Willkommen zuhause

Vor dem Zeitsprung

Henning

Mein Herz klopfte wie wild, als Lin, Theo und ich vor dem riesigen Tor eines gewaltigen Schlosses stehen blieben. Ich spürte, wie mein Unterkiefer nach unten klappte. Dort würde ich jetzt wohnen? Sicherlich steckte ich in einem Traum, nur wann war ich bitte eingeschlafen?

„Kommst du, Henning?", rief Lin.

„Ähm, ja. Entschuldigung." Schon setzte ich mich in Bewegung.

Theo schüttelte leicht den Kopf, ehe er seine rechte Hand auf das Tor legte.

Dieses öffnete sich mit einem leisen Quietschen.

Lin und Theo liefen wieder los und ich folgte ihnen.

Wir spazierten durch eine riesigen Gartenanlage. Ein Plätschern drang an meine Ohren und der Duft nach Äpfel und Kirschen umwehte mich. Irgendjemand der beiden muss ziemlich reich sein. Gut, aufgrund der Tatsache, dass sie mit Unsterblichkeit gesegnet sind, haben sie eine Menge Geld anlegen können.

Kopfschüttelnd verjagte ich diese Gedanken. Wir gelangten zu einem Eichenportal, vor dem zwei Männer in dunkelblauen Uniformen standen.

Derjenige mit der großen Nase verneiget sich tief vor uns. „Willkommen zuhause, Lady Rabenfeder und Sir Sélon. In Ihrer Abwesenheit wurde sich um alles gekümmert, um das Sie gebeten hatten, mylady." Lady? Sir? Muss ich sie jetzt auch so anreden? Bitte nicht, das würde ich niemals hinkriegen.

„Vielen Dank, James", entgegnete Theo.

Der Angesprochene klopfte mit der Faust auf sein Herz und verbeugte sich dann. Anschließend öffnete er gemeinsam mit seinem Kollegen die Tür.

Lin hakte sich bei Theo unter und spazierte los.

Mein Herz schlug schneller. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Was zur Hölle ist los mit dir? Reiß dich zusammen, Mann! Die beiden werden dich schon nicht einsperren und du darfst das Schloss auch wieder verlassen, wenn dir danach der Sinn steht. Auf jetzt!

Nachdem ich tief Luft geholt hatte, schritt ich über die Schwelle.

Ein Knarren erklang hinter mir. Sofort drehte ich mich um und sah, wie das Tor zufiel. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wenn du gehen möchtest, brauchst du es nur zu sagen", sprach Theo.

„Hm", brummte ich und wandte mich ihm zu.

Ein Kronleuchter baumelte hinter ihm von der Decke.

„Wie geht es jetzt weiter?"

Lin schenkte mir ein Lächeln, das mich dezent an eine Raubkatze erinnerte. „Wir zeigen dir dein Zimmer und dann bitten wir unsere Diener darum, das Abendessen vorzubereiten. Du kannst in der Zeit tun und lassen, was du willst."

„Klingt ... klingt gut. Solange ihr mich nicht verspeist." Habe ich das eben wirklich gesagt? Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben! Theo wird niemals zulassen, dass sie dir etwas antut. Wenn Christina Recht hat, wird Lin schon vor mehreren schwierigen Situationen gestanden haben, also wird sie sich auch so weit zusammenreißen können, ohne dich auszusaugen.

„Keine Sorge." Theo machte einen Schritt auf mich zu und legte eine Hand auf meine Schulter. Die Kühle seiner Haut ließ mich zusammenzucken. „Auch wenn deine Angst vollkommen berechtigt ist, besteht für sie kein Grund. Lin wird dich nicht anrühren, versprochen." Na, dann.

Mehrere Treppen später, stand ich vor einer schlichten Holztür, die ein Griff aus Messing schmückte.

Theo nickte mir zu. „Mach es dir gemütlich und wenn du etwas brauchst, werden unsere Bediensteten sich um dich kümmern. Möchtest du nachher vielleicht die Bibliothek besichtigen oder den Waffensaal?"

„Die Bibliothek klingt gut", murmelte ich.

„In Ordnung. Du findest sie im zweiten Stock, im Ostflügel. Bis später."

Schritte entfernten sich.

„Dann schauen wir uns mal unser Zimmer an", wisperte ich und drückte den Griff nach unten. Geräuschlos schwang die Tür in meine Richtung. Mit klopfendem Herzen trat ich über die Schwelle.

Ein schlichtes Bett starrte mich von der Mitte des Raums an. Der Duft nach Lilien und Rosen drang in meine Nase, doch ich konnte keine der Pflanzen sehen. Wie ferngesteuert, ging ich auf das Bett zu und ließ mich dort nieder. Die Matratze gab ein Stück weit nach.

