Vergebung
Vor dem Zeitsprung
Christina
Nichello saß ausdruckslos auf dem Sofa, als ich das Wohnzimmer betrat.
„Liebster, bitte, rede mit mir", sprach ich und nahm neben ihm Platz.
Er schwieg.
Ich legte eine Hand auf seine Schulter und streichelte sie sanft.
„Es ist doch meine Schuld. Alles ... Sarahs Tod, unser ..." Er schniefte und ich sah eine Träne seine Wange hinunterlaufen.
Sofort schüttelte ich den Kopf. „Das kannst du nicht wissen. Nach allem, was wir über die Schattègî wissen, hätte sich Olléchin früher oder später von dir gelöst und ..."
Nichello seufzte und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Hätte ich doch nie diese Fähigkeiten bekommen! Dann ... dann wäre Sarah noch ... Sie würde ..." Ein Schluchzer schüttelte seinen Körper.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich legte die Arme um ihn. Hoffentlich konnte ich ihm durch die Berührung etwas Trost spenden, so wie seine Wärme es immer bei mir schaffte.
„Verzeih dir selbst", raunte ich.
„Mir vergeben?" Er befreite sich aus meiner Umarmung und stand auf. „Wie könnte ich das? Begreifst du nicht, was ich getan habe?! Wie soll ich noch länger dein Ehemann sein, wenn ich doch ... wenn ich ... ich ..." Abermals floss eine Träne seine Wange hinab.
„Wir haben lange darüber diskutiert, wenn du dich erinnerst und ich war bereit, dieses Risiko einzugehen", erwiderte ich und erhob mich ebenfalls.
Nichello schüttelte den Kopf und wandte seinen Kopf mir zu. In seinen braunen Augen brannte ein Feuer, doch der Tränenschleier verbarg es fast.
„Diesen Ausdruck kenne ich, ohne meine Gabe zu aktivieren. Nichello, bitte, die Schuld liegt nicht bei dir. Wie hätte jemand von uns ahnen sollen, dass Schattègî existieren? Wieso denkst du, dass die Schuld bei dir liegt, was unsere Tochter angeht? Vielleicht ... trage ich auch die Verantwortung dafür. Möglicherweise kann mein ..."
Sofort ergriff er meine Hände. „Niemals, mein Herz. Dein Körper ist der stärkste und wundervollste, den ich kenne. Ich allein bin Schuld daran."
Abermals schüttelte ich den Kopf und legte meine Arme um ihn. „Bitte, Liebster, verzeih dir selbst. Wenn du möchtest, können wir es noch einmal versuchen und hör auf mit dem Unsinn, dass du nicht länger mein Ehemann sein könntest. Was auch immer geschieht, ich bin hier und werde dir zur Seite stehen, solange es mir möglich ist. Hast du vergessen, was ich dir geschworen habe?"
Nichello drückte mich fest an sich. Durch die Berührung spürte ich seinen Herzschlag. Etwas Nasses berührte meinen Kopf. „Wie könnte ich je eines deiner Worte vergessen, wenn sie es doch waren, die mich einst zum Leben erweckten?" Er ließ mich los, nur um einen Kuss auf meine Stirn zu drücken.
Seufzend schloss ich die Augen. Wieder einmal erwachte in mir der Wunsch, die Zeit anhalten zu können. Zu gerne würde ich in diesem Moment leben, bis die Wogen der Zeit sich für immer geglättet hatten.
„Was auch immer geschieht, meine Liebe zu dir wird sich nie ändern, geschweige denn wird sie enden", hauchte ich und öffnete wieder meine Augen. Nichello legte seine Hände auf meine Wangen.
„Iriluv héli, Christina. Meine Sonne, meine Adamira. Dich glücklich zu sehen, bedeutet mir alles und ist mein oberstes Ziel. Möglicherweise wärst du mit einer anderen Person besser dran. Sie könnte dir das bieten, was ich dir ..."
Mit dem nächsten Herzschlag stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er schlang seine Arme um mich und nach einer Weile öffnete er den Mund ein Stück weit. Gewährte mir Einlass. Er schmeckte nach Trauer, Schuld, aber eine leise Note von Hoffnung konnte ich auch wahrnehmen.
„Weißt du schon, worüber du dein nächstes Buch schreiben möchtest?", sprach er, nachdem er mich losgelassen hatte.
Etwas schnürte meine Kehle zu. Langsam ging ich wieder zu dem Sofa und versank beinahe in dem weichen Stoff.
„Christina?" Nichello blickte mich an.
Nun kamen mir die Tränen und der Kloß von vorhin kehrte zurück.
„Hey, hey!" Bevor ich auch nur blinzeln konnte, kniete mein Mann vor mir und seine rechte Hand ruhte auf meinem Knie.
„Ehrlicherweise ..." Ich schniefte. „... es ist nicht so, dass ich keine schreiben möchte. In meinem Kopf warten so viele Ideen, dass ich in manchen Moment schreien will, weil es sich anfühlt, als würde ich gleich explodieren, aber ... ich ... kann ... nicht."
Nichello nahm meine rechte Hand und malte Muster mit seinem Daumen auf meine Finger. Diese Berührung verlieh mir Stärke, gleichzeitig erinnerte sie mich daran, dass ich nicht allein war.
„Du fürchtest, dass das gleiche geschehen wird wie mit Kunalia", flüsterte er.
Darauf nickte ich. „Mir ist bewusst, dass diese Angst dumm ist. Der Fluch befindet sich nicht länger in meinem Blut, aber woher sollen wir wissen, ob die Portal für immer geschlossen bleiben?" Tränen flossen meine Wangen hinab.
