölf des mit einer Englandflagge bedruckten Ziffernblattes platzierte, sprang ich auf und schnappte mir den Griff meines Koffers.
Und dann war ich auch schon unterwegs, lief durch die überfüllten, lauten Hauptstraßen, die kleinen, gemütlichen Nebenstraßen mit alten Bauten und den kleinen, zu dieser sommerlichen Jahrezeit fröhlich blühenden Park ganz in meiner Nähe, um zum heruntergekommenen, schmutzigen Bahnhof zu gelangen.
Eigentlich ein hässliches erstes Ziel, musste ich feststellen, wenn ich diesen Ort mit, vermüllten Ecken, betrunkenen Männern und wenigem fahlen, weißen Licht, welches einen irgendwie krank aussehen ließ, genauer betrachtete.
Doch es war ein Mittel zum Zweck, die Bewältigung eines Hindernisses könnte man sagen.
Ich schwang mich leichtfüßig und voller Freude auf die Reise über dieses nicht all zu hohe Hindernis und folgte den modernen Wegen, dessen Wände mit bunter, aufdringlicher Werbung bestückt waren,
Sie führten mich fast unbewusst in eine ganz neue Welt, einen ganz neuen Abschnitt meines unerfahrenen, schüchternen sechzehnjährigen Lebens.
Abends - ich weiß leider nicht mehr die präzise Uhrzeit, aber es war schon Dunkel geworden - wartete ich ungeduldig an der Abholstelle des Reisebusses auf Nadine.
Wir beide; beste Freundinnen seit dem Kindergarten, - wobei wir dies durchaus durch ein Ritual mit anschließendem Schwur vereinbart hatten - obgleich wir sowohl vom Aussehen als auch vom Charakter unterschiedlicher nicht hätten sein können, wollten heute für drei Tage nach London fahren und uns damit einen kleinen, ach was einen riesigen (Kindheits)traum erfüllen.
Nur noch ein paar Minuten trennten mich und diesen Traum...
Mein Handy spielte laut eine hohe, fröhliche Melodie und kündigte somit einen Anruf an. Ich brauchte noch einen Moment, um es aus der Tasche mit allerlei unnötigem Krimskrams, den man doch ganz vielleicht brauchen könnte, zu holen. Nadine.
Aufgeregt plapperte ich drauf los und drängte sie, sich zu beeilen, damit wir pünktlich in unser Glück starten konnten.
"Hey du, ich freue mich so unglaublich auf die Reise und das den ganzen Tag schon.
Ich kann kaum glauben, dass wir diesen Plan endlich in die Tat umgesetzt haben, das wurde langsam aber auch wirklich Zeit. Wenn nicht jetzt, wann dann, nicht wahr?"
Stille. Schweigen. Untypisch für Nadine. Normalerweise war sie immer die Extrovertierte, die Aufgedrehte, die übermütige Pläneschmiederin und ich ließ mich von ihr mitziehen. Heute offensichtlich nicht, aber davon ließ ich mich nicht beirren.
"Ich warte schon fast 'ne Viertelstunde hier und in fünf Minuten ist der Bus da.
Wann gedenkst du so aufzukreuzen? "
Ungeduldig wartete ich auf ihre Antwort, denn sie ließ sich viel zu viel Zeit.
"Ja... es gibt da ein Problem."
Was für ein Problem?
Eine Welle der enttäuschten Vorahnung durchfuhr mich, zerrte n mir, versuchte mich unter sich zu erdeücken.
"Ich kann leider nicht kommen, weil ich krank bin."
Von einer Sekunde auf die andere zerplatzte die bunt schillernde Seifenblase um mich herum unter dem Druck dieser Nachricht und verblasste wie ein vergangener Traum, an den man sich wenige Stunden später nicht mehr erinnern konnte.
Das konnte nicht ihr Ernst sein.
"Hättest du mir das nicht früher sagen können? Was hast du den ganzen Tag gemacht?"
"Naja, das war nicht so geplant", druckste Nadine herum und ich konnte mir gut vorstellen, wie sie versuchte, sich unter meinen anklagenden, aber durchaus gerechtfertigten Worten hinwegzuwinden, "Heute morgen ging es mir noch gar nicht so schlecht, also habe ich mich einfach hingelegt, um eine Weile zu schlafen und ich bin gerade eben erst aufgewacht und habe erstmal mein ganzes Essen von gestern auf heute ausgekotzt und das war wirklich nicht schön, das kannst du mir glauben, und jetzt kann ich gar nicht richtig stehen. Ich schwanke wie auf einem Schiff bei einem hartnäckigen Gewitter und alle drei Schritte kommt es wieder hoch, also das Essen, obwohl ich doch eigentlich gar nichts mehr im Magen habe. Es tut mir so leid, aber das mit dem Urlaub klappt nicht mehr."
