Lampenfieber

Nun stand ich hier alleine hinter der Bühne, lugte durch den samtigen, roten Vorhang, blickte in die Menge, zitterte, ließ mich unwillentlich von der Furcht erfüllen, die drohte, mich in dunkelblauen Wellen zu überschwemmen und mich zu Boden zu zwingen, um mich dann willenlos mit sich zu reißen.
Ich schluckte hörbar den riesigen Kloß in meinem Hals hinunter.
Dort standen massenweise Menschen,  so unendlich viele...
na gut, zugegebenermaßen waren es vielleicht 30 oder 40 Zuschauer und gerade vor einem großen Auftritt neigte ich ein wenig zu Überdramatisierung, aber das kann man mir kaum übel nehmen, denn in meinem Kopf war es wirklich so schlimm. In meinem Kopf wurden es zunehmend mehr Zuschauer, das Gedränge wurde enger, die Gespräche lauter, die Nervosität schlimmer.
Ich würde das nicht schaffen.
Ich war noch nicht so weit.

Ich hätte mehr üben und mich besser vorbereiten sollen, obgleich ich doch jeden Tag gespielt hatte, meine Mutter damit ständig genervt und meinen Vater, der bei der Arbeit Ruhe brauchte, aus dem Haus vertrieben hatte.
Ich hätte die letzte Nacht schlafen sollen, denn Ruhe und Ausgeglichenheit waren jetzt überlebenswichtig, aber ich hatte vor Aufregung kein Auge zu gemacht, hatte mich einsam und hilflos gefühlt in der schwarzen Dunkelheit.
Ich hätte heute Morgen etwas Reichhaltiges frühstücken sollen, vielleicht wäre mir dann nicht so flau im Magen, aber ich hatte keinen einzigen Bissen herunterbekommen und es war auch niemand da gewesen, der mir zur Ermunterung mein Lieblingsgericht gekocht hätte.

Jetzt waren es nur noch nervenaufreibende 10 Minuten bis zu meinem Auftritt, nur noch 10 Minuten dieser schrecklichen Folter in mir selbst.
Zappeln, Schwitzen, unruhiges Umherschauen,
Blick auf die Uhr, Gewichtsverlagerung, Seufzen, Wunsch nach der Flucht,
Blick auf die große goldene Uhr. Zähneknirschen, Lippen beißen, Herzrasen,
Blick auf die schleichenden, schwarzen Zeiger der großen goldenen Uhr.
Lange würde ich das nicht mehr aushalten.
Noch einmal lugte ich durch den Vorhang, um mich abzulenken, was im Nachhinein keine gute Idee gewesen war, denn da saßen sie alle, teils gelangweilt, teils voller Vorfreude, teils nervös, weil das eigene Kind spielte, aber das konnte  meinen Eltern ja nicht passieren, sie waren ja nicht da, hatten keine Zeit, mussten arbeiten, Geld war wichtiger als die Familie.
Alle warteten, warteten auf Künstler, auf mich.
Auf Erfolg? Auf einen Fehler? Klatschen würden sie sicher, aber ich wollte kein Klatschen aus Mitleid und Scham, ich wollte Eines geboren aus Überraschung und Stolz und Zufriedenheit.

Wieso konnte ich nie meine Ziele erreichen?
Wieso stellte ich sie immer so verdammt hoch?
Wieso konnte ich nie mit mir zufrieden sein?
Wieso musste ich perfekt, fehlerlos, unendlich sein?
Natürlich haben Menschen Fehler und Schwächen und das ist auch gut so, schön so,
bei anderen, aber leider nicht bei mir, denn der Erfüllung meiner eigenen Ansprüchen und Ideale konnte ich mich noch nie widersetzen.
Sie führten mich und führen mich noch heute, werden mich wohl auch in Zukunft führen.
Ich hätte besser sein können.
Das war schlecht, schwach, lächerlich.
Ich muss mich mehr anstrengen.
Ich erwarte das von mir.
Sie erwarten das von mir.