„Du bist mit jeder Faser, jeder noch so winzigen Pore Autorin. Geschichten zu erzählen, sie zum Leben zu erwecken, erfüllt dich, zeichnet dich aus." Nichello hob seine freie Hand und wischte die Tränen von meinem Gesicht. „Deinen Schwur habe ich auch geleistet. Zwar gehe ich nicht davon aus, aber sollte eine weitere deiner Geschichten zum Leben erwachen, werde ich dir helfen. Wenn es nötig ist, kämpfe ich wieder mit dir. Gib deine Leidenschaft nicht auf, mein Herz."
Meine Mundwinkel zuckten. „Wir gehören wirklich zusammen, was? Also schlag dir die Gedanken aus dem Kopf, du würdest mich nur unglücklich machen, oder könntest mir nicht geben, was ich suche."
Er lächelte.
Wärme durchfuhr mich. „Genug Trübsal geblasen, wir sollten ..." Es vibrierte in meiner linken hinteren Hosentasche. „Stört es dich, wenn ich da kurz rangehe?", sprach ich und stand auf.
Mein Mann schüttelte den Kopf.
„Danke", hauchte ich und nahm mein Smartphone in die Hand. Ria stand auf dem Display. „Ria, hi, was gibt es?"
„Hallo, Christina. Stör ich gerade bei etwas?"
„Nein. Um ehrlich zu sein, kommt dein Anruf wie gerufen."
„Oh, klingt, als hättet ihr Streit gehabt. Fällt mir ehrlich gesagt schwer zu glauben, dass das bei euch beiden einmal vorkommt."
Ein leichtes Lachen entschlüpfte meiner Kehle. „Das ist nicht geschehen. Aber jetzt zu dir. Was hat dich zu dem Anruf verleitet?"
„Nun ... Also, ich ... weiß ehrlich gesagt selber nicht, ob es wichtig ist. Wenn es nach mir ginge, hätte ich dich gar nicht angerufen, aber Lin bestand darauf, also ..." Ein tiefes Durchatmen erklang. „Seit ... seit dem Begräbnis sind bei mir lila Muster auf der Haut meiner rechten Wange aufgetaucht." Lila Muster. Bisher hatte ich niemanden getroffen, der solche Verzierungen trug.
„Ok. Jucken sie, oder bemerkst du sie sonst in irgendeiner Weise?", sprach ich und schenkte Nichello einen Blick.
Er hob die Augenbrauen.
„Was weißt du zu lila Mustern auf der Haut?", flüsterte ich.
„Gerade nichts, aber ich schau mal nach, was ich finde." Das Summen verließ meinen Kopf.
„Nein, überhaupt nicht. Sie fallen auch kaum auf, weil sie so klein sind, aber ich dachte, dass du möglicherweise etwas darüber weißt. Immerhin sind du und die anderen Lynas in vielen Ländern gewesen", entgegnete Ria.
„Lieb von dir, dass du da gleich an mich gedacht hast. Leider kann ich dir nicht sonderlich ..." Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Nichello die Hand hob. „Warte, ich glaube, mein Mann hat etwas gefunden. Einen Moment, ich reiche dich weiter."
Nach diesen Worten nahm ich das Handy von meinem Ohr und übergab es Nichello. „Ria, wie genau sehen die Muster aus?", sprach er, während ich mich wieder auf dem Sofa niederließ.
„... Wellen. Erinnern fast ein wenig an eine Blume."
Mein Mann strich mit seiner freien Hand über seinen Dreitagebart. „Gut. Hör zu, ich schicke dir ein Bild und du sagst mir bitte, ob deine Muster so aussehen, in Ordnung?"
Was hatte er gefunden? Sein Tonfall verriet nichts darüber und die Stille in meinem Kopf genoss ich zu sehr, als dass ich meine Gabe des Gedankenlesens wieder aktivieren wollte.
„Sieht genauso aus. Fast schon unheimlich, wie sehr sie sich ähneln", sprach da Ria.
Nichello strahlte. „Wunderbar. Es klingt vielleicht etwas verrückt, aber ich glaube, dass es einen Weg gibt, wie wir Sarah zurückholen können." Mein Herz setzte einen Schlag aus. Nekromantie? Würde er sich wirklich darauf einlassen, nur damit Rias Schmerz ein Ende fand?
„Wie bitte? Bist du dir sicher?" In Rias Stimme schwangen deutlich die Hoffnung aber auch Zweifel mit.
„Zu hundert Prozent nicht, aber das werden wir herausfinden, sobald wir bei dir sind und meine Theorie auf die Probe stellen", erwiderte Nichello.
„Oh, ok. Hm, dann so in einer halben Stunde ungefähr? Ich muss mich noch umziehen und ..."
„Du weißt, dass du unsretwegen keine festlichen Gewänder anlegen musst, aber mach, wie du dich wohlfühlst. Gut, dann in einer halben Stunde. Bis dann." Mein Mann nahm mein Smartphone von seinem Ohr und tippte auf das Display. Er strahlte, als er es mir reichte. „So werde ich Vergebung finden."
Ich runzelte die Stirn. „Inwiefern? Was genau hast du herausgefunden?"
„Es besteht eine Möglichkeit, dass Ria die Zeit zurückdrehen kann und zwar nicht nur ein paar Minuten oder Stunden."
Mein Mund klappte auf. „Das würde bedeuten, dass ..."
Mein Mann nickte. „Wir könnten unsere Tochterzurückbekommen."
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