Buchverschlingerin
Sie ist oft alleine.
Fühlt sich nicht ausgeschlossen, ist aber auch kein Teil des Ganzen, will vielleicht kein Teil von dem sein, was die anderen bilden und was gleichzeitig die anderen umschließt, einengt, einsperrt.
Es ist etwas anderes, dass sie beglückt, dass ihr Freude bereitet und sie erfüllt.
Die Meisten verstehen es nicht, verstehen sie nicht.
Sie sucht nach Büchern in der Bücherei. Sie kauft sich einen neuen Schatz, eine neue Welt, neue Gefühle und fremde Gedanken. Sie sitzt über einem Buch und hält es in ihren langen, schlanken Fingern. Sie kann sich nicht mehr von ihm lösen. Sie lacht und weint und ärgert sich. Sie blättert um, Seite für Seite, wird nicht müde und kann nicht aufhören wie eine Süchtige auf Drogen. Sie nimmt das Buch mit auf all ihren alltäglichen Wegen, liegt über ihm im Bett bis spät in die Nacht, schläft ein mit dem Buch und träumt von ihm. Sie ist in einer Art Trance bis zur letzten Seite, bis zum letzten Atemzug des Protagonisten.
Dann beginnt alles wieder von vorne.
Ein merkwürdiges Mädchen gefangen in einem Kreislauf aus Illusionen und Fiktion?
Tag für Tag, die strahlend gelbe Sonne geht auf und sinkt, der blasse, weiße Mond erscheint und verschwindet, sitzt sie dort abseits der anderen mit ihrem Buch, ihrem Freund, ihrem Begleiter.
Aber niemand will für immer alleine sein, niemand kann das.
Vielleicht versucht sie nur aus ihrer Welt zu fliehen.
Vielleicht versucht sie sich in einem anderen, besseren Leben zu verstecken.
Doch niemand will sie verstehen und niemand teilt ihre Leidenschaft, fremde Welten durch Buchstaben, Worte, Sätze zu entdecken und durch die Sicht einer anderen Person zu leben und zu lernen.
Niemand in ihrem Umfeld teilt die einzige positive Sucht. Nur sie ist eine Buchverschlingerin und nur sie kann sich ein Leben ohne diese unscheinbaren, viereckigen Dinger, sorgfältig eingepackt in einem Umschlag, die viele nur aus Zwang für ihren Deutsch Unterricht oder ähnliche Pflichten lesen, nicht mehr vorstellen.
Und was nun?
Wie geht die Geschichte weiter?
Sie braucht natürlich ein Happy End, damit ihr nicht auch verloren geht in solchen Welten, damit nicht alles so hoffnungslos, leer und trist scheint.
Sie vergnügt sich die Zeit mit lesen, zwingt sich zu ihren Pflichten in der Realität und wartet auf, ihr habt es sicherlich schon erraten, den Einen, der sie wirklich versteht.
Er wird kommen.
Schon ganz bald, in wenigen Tagen, Tick Tack, wenigen Stunden, Tick Tack, wenigen Minuten, Tick Tack, jetzt nur noch Sekunden.
Sie steht gerade in der Bibliothek, zwei dicke, schwere Bücher in der Hand. Es juckt sie schon in den Fingern, mit dem Lesen zu beginnen, aber sie fühlt, dass sie warten muss, weil heute noch etwas passiert.
Dann zieht sie plötzlich und ganz intuitiv ein schlankes, rotes Buch aus dem vollgepackten Bücherregal.
Ein warmes, braunes Auge blickt ihr entgegen, begrüßt sie stumm lächelnd. Sofort fühlt sie etwas. Die große Liebe ist es wohl kaum, wir wollen ja nicht allen Klischees entsprechen, wollen nicht, dass ihr Leben genauso verläuft wie die idealisierten Geschichten in einem unrealistischen Buch.
Trotzdem ist da eine Verbindung, etwas Besonderes, jemanden, den sie kennenlernen will.
Das ist keine Geschichte?
Da habt ihr Recht.
Es ist ein Anfang und, so viel darf ich verraten, sie lernt, ihr Leben zu lieben wie ihre Bücher, schätzt von da an Beides, und erlebt vielleicht sogar ein paar kleine Wunder, wie die in ihren heiß geliebten Büchern, die sie sich so lange ersehnte.
Es brauchte nur diesen einen Tag und alles war anders.
Und sie ist kein Einzelfall.
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