Das nennt man Leben

Dunkelheit umhüllte die Stadt Sapir, strich zärtlich über die großen  Palmen und bedeckte die baufälligen Steinhäuser.
Nur wenige Fenster waren erleuchtet, nur wenige Menschen noch wach.
Die Stille verschluckte alle Geräusche, selbst der warme Wind, welcher sonst fröhlich zwischen den Bauten hin und her sauste und eifrig Sand aufwirbelte, schien heute Nacht zu schweigen.
Die wachsamen Sterne strahlten hell am Himmel, umrahmten den milchig leuchtenden Mond und tauchten die Stadt in ein geheimnisvolles Licht.
Vereinzelt ragten Säulen in den Himmel, versanken im Nebel der Nacht, schienen eben diese zu stützen.

Ungewissheit schien hinter jeder Ecke zu lauern, ein Feind, ein Freund oder doch nur ein auf der Straße lebender Hund, der nach Futter suchte.
Sobald man in das Viertel der Armen einbog, konnte man die Hoffnungslosigkeit spüren, man konnte in der zitternden Luft spüren, dass hier die Verwahrlosten, die Einsamen und die Ausgestoßenen lebten.
Einige Bettler saßen auf der Straße, hoben flehend die Hände, doch die Bewohner gingen schweigend an ihnen vorbei, hatten selber nichts, mussten selber um ihr Leben kämpfen.

Eine kleine Gruppe von Kindern schlich durch die kleinen Gassen, murmelnd, aufgeregt.
Alle trugen sie schwarze Mäntel und Schleier, versuchten ein Teil der Dunkelheit zu sein.
Ihre Schritte erklangen laut auf dem unebenen Boden, weil es sonst keine Geräusche gab, weil die Stadt bereits schlief.

Tagsüber wären sie in der wogenden, tanzenden Menge aus lachenden Gesichtern und bunten Gewändern untergegangen.
Marktschreier hätten ihre Gewürze, Früchte und selbstgewebten Tücher angepriesen, Menschen hätten sich lautstark unterhalten und irgendwo hätte jemand mit einer Flöte eine Schlange beschwört, doch in der Nacht gab Sapir seine Schwäche preis.

Das Flüstern der Kinder wurde erst lauter und dann wieder leiser wie das schäumende Meer, welches sie nie zu Gesicht bekommen würden.
Nicht einmal den kostbaren Regen durften sie oft erleben.
Nur Hitze und Sonne und Sandstürme besuchten die abgelegene Stadt Tag für Tag, hatten sie fest unter ihrer Gewalt.

Jetzt blieb die Gruppe stehen, sie strafften ihre Schultern und nickten sich zu, hatten einen Plan.
Ohne weitere Worte trat die Erste und Größte von ihnen ein, schob den bunten, klimpernden Perlenvorhang beiseite, sodass ein rauchiger Geruch nach draußen drang, und verschwand im kleinen Laden.
Die anderen Drei drückten sich an die    hohe Steinmauer des Hauses und lauschten ihren federleichten Schritten.

"Hallo, könnten sie mir vielleicht die Wasserflasche reichen?", fragte das dunkel gekleidete Mädchen mit unschuldiger Stimme.
Der Verkäufer, ein rundlicher, kleiner  Mann mitte vierzig, mit giftigen grünen Augen und einem  anzüglichen Lächeln kam langsam auf sie zu, kostete jeden Schritt aus, um sie zu beobachten.
Dann griff er schwerfällig ächzend nach der Flasche.

Gleichzeitig huschten zwei der anderen Kinder unauffällig in den Laden und versteckten sich zwischen den vollgestopften Regalen.
Der Verkäufer grinste immer noch dieses unangebrachte, zweideutige Grinsen und kam langsam näher, gefährlich nah.
Das Mädchen, Gaia war ihr Name, schluckte hörbar, verhielt sich aber kontrolliert ruhig.

"Na, willst du vielleicht noch etwas anderes?", sagte der Mann mit rauer Stimme und legte eine Hand auf ihre Wange, strich ihr zärtlich ein verlorenes schwarzes Haar aus der Stirn.
Sie sagte nichts, erstarrte wie zu einem Eisblock gefroren, was ihm ein Grinsen entlockte.

Draußen lugte ein zweites Mädchen durch den Perlenvorhang und verkniff sich ein Würgen.
Hadil wäre am liebsten in den Laden gelaufen, um ihre große Schwester rauszuholen, aber das war nicht ihre Aufgabe.
Sie schmeckte Sand, der vom warmen Wind aufgewirbelt wurde und  knirschte nervös mit den Zähnen.

Jetzt beugte sich der Mann einschüchternd zu Gaia herab, sodass sie seinen heißen Atem auf ihrer Haut spüren konnte.
Hadil ballte die Hände zu Fäusten denn sie hasste das untätige Warten, doch sie vertraute ihren Freunden, dass diese sich beeilten.