Ich schloss die Augen und legte mich auf den Rücken. Das ist jetzt also dein Zuhause. Zumindest bis diese ... Dinger aus Saras Speichel deinen Körper verlassen haben. Macht sie sich überhaupt Sorgen um mich? Denkt sie noch an mich, oder hat dieser Olléchin es geschafft, dass sie mich vergessen hat? Dieser Mistkerl muss dafür bezahlen, dass er einfach so meinen Platz eingenommen hat! Aber eigentlich ... Stecken die Lynas dahinter? Hat Ria dieses Plan ersonnen, um mich von meiner ... von Sara zu trennen, damit ich ihren Schmerz ebenfalls spüre? Um mich für meine Taten leiden zu lassen? Christina hätte hierbei doch nicht mitgemacht, oder? Aber, was, wenn ... Nein, so kommen wir nicht weiter. Sicherlich gibt es eine rationale Erklärung dafür, dass Olléchin einfach so bei Sara aufgetaucht ist. Allerdings schien sie ihn zu kennen. War er vorher mal ein Kunde von ihr?

Seufzend schlug ich die Augen wieder auf und setzte mich. Anschließend trat ich aus dem Zimmer und machte mich auf den Weg zur Bibliothek.

Sonnenlicht fiel durch die hohen Fenster des Raums und ließ ihn freundlich wirken. Die Stille der Bibliothek legte sich wie ein schweres Gewicht auf mich. Meine Kehle verengte sich und irgendwo in mir erwachte der Impuls, mich umzudrehen und wieder in mein Zimmer zurückzukehren.

„Fürchtest du dich vor der Stille?" Theo lehnte an einem Regal, die Arme lässig vor der Brust verschränkt.

„W ... Was?"

Er lächelte. „Du fühlst dich unwohl und da habe ich mich gefragt, ob es daran liegen könnte, dass du Schwierigkeiten mit Stille hast. Du musst meine Frage nicht beantworten."

Auf seine Worte nickte ich. „Warum habt ihr mich aufgenommen?", flüsterte ich und machte einen Schritt auf ihn zu.

Er hob die Augenbrauen. „Denkst du, Christina hätte uns einen Wahl gelassen?"

„Sie hat doch keine Macht über euch, ihr hättet euch weigern können."

Theo grinste.

„Ähm, so ist es doch, oder?"

„Du weißt nicht, woher Lin und ich eigentlich kommen, oder? Wir beide ... Wie drücke ich es aus, damit du mich verstehst?" Er trippelte mit den Fingern seiner rechten Hand gegen seine Schläfe. „Wir haben insofern etwas mit der Elfe Kunalia gemeinsam, als dass wir ebenfalls aus Diegesen stammen." Die ... was? Davon habe ich noch nie gehört.

„Entschuldige, aber ich kann dir leider nicht ganz folgen."

Theo nickte. „Kunalia entspringt Christinas Fantasie und das trifft auch auf mich zu, während Lin der Fantasie einer anderen Person entspringt." Wie bitte?

„Dann ... Aber warum bist du dann nicht mit ... Du wirkst nicht, als würdest du ... Was?" Meine Beine zitterten.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht überfordern. Eigentlich wollte ich dir nur deutlich machen, dass Christina sehr wohl Macht über uns, besonders mich, hat, aber nicht nur sie. Jede kreative Person könnte uns Befehle erteilen und wir hätten keine andere Wahl, als diese zu befolgen."

Abermals spürte ich, wie mein Kiefer nach unten klappte. „Warte mal, soweit ich weiß, stammt Christinas Mann auch aus der Welt, die sie sich ausgedacht hat, aber sie hat ihn zu einer Person gemacht und damit ihre Macht über ihn eingebüßt, oder?"

„Teilweise stimmt das. Nichello ist eine Person, wie Lin und ich. Doch da wir früher fiktive Figuren waren, sind wir Lachesilias geworden und eine Sprache reicht aus, um uns zu benutzen und Nein, Christina wusste nichts davon. Lin und ich haben das kurz vor ..." Er biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick.

Vor Sarahs Tod? Meint er das?

„... vor dem missglückten Rettungsversuch herausgefunden, als Christinas Schattègî sie gegen mich einsetzte."

„Das tut mir leid." Die Worte hatten meinen Mund verlassen, bevor ich zum Nachdenken gekommen war. Dabei spürte ich tief in mir, dass ich sie aufrichtig meinte.

„Das braucht es nicht, aber ich danke dir dennoch." Theo schenkte mir erneut ein Lächeln.

„Diese Sprache ... Kann sie jeder erlernen wie beispielsweise Synlingum?"

