Casting

Eilig rüttelt sie noch einmal prüfend an ihrem Fahrradschloss und läuft dann zu dem alten, viereckigen Gebäude, dessen graue, poröse Steinwände von buntem, scheinbar willkürlich aufgemaltem Graffiti übersät sind.
Als sie vorsichtig die große Eisentür hinter sich schließt, umhüllt sie warme Heizungsluft, lässt sie langsam auftauen, obgleich die Luft ziemlich stickig ist.
Dann blickt sie in einen engen, langgestreckten Raum, der von grellen Neonleuchtröhren an der niedrigen Decke beleuchtet wird, die ein ungemütlich helles Licht verbreiten, was die Tatsache kompensiert, dass es keine Fenster gibt.
Das hier ist nunmal kein Casting für reiche Snobs, die sich Rollen suchen, um noch bekannter zu werden, als sie eh schon sind, oder weil sie die Schauspielerei einfach als lustiges Hobby sehen, als Zeitvertreib.
Nein, das hier ist das echte Leben und jeder, der an diesem Ort auf den Aufruf seines Namens wartete, braucht das Geld dringend, und wenn er keinen Job bekommt, muss er sich an anstrengendere, schweißtreibendere Arbeiten wagen, die wohl kaum für Jugendliche aus diesem Viertel geeignet sind.
Trotzdem hat sie Spaß daran, was den Job für sie erleichtert, ihr einen kleinen Vorteil gibt.

Am liebsten spielt sie die schlechten Rollen, egal ob falsche Freundinnen, lästernde Schwestern oder böse Königinnen.
Diese Rollen ziehen sie unerklärlicherweise an wie kalte Regentage, an denen sie gerne mit ihrem großen, schwarzen Schirm im matschigen Park spazieren geht.
Die Meisten wollen den Guten spielen, die ruhmreiche Hauptrolle, denn es ist einfacher gut zu sein, von den Zuschauern geliebt zu werden.
Dabei hat jeder der Bösen einen Grund sauer zu sein und schlechte Dinge zu tun, denn die Welt machte sie zu dem, was sie sind .
Wenn die Welt oder die Gesellschaft oder irgendjemand in ihrer Vergangenheit ungerecht war, mussten sie selbst ungerecht sein und  diesen dunklen Weg einschlagen, um zu überleben.
Von Grund aus schlecht war niemand.

Außerdem ist es nur Eine von vielen Rollen, in die sie schlüpft und da macht es keinen Unterschied, wie anders diese Rolle doch ist.
Vielleicht ist es sogar gut, wenn die Person ihr nicht ähnelte, denn wenn sie eine andere Welt betritt, irgendwo in den Gedanken der Fremden Person, die sie um sich herum aufbaut, verschwindet, dann zählt ihr eigenes Leben nicht mehr, es  verschwindet in der hintersten Ecke ihrer Gedanken.
Eigentlich ist es doch immer so, in der Gesellschaft nimmt jeder eine Rolle an, nur die meisten sind sich dessen nicht bewusst.

Sobald sie bei der ersten Tür links abbiegt, entdeckt sie viele laut quatschende, äußerst hübsche, junge Mädchen.
Alle sehen sie gleich aus, spindeldürr, stark geschminkt und fast alle mit blond gefärbtem Haar, versuchen das Beste aus sich zu machen und passen dabei perfekt in die Rolle der Guten.
Sie ist anders, natürliches, dunkelblondes Haar, äußerst blass, ungeschminkt und viel ernster, viel zu ernst für ihr Alter, gehört nicht dazu, will nicht dazu gehören.
Kurz sieht sie sich suchend um, um ein ruhiges, abgeschiedenes Plätzchen zu finden.
Dann drängelt sie sich langsam und mit eingezogenen Schultern durch die Menge der Wartenden, bleibt am anderen Ende des runden Raumes stehen und lehnt sich neben einen der wenigen Jungen im Raum an die kahle, weiße Wand.
Er hat die Augen geschlossen, sieht nicht einmal auf und schweigt, wirkt entspannt, losgelöst.
Interessiert mustert sie ihn von der Seite, begutachtet sein Profil, keinesfalls flirtend oder anzüglich, einfach nur neugierig.