Die zwei Jungen machten sich leise an der Kasse des Ladens zu schaffen und stopften sich möglichst viel Geld in die Taschen ihrer schwarzen Gewänder.
Nachdem sie ihre Aufgabe beendet hatten, nickte der eine Junge Gaia zweimal zu.
Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten erleichtert und ruckartig holte sie aus, um dem überraschten Verkäufer, der mit dem Rücken zu ihren Freunden stand, eine kraftvolle Backpfeife zu verpassen.
"Du kleines Miststück", schrie er aufgebracht und versuchte sie zu schnappen, doch Gaia tauchte geschickt unter seinem Arm hindurch, hatte den Überraschungsmoment genutzt, in dem der Mann sich die Hand an die schmerzende Wange gelegt hatte.

Er wirbelte herum, Boshaftigkeit glitzerte in seinen Augen, als er die Situation verstand.
"Ich werde euch...", begann er die Drohung und hechtete wütend hinter den Kindern her, welche gerade durch den klimpernden Eingang seinen Laden verließen.
Sie waren bereits zu weit, als dass er sie hätte einholen können und eine Welle der Frustration über das verlorenen Geld holte ihn ein.
"Diese verdammten Kinder."

Seine Worte verhallten in der vor Hitze vibrierenden Nachtluft, die Sterne schienen ihn stumm auszulachen und die Stille senkte sich wieder auf die einsame Gasse nieder.
Irgendwann ging der Verkäufer wieder in seinen Laden, wusste dass er verloren hatte und das Geld nie wieder sehen würde.

Die Kinder hingegen liefen lachend durch die engen Gassen, im Zickzack, falls er die Soldaten rief, welche sich normalerweise aber nicht in diesem Viertel aufhielten, weil sie es nicht für wertvoll genug hielten, als dass es von Dieben befreit werden müsste.
Sie bogen scharf um eine Ecke in eine Sackgasse ein und kletterten nacheinander die unebene Steinwand empor.
Oben angekommen verweilten sie einen Moment und blickten in schweigendem Verständnis hinauf zum silbrigen Mond.

"Der Mond passt auf uns auf.", erklärte Jari geheimnisvoll flüsternd wie bei einem Ritual und holte das gestohlene Geld aus seinen tiefen Taschen hervor.
Sein bester Freund Oman, schüttelte freudig seinen Kopf mit den wirren, schwarzen Locken und holte ebenfalls die goldenen Münzen hervor.
Sie teilten alles gerecht auf und jeder erfreute sich an seinem neugewonnenen Schatz.
Es war nicht viel, dennoch genug, um etwas schönes zu essen für die Familie zu kaufen, um sich ein neues Gewand zu leisten oder um ohne Sorgen die überteuerten Steuern zu bezahlen.

Hadil legte unsicher den Kopf schief.
"Aber dürften wir ihm einfach all sein Geld wegnehmen?", fragte sie mit dünner Stimme.
Ihre Schwester seufzte genervt und wendete sich von ihr ab, wanderte die schmale Mauer ein Stück entlang und kehrte dann wieder um.
"Bei Seth, das fragst du jedes Mal.
Er ist ein Schwein und er verdient es."

Das junge Mädchen drehte nachdenklich die Münzen in ihren kleinen Händen.
Wieso fühlte sie sich dann immer so schlecht?
"Wenn du es ihm zurückbringen willst, kannst du gerne gehen.", schlug Gaia provokant vor und Hadil lief ein eiskalter Schauder über den Rücken.

Jari schien sie zu verstehen, wieder einmal, denn er legte ihr beschützend eine Hand auf die Schulter und erklärte ein weiteres Mal ihr 'Recht' zu stehlen.
"Wir nehmen uns nur das Geld von Betrügern, Lügnern oder ekelhaften Schweinen wie Simson heute.
Sie haben genug, es kommt auf ein oder zwei Dinar mehr nicht an.
Außerdem haben sie es verdient, denn sie sollen verstehen, dass ihr Verhalten falsch ist."
Der Blick aus seinen bersteinfarbenen Augen war aufrichtig und Hadil nickte langsam.

Seine Erklärung machte es immer ein bisschen besser, löschte diesen kleinen Funken Mitgefühl und Schuld in ihrem Inneren beinahe vollständig aus und schuf ein Trugbild der Gerechtigkeit.
Vielleicht nur eine Illusion, eine Ausrede, ein Fluchtweg, aber etwas woran sie glauben konnte.

"Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen.", murmelte Hadil grinsend, vertrieb stur den letzten Rest ihres widerstrebenden Schuldgefühls und malte sich aus, was sie mit ihren Münzen anstellen würde.

"Das nennt man Leben.", stellte Oman nachdenklich auf seiner Unterlippe kauend fest, während sich in seinen dunklen Augen der weiße Mond wiederspiegelte.
Die Worte klangen merkwürdig aus seinem Mund, wirkten fehl am Platz zwischen diesen Kindern von zwölf oder dreizehn Jahren, selbst wenn von Erfahrungen geprägte Wahrheit in ihnen Mitschwang.
"Gemeinsam für Gerechtigkeit kämpfen, nie aufgeben und hoffen."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top