Er zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht und es tut mir leid, dass ich dir diesen langen Vortrag gehalten habe, während du eigentlich nur eine kurze Antwort auf deine Frage haben wolltest. Lin war nicht begeistert davon, dich hier bei uns aufzunehmen, doch wir verstehen besser als die meisten, wie wichtig zweite Chancen sind und dass es sich auszahlt, wenn man anderen Leuten in Not hilft. Deswegen haben wir Christinas Vorschlag zugestimmt."

Ich schluckte. „Danke. Täusche ich mich, oder hat Lin irgendwelche Probleme mit mir?"

„An deiner Stelle würde ich ihr die nächste Zeit aus dem Weg gehen. Wir Vampire vergessen nichts, was wir je mit unseren fünf Sinnen aufgenommen haben, aber sie vertraut auf Christinas Glauben an dich. Das tun wir alle."

Erneut nickte ich. „Verstehe. Sollte nicht all zu schwer fallen, sie zu meiden. Groß genug ist das Schloss ja."

„Das stimmt allerdings. Wenn ich mich nicht täusche, dürfte das Abendessen jeden Moment fertig sein. Möchtest du mit mir zum Speisesaal gehen?"

„Gerne. Sonst verlaufe ich mich noch."

Theos Mundwinkel zuckten. „Das glaube ich dir, aber ich bin sicher, dass du dir die wichtigsten Wege schnell eingeprägt hast. Zur Not kannst du immer nach dem Weg fragen und du wirst beim Abendessen unseren anderen Gästen begegnen, die über kein vampirisches Gedächtnis verfügen."

Kaum waren diese Worte verklungen, als er sich aufrichtete und die Bibliothek verließ. Wortlos folgte ich ihm.

Andere Gäste? Mit wem muss ich noch rechnen? Irgendjemand, der einen Groll gegen mich hegt wegen Sarahs Tod? Hoffentlich nicht. Es wird mir so schon Schwierigkeiten bereiten, mich nicht von Lin zu beeinflussen zu lassen. Aber diese Sprache, von der Theo gesprochen hat ... Könnte sie mit dem Fluch zusammenhängen, von dem Christina mir erzählt hat? Aber er wurde doch gebrochen. Eins nach dem anderen, Henning, sonst werden wir noch verrückt.

In diesem Moment blieb Theo vor einer holzverkleideten Tür stehen. „Bereit, die anderen Gäste zu treffen?"

„Sind das alle Vampire?"

Er schüttelte den Kopf.

Nachdem ich tief eingeatmet hatte, nickte ich. Theo öffnete die Tür und ich erblickte einen Speisesaal, in dessen Zentrum eine gewaltige Tafel stand.

„Folge mir", flüsterte er und ging los.

Getuschel und Gemurmel begleitete mich auf meinem Weg zu einem freien Stuhl. Zu dumm, dass ich kein Wort verstehe.

Theo schenkte mir noch ein Lächeln, ehe er mich allein ließ. Meine Glieder fühlten sich auf einmal unglaublich schwer an, doch ich zog den Stuhl zurück und setzte mich.

„Verehrte Gäste!", rief da Lin. Wo sitzt sie nur? Ah, da. Natürlich am Kopf der Tafel. Etwas anderes hätte ich nicht erwartet, immerhin ist sie die Lady des Schlosses.

Jegliche Gespräche verstummten.

„Heute haben wir jemanden aufgenommen, der sein Zuhause verloren hat. Obgleich einige von euch Geschichten über ihn gehört haben, die nicht gerade für Sympathie sorgen, bitten Theo und ich euch dennoch, ihn respektvoll zu behandeln." Lin hob das Weinglas.

Wie auf Kommando vollführte jeder an dem Tisch die gleiche Handlung.

Rasch tat ich es ihnen nach, obwohl ich mich am Liebsten geduckt hätte.

„Willkommen auf Schloss Hyleri, Henning und möge es dir für die Dauer deines Aufenthalts ein Zuhause sein. Prost!", rief Lin.

„Prost", antworteten die anderen.

„Darf ich mit dir anstoßen?", sprach jemand. In meinem linken Augenwinkel bemerkte ich pinke Haare.

„Gerne, auch wenn du damit vermutlich die Einzige bist", erwiderte ich und wandte mich der Person zu.

Das freundliche Gesicht einer Frau schaute mich an. „Das glaube ich nicht. Erlaube mir, mich vorzustellen: Liza Buch. Wenn du Fragen hast, darfst du dich jederzeit an mich wenden."

Die Gläser klirrten, als wir anstießen. „Erfreut, deine Bekanntschaft zu machen", entgegnete ich.


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