"Was machst du? Deinen Text wiederholen?", fragt sie und ein flüchtiges Lächeln huscht über ihr Gesicht, vielleicht weiß sie selbst nicht so genau warum.
"Ich warte.", sagt er schlicht, öffnet nicht einmal seine Augen.
"Du wartest darauf, dass du aufgerufen wirst?"
"Nein"
Seine Antworten sind knapp, seine Stimme ist dunkel und er wirkt äußerst desinteressiert.
"Aber wieso bist du dann hier?", fragt sie unnachgiebig, löst sich von der Wand und dreht sich zu ihm um.
"Ich warte."
Seine Kiefermuskeln bewegen sich sichtbar, deuten an, dass er angestrengt nachdenkt.
"Das hast du schon gesagt."
Sie schüttelt stur den Kopf, fragt sich wieso der Fremde so verschwiegen ist, und kneift konzentriert die Augen zusammen, um ihn irgendwie zu durchschauen.

"Du wartest auf...?", hakt sie nach.
"Ich warte einfach."
"Aha."
Beide schweigen, sie starrt ihn an und kaut unruhig auf ihrer Unterlippe, während er sie geflissentlich ignoriert und die Augen immer noch nicht öffnet, keinen Spalt breit.
Irgendwann hält sie die Stille nicht mehr aus und ihre Ungeduld siegt.
"Und wie lange wartest du schon?"
"Jahre lang"
Sichtlich verwirrt zieht sie ihre Stirn in Falten und legt nachdenklich den Kopf schief.
"Wieso das?"
Plötzlich schlägt er seine Augen auf, schnell und überraschend.
Sie sind von einem milchigen blau und durchzogen von grauen Schlieren wie der Himmel an tristen Regentagen.
Sie sind umgeben von langen, schwarzen Wimpern, die wie Spinnenbeine aussehen.
Sie sind groß und mandelförmig, lassen ihn merkwürdig verletzlich aussehen.

"Weil ich zu schwach bin, um etwas zu tun, zu unbedeutend."
Seine Worte stimmen sie traurig, lassen Sie nachdenklich werden, auch wenn sie die Bedeutung noch nicht versteht.
"Ich glaube, du kannst etwas tun.", versucht sie ihn aufzumuntern und schiebt sich eine verirrte Haarsträhne zurück hinter ihr Ohr.
Er schüttelte nur langsam den Kopf, traurig, hoffnungslos.
"Ich habe es bereits versucht.
Es bringt nichts."
Sie versteht ihn nicht, verschränkt verärgert sowohl über seine Entscheidung als auch über seine Verschlossenheit die Arme vor der Brust.
"Wieso gibst du auf?", konfrontiert sie ihn mit der Wahrheit, doch er verneint und verschließt sich weiter vor ihr, obgleich er sich ihr zuwendet.
"Ich gebe nicht auf."
"Doch.", sagt sie und zieht einen Schmollmund.
Ganz offensichtlich schon.

"Du verstehst das nicht."
Er tut so, als wäre sie ein kleines, unwissendes Kind, das mit einer rosaroten Brille durch die Welt lief, aber das war sie nicht, ganz im Gegenteil, selbst wenn sie den Sinn hinter seinem Warten noch nicht gefunden hatte.
Beide starren sich an, kaltes Regenblau trifft auf lebendiges Blattgrün.
Sie schweigen einen Moment.
Irgendwann bricht sie wieder die Stille, gibt zuerst nach, doch ihre Worte sind provokant.
"Und hast du Spaß beim Warten?
Ganz schön gemütlich neben dieser harten, kalten Wand in diesem stickigen, überfüllten Gebäude, nicht wahr?"
Er kann sich ein verschlagenes Grinsen nicht verkneifen, bevor er wieder ernst wird, nur dieses Mal bewegen sich seine Kieferknochen nicht mehr.
Er ist wieder die Ruhe selbst, sie nicht.

