Glück

Glück ist undefinierbar, subjektiv und unberechenbar.
Es kommt und geht, wann es will, selbst in den unscheinbarsten Momenten.
Und es ist kurzlebig, viel zu schnell wieder verschwunden, als dass wir es festhalten und einsperren könnten.
Dafür kann jeder glücklich sein, wenn er es nur zulässt, wenn er für einen klitzekleinen Moment seine Probleme und Sorgen vergisst und wenn er einfach an das Gute glaubt.

Eine Anleitung für das Glück?
Gibt es nicht.
Du musst es wohl oder übel selbst herausfinden.

***

Sie war arm, besaß nicht mehr als die schmutzigen Klamotten, die sie am Leibe trug, konnte nie in die Schule gehen, nie einen Beruf ausüben und vielleicht nie die große Liebe finden, weil niemand sie beachtete oder ihr nur ein kleines bisschen Aufmerksamkeit schenkte.
Man könnte sagen, sie war unsichtbar.

Sie saß einsam auf der Straße und wartete, wartete auf ihre Eltern, die sie morgens immer vor ihrem Haus, oder eher der Müllkippe, welche gerade mal einen engen Wohnraum und ein winziges Bad besaß, abholten.

Gegenstände, die ihr etwas bedeuteten, besaß sie nicht.
Etwas zu essen, eine Heizung, warmes Wasser oder andere Luxusgüter besaß sie ebenfalls nicht.
Und doch war es ein Leben, ein Leben, dass es Wert war, es jeden Tag neu zu lieben, egal wie unvorstellbar das klingen mag.

Nannte sich das Glück, wenn man im Geld schwamm?
Nannte sich das Glück, wenn man berühmt war?
Und nannte sich das Glück, wenn man von einem Termin zum nächsten eilte und kaum noch Zeit für die Liebsten hatte?

Die Leute, die an ihr vorbei liefen und sie keines Blickes würdigten, schienen nicht glücklich zu sein.
Sie eilten in ihren schicken, farblosen Anzügen und Kleidern durch die Stadt, immer alleine unterwegs.
Ihre flüchtigen Blicke, die ihr immer auswichen, zeigten kühlen Ehrgeiz und abgehobene Arroganz, aber auch bewusste Schuld und hoffnungslose Sorge.
Und selbst wenn es nur kleine Sorgen waren, scheinbar unwichtige Dinge, sie blieben tief in den Menschen versteckt, häuften sich zunehmend  und fraßen sie von innen auf.

Das Mädchen war anders, Einige waren anders, Manche blieben bei ihr stehen, Manche waren gemeinsam unterwegs und lachten laut und Manche waren einfach nur glücklich und sorgenlos, doch Viele schienen ihr Lächeln seit Wochen nicht mehr gefunden zu haben, vielleicht für immer verloren zu haben.

Die Menschen hatten viel zu hoch gesetzte Ziele, die im stressigen, grauen Alltag Nebensache wurden, nicht erfüllt wurden und somit eine Last wurden.
Diese hatte das Mädchen nie, sie wusste über ihre Grenzen Bescheid, hatte sie oft genug erlebt, versuchte das Unmögliche nicht Möglich zu machen und ihr Leben trotzdem auszukosten, indem sie kleine Ziele erreichte.
Das bedeutet nicht, dass sie keine Träume hatte, nein keinesfalls, sie hatte unglaublich viele, lebendige Träume, aber sie verzweifelte nicht an ihnen, sondern behielt sie einfach in ihrem Kopf und hob sie auf für bessere Zeiten.

Irgendwann kamen ihre Eltern am heruntergekommenen Haus an.
Das schiefe Grinsen ihres Vaters, der leicht humpelte, und die dichten, braunen Locken ihrer Mutter, die aufgeregt herumwippten, ließen ein Lächeln über ihr Gesicht huschen.
Die Beiden hatten drei Äpfel dabei, denn sie wussten genau, dass ihre Tochter Äpfel über alles liebte.
Sie waren frisch, leicht säuerlich und schmeckten nach Regen und Sonne und Freiheit.

Voller Vorfreude sprang sie auf, lief ihnen entgegen und schnappte sich einen Apfel.
'Danke', sagte sie noch und wollte bereits hineinbeißen, als sie mit geöffnetem Mund einen weinenden Mann auf einer der Bänke sah.
Sie hatte ihn gar nicht beachtet und doch war sein Weinen so ehrlich, so traurig und so verloren, dass er ihr unglaublich leid tat.

Wahrscheinlich hatte er alles, ein riesiges Haus, eine Frau, einen Job und Geld, aber das Glück hatte er nicht, wollte es nicht oder konnte es nicht haben.

'Willst du den Apfel nicht?
Beiß doch rein', forderte ihre Mutter sie auf und ihr Vater nickte schmatzend, hatte sich den Apfel nach der langen Arbeit, die er Tag und Nacht verrichtete, wahrlich verdient.
Sie hingegen hatte nur rumgesessen, sie besaß bereits die Freiheit, zu tun worauf sie Lust hatte, besaß auch die Freiheit zu tun, was richtig war und das wollte sie mit jeder Faser ihres Körpers.