Da kam meine Freundin Nina auf mich zu, starrte mich eine Weile misstrauisch an, umarmte mich, schüttelte mich bei den Schultern und lächelte dann mild.
'Du machst dir schon wieder Sorgen über Gott und die Welt, nicht wahr?
Das brauchst gerade du du doch überhaupt nicht.
Du spielst toll, hast noch nie irgendetwas vergeigt, auch heute wird alles gut gehen.'
'Ich fühle mich aber nicht so gut.', warf ich ein, während mein Kopf zwischen meinen Schultern einzusinken drohte, weil meine Lehrerin hoch erhobenen Kopfes an uns vorbei ging.
'Spätestens gleich wenn du auf der Bühne stehst, wird es dir gut gehen,  weil es das ist, was dir Spaß macht, und weil diese Situation da draußen eigentlich genauso ist, wie wenn du alleine spielst.', erklärte Nina leichtfertig und doch nachdrücklich, ließ aber in mir ein unverdrängbares Gefühl der Unverständnis aufkommen.
'Nur das mir jetzt hundert erwartungsvolle, unbekannte Menschen zusehen.', betonte ich ein bisschen zu laut und warf dabei hilflos die Hände in die Luft.

'Und das ist der Punkt, den du nicht verstehst. Es sind Unbekannte und keine Kritiker oder gar Richter.
Die freuen sich, etwas schönes zu hören, sind aber auch nicht beleidigt, wenn etwas nicht klappt,
und selbst wenn es doch jemanden stört, ist das in einer Woche wieder vergessen. Viele von denen sind Eltern und Freunde von Schülern.
Die verstehen, dass du aufgeregt bist, wirklich.'
'Ja ich weiß, aber', setzte ich an, wurde aber von meiner aufgebrachten Freundin wüst unterbrochen, 'Das sind keine Profis. Die hören deine Fehler und schiefen Töne noch nicht einmal.'

Ich wischte meine schwitzenden Hände an meiner Hose ab.
'Aber ich merke sie und ich bin verunsichert und ich kann ihnen nicht das zeigen, wozu ich wirklich in der Lage bin, weil ich eine solche Angst habe. Schau wie meine Hände zittern!'
Nina blickte nur aus dem Augenwinkel auf meine schummrig wackelnden Finger und drückte meine Hände fest, bevor sie mir entschlossen zunickte.
'Du kannst es ihnen nicht zeigen, weil du dir selbst im Weg stehst.', stellte sie fest, war jetzt ganz ruhig, ihre Stimme ein Flüstern, 'Aber manchmal muss man den Mut haben, seinen eigenen Weg zu gehen, die Risiken zu vergessen und die Ängste zu überwinden.
Und dass du das kannst, davon bin ich mehr als überzeugt.
Also hör auf die kleine Raupe zu bleiben, spann dir endlich einen Kokon und komm dann raus als ein wunderschöner Schmetterling.'

Du schaffst das.
Du schaffst das.
Du schaffst das.
Aufgeregt ballte ich die Hände zu Fäusten, während sich die hohe, glockenhelle Stimme einer Frau über das Gemurmel des Publikums erhob: 'Wie jedes Jahr treffen wir uns hier, um die lang und mühsam eingeprobten Auftritte der Schüler zu würdigen...'
Schon nach dem ersten Satz verlor ich die Geduld und die Konzentration,  zuzuhören, dachte stattdessen über meine Aufführung nach, die wichtigen Stellen, bei denen ich aufpassen musste, das, was schief laufen könnte und verlor mich in einem wirren Knäul aus Gedankenfäden, die kein Ende zu haben schienen.

Nina streckte mir ihre hochgestreckten Daumen von der anderen Seite der Bühne entgegen, VIEL GLÜCK konnte ich von ihren Lippen ablesen und wusste sogleich, dass ich jetzt an der Reihe war.
Als Erste von allen musste ich spielen und die Erwartungen des Publikums hoffentlich erfüllen.
Erst würde es still sein, mucksmäuschenstill, man würde meinen laut pochenden, unregelmäßigen Herzschlagen wohl im ganzen Saal vernehmen können.
Dann würde ich spielen,
hoch und tief, schnell und langsam, leise und laut, zart und wütend.