"Willst du mir antworten?"
Er schüttelt widerwillig den Kopf und stellt eine Gegenfrage.
"Kannst du nicht mal einen Moment die Klappe halten?"
Seine Worte sind keinesfalls unfreundlich, eher liebevoll spöttisch, so als wäre sie seine kleine Schwester.
Dabei kennen sich die Beiden gerade mal ein paar Minuten.
Sie freut sich über seine Antwort, wenn sie auch keinesfalls zu einer Lösung führt, und lehnt sich wieder an die Wand.
"Okay. Dann warte ich auch."
Schweigende Stille umhüllt Beide wie zähflüssiger Honig und dämpft das Gelächter der Anderen Personen im Raum ab, sobald der große, dürre Junge beginnt, zu sprechen.
"Ich warte darauf, dass sich etwas verändert.", gibt er zu und lehnt sich ebenfalls wieder an die Wand, als hätte sich nichts verändert, seit sie ihm die erste Frage gestellt hatte.
"Ich warte, bis die Menschen verstehen, was sie jeden Tag anrichten, bis sie aufhören, ihre Welt und ihre Mitmenschen zu zerstören."
Die nachdenklichen, traurigen Worte scheinen im länglichen Raum nachzuhallen, obwohl sie nur zwischen diesen beiden Kindern, vielleicht auch schon Erwachsenen, bleiben.
Sie durchdringen ihre Gedanken und lassen sie nicht mehr los, denn sie versteht ihn, hat selbst oft das Gefühl, dass jeder nur an sich selber denkt, egoistisch ist und sowohl seine Umgebeng als auch seine Mitmenschen ausnutzt.

"Dann sollten wir vielleicht etwas tun.", schlägt sie leise und bedacht vor und er schnaubt abfällig.
"Ja, dass sollten wir, aber es interessiert niemanden."
Sie schüttelt wild den Kopf, wiederspricht ihm ein weiteres Mal, wirft ein weiteres Mal seine Worte zurück wie ein Spiegelbild.
"Doch es interessiert jemanden, die Natur, die vom aussterben bedrohten Tiere, die suizidgefährdeten Menschen, die aufgrund unserer strengen Gesellschaft ihren Lebenssinn verloren haben, und die armen, hoffnungslosen Menschen, die jeden Tag auf der Straße verhungern, oder diejenigen, die von ihrer Regierung unterdrückte werden.
Jeden von ihnen interessiert es."
Jetzt ist er neugierig, seine Aufmerksamkeit ist geweckt und er blickt sie skeptisch von der Seite an.
"Und was willst du dagegen tun?"
Er ist nicht überzeugt, lediglich neugierig, sie hingegen voller Tatendrang, weil er ihr den gebrauchten Denkanstoß gegeben hat.
Plötzlich hat sie gar keine Lust mehr auf das Casting, möchte andere Dinge tun, bedeutsamere Dinge, Dinge, für die sich auch andere Leute interessieren.

"Ich will kleine Schritte tun.
Ein Teil von etwas Großem sein, vielleicht die Welt verändern.
Das ist besser als Warten, besser als Nichts tun und besser als das alles zu ignorieren, denn wenn niemand anfängt, dann passiert auch nichts.
Warten kann jeder."
Herausfordernd sieht sie ihn an und ein mutiges, gefährliches Glitzern, das er schon längst verloren glaubte, erscheint in seinen wässrigen blauen Augen, als er sich aufrichtet und seine Schultern strafft.
"Danke", murmelt er ehrlich.
"Wofür?", sie lächelt siegessicher, weiß die Antwort schon, will seine Bestätigung nur noch einmal hören.
"Dafür, dass du mich erinnert hast, dass es sich lohnt aufzustehen und Anderen zu helfen."
Sie stößt sich schwungvoll von der Wand ab und stellte sich vor ihn, sodass er sie ansehen muss, wenn er nicht wieder die Augen schließen würde, was er nicht tut, denn er will nie wieder die Augen vor etwas Wichtigem schließen.
"Wann fangen wir an?", fragt sie zielstrebig und er nickt, als hätte er auf diese letzte Frage gewartet.
"Jetzt"
Das war immer die beste Antwort, die beste Zeit.
Er nimmt entschlossen ihre Hand und sie verlassen gemeinsam den länglichen Raum, verwirrte und abschätzige Blicke folgen dem merkwürdigen Duo bis nach draußen, verstehen nicht, warum sie gehen, freuen sich nur über ihre gestiegenen Chancen.
Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie es irgendwann doch noch verstehen, früher oder später,
und er auch nicht mehr.

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