Ihr Blick huschte zwischen dem Apfel und dem verzweifelten Mann hin und her.
Ja, es war ihr Apfel und ja, sie wollte ihn essen, aber er brauchte diese Freiheit viel mehr, um sich aus seinem selbsterrichteten Gefängnis zu befreien.
Er brauchte vor allem ihr Angebot, jemanden der mit ihm redete und nicht nur die abschätzigen oder peinlich berührten Blicke der Anderen.

Entschlossen hob sie das Kinn, hielt ihren Apfel fest umklammert und ging zu der verwitterten Parkbank, achtete nicht auf ihre Eltern, denn sie wusste, dass es richtig war zu helfen, besser zu sein, der Anfang zu sein.

Dann blieb sie vor ihm stehen und blickte auf den großen Mann herab, schwieg und streckte ihm auf ausgestreckter Handfläche den Apfel entgegen.
Er glänzte verführerisch, rot und saftig und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.
Er sah schniefend hoch, tränenverschleierte milchig blaue Augen, ein verquollenes Gesicht und fragend zusammengezogene Augenbrauen.
Ein seltsamer Anblick für sie, denn sie sah immer nur Masken, nie Gesichter.

'Was willst du?', fragte er nicht unfreundlich und sah verwundert zwischen ihr und dem Apfel hin und her.
Sie drückte ihm schweigend immer wieder den Apfel gegen den Arm, bis er ihn annahm.
'Danke', murmelte er überrumpelt und etwas glitzerte in seinen Augen, dass sie weder kannte, noch deuten konnte.
'Aber ich kann das nicht annehmen.
Ich kaufe mir hundert Äpfel, wenn ich will.'
Er streckte ihr das Geschenk wieder entgegen, doch sie verzog beleidigt das Gesicht zu einer Grimasse und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ihre hohe, aber sichere Stimme ähnelte dem Klingeln von kleinen Glöckchen und ihr Blick war fest auf den Mann gerichtet, der der Erste war, der sie seit Tagen richtig musterte, der Erste, der nicht nur über sie hinwegsah als wäre sie eine Mülltonne oder eine leere, weiße Wand.
'Das ist aber nicht einer von hundert Äpfeln. Das ist mein Apfel, ein Wunschapfel.
Und wenn du reinbeißt, dann darfst du dir was wünschen.'

Er wirkte verwirrt, unsicher, was er tuhen sollte, bis er einfach, vielleicht intuitiv, vielleicht mit der Intention ihren bösen Blick nicht länger ertragen zu müssen, in die leckere Frucht hinein biss.
Er hatte nie einen so leckeren Apfel gegessen und er wünschte sich tatsächlich etwas,
nur nicht für sich.
Nach dem zweiten Bissen lächelte er herzlich, erfüllt von ihrer kindlichen Freude und wischte sich die Tränen aus dem breiten Gesicht.
Auch sie lächelte, denn sie wusste, dass sie mit diesem Apfel nie so glücklich geworden wäre wie er und dass sie ihn in diesem Moment nicht so gebraucht und geschätzt hätte wie dieser Mann.

Sie war stolz auf sich selbst, auf das Gelingen ihres Plans und
Glück erfüllte sie von der Schuhspitze bis zu den kurzen, lockigen Haaren.
Das war es, was sie später mal machen wollte, Leuten helfen und sie glücklich machen, ihnen einen Teil von ihrer Zufriedenheit abgeben, ihnen ein Lächeln auf das Gesicht zaubern, und vielleicht, aber nur ganz vielleicht, die Welt ein kleines bisschen besser machen.

'Du bist eine gute Fee.', stellte der Mann fest und sie kicherte leise, einverstanden mit dieser Bezeichnung.
Er starrte sie noch eine Weile dankbar an, packte den Apfel weg und stand auf.
'Danke dafür'
Sie nickte knapp, wollte seinen Dank nicht, Worte hatten ihr noch nie viel bedeutet, nur sein Lächeln wollte sie.

Und von da an brachte der Mann ihr jeden Morgen etwas zu essen, oft einen süßen, roten Apfel, manchmal ein Brot, Schokolade oder sogar für etwas Warmes.
Sie teilte alles mit ihrer Familie.
Außerdem schenkte er ihnen manchmal Geld, sie wollten es nicht, aber er nahm es nicht zurück, wie sie den Apfel nicht mehr hatte zurücknehmen wollen.
Das Wichtigste aber war, dass er mit ihr redete und sie dabei liebevoll gute Fee nannte.
Sie genoss diese entstehende Freundschaft zwischen zwei so unterschiedlichen und doch so gleichen Menschen und Beide ignorierten die abschätzigen Blicke, die man ihnen zuwarf.
Er stellte ihnen seine Familie vor, Frau und Sohn, lud sie sogar einmal ein und sein Haus war ein Paradies, obgleich sich die Familie dort alles andere als wohl fühlte.

Und das Mädchen wurde immer glücklicher, noch glücklicher als sie schon vorher gewesen war und vergass nie diesen ersten Apfel.
Auch er behielt ihn immer in Erinnerungen, wusste nun auf wenn er zählen konnte, wenn es ihm schlecht ging, auf seine gute Fee.

Wunder sind eben doch möglich, man muss sie nur suchen oder eben ein Teil davon sein.

 

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