Langsam, aber mit sicheren Schritten, von denen ich nicht wusste, wie sie zustande kamen, betrat ich mit meinem Instrument fest von meiner rechten Hand umklammert und den Noten fest an mein Herz gedrückt die Bühne.
Und wenn ich so ins Publikum sah, dann waren die anderen doch wieder wichtig und ich spielte doch nicht nur für mich und augenblicklich fingen meine Hände wieder an unkontrolliert zu zittern.
'Nun stell dich nicht so an, das ist nur ein kleiner Auftritt. Was willst du später im Berufsleben machen?', hatte mein Vater gestern Abend mich spöttisch gefragt, als ich noch einmal proben wollte, obgleich er eigentlich nur Ruhe gebraucht hatte, um die lange aufgeschobene Steuererklärung anzufertigen, denn mit ein wenig Geklimper und Gejodel - wie er das so gerne nannte, wenn ich nicht unmittelbar neben ihm stand - funktionierte das natürlich nicht. Arbeit ging vor.
Arbeit war Pflicht, Geld und Ansehen.
Alles, was ich hier tat, war nur Spaß und wäre nie von meinen Eltern als Beruf anerkannt worden.

Ich stellte mich kerzengerade hin, legte die Notenblätter mit meinen wohl nie mehr zu zittern aufhörenden Händen auf den Ständer und atmete noch ein letztes Mal tief ein und aus.
Jetzt war es soweit.
Kurz schloss ich die Augen, ignorierte den erwartungsvoll schweigenden Saal und rief mir vor Augen, warum ich hier war, weil ich mich nur so genügend sammeln konnte, um beginnen zu können.
Ich spielte seit ich denken konnte, weil ich es liebte, Gefühle durch Musik auszudrücken, selbst wenn meine Eltern dafür zu unsensibel waren und wenn man diese Gefühle nur wahrnahm, sobald man sich auf die Musik einließ, wozu die wenigsten Menschen in dieser gehetzten, pflichtbewussten Welt heutzutage in der Lage waren.
Ich spielte seit einigen Jahren, weil ich es liebte, mich aus den festen, unnachgiebigen Gefängnisstäben des strukturierten, einsamen Alltags zu befreien, weil mein Instrument mich ablenkte und mir ein paar Minuten der beflügelten Freiheit, der ruhigen  Ausgeglichenheit und des sorgenlosen Glücks schenkte, die ich anderswo nicht bekommen konnte.
Ich spielte nicht, um die anderen zu beeindrucken und um ihren Applaus zu ernten, selbst wenn ich nicht abstreiten konnte, das mir dieser gefiel.

Entschlossen öffnete ich die Augen, blinzelte in das grelle, gelbe Licht der Scheinwerfer und nahm den Saal nun ganz anders wahr.
Die Leute lächelten und nickten mir zu, freuten sich, auf was immer da kam und schienen schon jetzt beeindruckt davon, dass ich mich auf die Bühne getraut hatte.
Niemand war mehr mit seinem Handy beschäftigt, alle Blicke waren auf mir gebündelt und doch nicht drängend und erdrückend und verpflichtend.
Das hier war wirklich nur ein Auftritt, da hatte mein Vater ein einziges Mal Recht gehabt, und ich sollte das beste aus diesem Moment machen, sollte mir eine lange nachhängende, schöne Erinnerung erschaffen, die ich zu den wenigen besonderen Momenten in meinem Herzen zählen konnte.

Als ich mein Geige auf meine Schulter legte, wo sie sich wie angeboren einfügte, an mein Kinn ansetzte und den Bogen den Hauch einer Sekunde über der zuerst anzuspielenden Seite hängen ließ, wurde die doppelflügelige Tür am hinteren Eingang des Saals aufgerissen und ein eiskalter Windhauch wehte meine Mutter herein.

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, war entsetzt, verwirrt, überrascht von ihrem Anblick.
Nur aus dem Augenwinkel nahm ich war, wie sie dort erstarrt in der Tür stand, die sich leise hinter ihr schloss, aber es erfüllte mich mit Freude und obgleich, sie dort am Eingang reichlich deplatziert wirkte, meinte ich das Aufglimmen von Stolz in ihren Augen zu erkennen, denn sie mir gegenüber wohl nie erwähnen würde, aber er war da und sie war wirklich hier.
Im nächsten Moment begann ich zu spielen, mich in den Noten zu verlieren, die ich bereits auswendig konnte, vergaß die Menge, vergaß meine Mutter und wusste, dass ich ihren Anblick nicht gebraucht hätte, um so zu spielen, wie ich es bei diesem Auftritt tat, denn die Musik, die Farben, die Emotionen und die Geschichte, die ich aus den einzelnen Tönen erzeugte, kamen alle von mir und mein Glück war nicht abhängig von anderen, denn ich spielte und lebte nur für mich und für keinen anderen.
Ich war endlich stark, endlich angekommen, endlich frei.

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