Da ich die aufwallende Wut nicht unterdrücken konnte, drückte ich Nadine einfach weg und steckte mein Handy unsanft in die Tasche, obgleich ich wusste, dass sie nichts für diese zu einem unglücklichen Zeitpunkt eintretende Krankheit konnte.
Was sollte ich jetzt tun?
Alleine reisen?
Das hatte ich noch nie gemacht und eigentlich war das beste an unserem Urlaub ja auch gewesen, dass wir ihn gemeinsam gebucht hatten.
Doch wieder zurück nach Hause zu fahren, war auch keine wirkliche Option.
Also Augen zu und durch?
Genervt fuhr ich mir durch die Haare und blickte mich nach den anderen Teilnehmern unserer Busreise um.
Ein älteres Ehepaar saß schweigend, vielleicht sogar leise schnarchend auf einer Bank und wirkte alles andere als fit.
Direkt daneben stand eine quatschende Gruppe junger Studenten, viel modischer, viel selbstbewusster und viel erfahrener als ich, also eindeutig die Gruppe, in der ich mich deplatziert fühlen würde.
Dann standen da noch vereinzelt einige Familien mit kleinen, spielenden und lachenden Kindern herum, die sich selbst zu dieser späten Uhrzeit fast noch mehr zu freuen schienen wie ich eben.
Und hier ganze alleine stand ich und wusste nicht so recht, wie ich hier hereinpassen sollte.
Das konnte ja was werden.
Die fünf Minuten Wartezeit kamen mir vor wie eine kleine Ewigkeit, ich starrte stumm auf die graue, schmutzige Wand hinter uns und musste mich mehr als einmal dazu zwingen, mich nicht einfach auf dem Absatz umzudrehen, einen mehr oder weniger glänzenden Abgang zu machen und einfach wieder nach Hause zu fahren.
Ich war sechzehn Jahre alt und benahm mich wie eine sechsjährige im Kaufhaus, die ihre Eltern verloren hatte.
Der dunkelblaue Bus fuhr quitschend ein. Fröhliche luden wir unser Gepäck in den Wagen, stiegen die wenigen Stufen hinauf uns suchten uns Sitzplätze, was für mich bereits die erste Schwierigkeit darstellte.
Die ersten Reihen waren bereits besetzt von den Stunden, dann folgten die Familien.
In der Mitte des Buses waren nicht alle Plätze belegt und ich entschied mich, mich irgendwo dazu zu setzten, weil ich die freie Wahl einer Sitznachbarin auf der bevorstehenden zehnstündigen Fahrt besser einstufte, als wenn sich noch eine Person zu mir setzte.
Entschlossen atmete ich tief ein und aus, verfluchte mich innerlich für meine Schüchternheit und fragte ein üppiges, blondes Mädchen mit einem hellblauen Top leise: "Ist da noch frei?"
Verwirrt blickte sie mich an und zog sich pinke Kopfhörer aus den Ohren, bevor sie mir mit motzigem Unterton antwortete. "Hä? Was willst du?"
"Ob sich da noch jemand hinsetzt?", ließ ich die Frage in der Luft hängen, wünschte mir aber innerlich, dass dort nichts mehr frei war, weil ich nach diesem ersten Eindruck - ungerechtes Schubladendenken hin oder her - nicht mehr neben ihr sitzen wollte.
Wenig begeistert schüttelte sie den Kopf, erklärte desinteressiert "Nene, da sitzt meine Freundin." und schob sich die Kopfhörer mit lauter, dumpfer Rap Musik wieder in die Ohren.
"Du kannst hier sitzen.", hörte ich eine helle, leicht nasale Stimme direkt rechts von mir und drehte mich nach dem freundlichen Angebot um.
Ein brünettes Mädchen ungefähr in meinem Alter klopfte auf den freuen Platz neben sich und ihre auffällig grünen Augen glitzerten in der Hoffnung eine Sitznachbarin gefunden zu haben.
Ich nickte sachte und ließ mich neben ihr auf den Sitz plumsen, da sie mit ihrer offenen Art sympatisch auf mir wirkte.
"Reist du auch alleine? Ich dachte schon, ich wäre die Einzige."
"Ja, ich hatte gerade einen Planwechsel.", gab ich noch etwas mürrisch zu.
"Naja, so schlimm ist das doch nicht. Manchmal braucht man so einen Wechsel, um voranzukommen, eine Treppenstufe höher zu steigen, sich zu entwickeln, du weißt schon."
Sie zwinkerte mir freudig zu und in diesem Moment wusste ich bereits, ohne ihren Namen, ihr Leben, ihre Ziele zu kennen, dass man mit einer Person wie ihr unglaublich viel Spaß haben konnte.
"Außerdem sind wir ja jetzt zu zweit alleine.", stellte sie fest, "Und ich habe Schokokekse dabei."
Und in diesem Moment kam dann auch die prickelnde, bunte Vorfreude zurück und das nicht nur wegen den Keksen.
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