Meer

Jeden Tag laufe ich durch diesen endlos langen, dunklen Wald, fürchten mich vor dem, was hinter den Tannen, unter den Ästen, zwischen den Blättern haust.
Jeden Tag nehme ich diesen Weg auf mich, gehe mit klopfendem Herzen hinaus, kehren mit klopfendem Herzen wieder heim.
Jeden Tag werde ich an die Geschichten erinnert, an die Geschichten von bösen Menschen, die einen verletzten, ausnutzen und schänden und von denen es viel zu viele auf der Welt gibt.
Nur leider glaubte ich nie an diese Geschichten, hielt sie für Humbug, Aberglaube, Quatsch.

Aber ich lief trotzdem, laufe auch jetzt, Schritt für Schritt, Fuß für Fuß, denn ich kann nicht richtig atmen, wenn ich mein Ziel nicht sehe; das zu jeder Tages- und Jahreszeit magisch schöne Meer.
Am Ende des Waldweges taucht es einfach auf, erschreckt mich jedes Mal aufs Neue, beglückt mich jedes Mal wieder, erfüllt mich mit Bildern und Farben und Klängen und am liebsten würde ich immer dort bleiben, denn es verspricht unbeschränkte Freiheit, die es sonst nirgendwo mehr gibt.
Wenn ich auf die fröhlich schäumenden Wellen sehe, die vom Horizont mit einer geraden Linie in stürmisches Himmelgraublau und weiches Ozeanblau getrennt sind, dann spüre ich wie all die bedrängenden, bedrückenden,  schrecklichen Sorgen von mir abfallen und sich in Freude verwandeln.

Der salzige Wind rauft durch meine Haare wie ein großer Bruder, die Sonne glitzert auf dem Meer wie purer Diamant und ich höre Möwen schreien, streiten, lachen.
Dann gehe ich tiefer hinein, fühle das kalte Wasser, den Sand und die scharfen, bunten Muscheln unter meinen Füßen.
Der Frust und die Probleme des anstrengenden Tages der Arbeit werden abgewaschen, sodass nur ich übrig bleibe, ich als verletzlicher  Mensch, als liebevolle Mutter, als träumendes Mädchen, als braves Kind, als Hoffnung meiner Mutter, als Kerzenlicht, das gegen den Wind ankämpft, bis es ausgeblasen wird.

Nur an diesem einen Tag hat es das Schicksal nicht gut mit mir gemeint, hat mich betrogen anstatt auf mich achtzugeben und hat mich ausgeblasen mit einem einzigen Atemzug.
Ich ging durch den Wald wie jeden Tag, umrundete die Pfützen des letzten Regens und genoss die selige Stille.
Schritt, Schritt, Schritt.
Von weitem sah ich ihn schon, hätte besser umgedreht, wäre nach Hause zurückgerannt,  hätte mich in Sicherheit gebracht. Ich hatte noch die Kontrolle, verlor sie aber, als ich, ohne lange nachzudenken, weiter ging, weil ich dachte, das er mir nichts tun könnte, weil ich dachte, ich wäre stark.
Denke nie, niemals, du wärst stark.

Ich schluckte hörbar, wünsche mir eine laut quatschende Freundin, meinen Mann oder wenigstens einen Hund, der mich mit seinem einschüchternden Bellen beschützen kann, an meine Seite, aber das Leben ist keine Wunschwelt und auch kein Ponyhof. Ich bin alleine
und schwach.
Nur leider merkte ich das nicht, die Erkenntnis traf mich nicht wie ein Blitz, eher langsam und schleichend und unerkannt und viel zu spät, und ich folgte weiter dem Weg, während er sich wieder in den Büschen versteckte, um aus meinem Sichtfeld zu verschwinden.

Das ist nur ein anderer Spaziergänger, nur eine weitere freiheitssuchende Seele auf diesem schmalen Kiesweg und ganz sicherlich kein Feind, versuchte ich mir einzureden, du musst nur an ihm vorbeigehen, komm schon, du willst doch an dein Ziel. Das hier ist der einzige Weg dorthin.
Schritt, Schritt, Schritt.
Ich komme näher, zuerst nur ganz langsam, aber mein schlendernder Schritt wird zunehmend schneller, meine Schrittlänge größer, meine zitternden Arme schlackernder.
Das ist kein Problem für mich, ich bin erwachsen, ich bin stark.
Ich muss nur an ihm vorbei gehen und ihn dann hinter mir lassen, nur vorbei gehen, hinter lassen, vorbei.
Schritt, Schritt, Schritt.

Jetzt höre ich ein Rascheln im Busch neben mir, mein Blick schweift sirrend umher, sucht ihn, findet ihn aber nicht und mein Puls fängt an, zu rasen wie ein Rennauto, bis ich vermute, einen  schwachen Herzinfarkt zu erleiden.
Was soll ich jetzt tun? Wo soll ich hin? Wie komme ich hier raus?
Gar nicht.
Schritt, Schritt, Schritt.
Das Rascheln wird lauter, er kommt auf mich zu, wird schneller, tritz aus dem Gebüsch, reißt mich zurück und drückt mir die Hand vor den Mund, sodass ich nicht schreien kann, was ich auch kaum getan hätte, weil ich paralysiert, schutzlos und tatenlos bleibe, als wäre in meinem Körper ein Schalter umgestellt worden, der mich in eine Art tödliche Starre befahl, gegen die ich nichts tun konnte.
Trotzdem rasten meine Gedanken, als er mich, das leichte Opfer für den geschickten Jäger, huckepack nahm, um mich vom Weg zu zerren.

Sobald meine Füße den Boden verließen, machte es wieder Klick. Ich bäumte mich auf, schrie, strampelte, biss, kämpfte um mein Leben, wusste nicht, was ich tat, wollte einfach nur, dass das hier alles ein großes Missverständnis, ein blöder Trick von meinen sich totlachenden Freunden oder wenigstens ein Spiel war, welches man jederzeit beenden konnte.
Das war es alles nicht.
Es war real und schrecklich und undenkbar und selbst auf dem Papier wäre es eine Qual zu lesen, vor allem für mich,
denn es zerstörte mein Leben und ich kann nur hoffen irgendwann wieder angezündet zu werden, um aus eigener Kraft weiter zu flimmern, denn mein Dort ist noch nicht zu Ende gebrannt und das Wachs ist noch warm.

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