Tante Lena

Heute

Theo

Eine sanfte Brise streichelte mein Gesicht, während ich Lilly durch die leeren Straßen folgte.

„Ich muss dich warnen: Meine Tante kann ziemlich ... verschroben sein." Meine Freundin blieb vor der schlichten weißen Tür des dreistöckigen Hauses stehen.

„Warte mal, wenn sie Vanessas Tochter ist, dann sind doch entweder deine Mutter oder dein Vater ..."

Lilly schüttelte den Kopf. „Meine Eltern sind beide Einzelkinder. Tante Lena ist eine gute Freundin meiner Mutter, deswegen war sie schon immer meine Tante."

Daraufhin nickte ich. „Verstehe und mach dir keine Gedanken: Mit drei älteren Schwestern hab ich schon einiges erlebt."

Lilly lächelte. „Na, dann. Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." Sie betätigte den Knopf der Klingel.

Schritte erklangen von drinnen. Dann wurde die Tür geöffnet und eine Frau, schätzungsweise 35 Jahre alt, stand dort. „Lilly, das ist ja eine schöne Überraschung!" Ihre Stimme strahlte Wärme aus, wie ein Kamin im Winter.

„Hallo, Tante. Dürfen wir reinkommen?"

Tante Lena nickte. „Aber natürlich. Nur herein mit euch!"

Nach diesen Worten trat sie einen Schritt zur Seite. Lilly setzte sich in Bewegung und ich folgte ihr.

Ein langer Teppich verschluckte den Klang unserer Schritte, während wir einen Flur entlanggingen bis zu einer Birkenholztür, die einen Spalt offenstand.

Lilly drückte die Tür nach innen. Die Gerüche nach Kaffee sowie Kuchen wehten zu mir, kaum dass ich über die Schwelle getreten war. Sofort knurrte mein Magen. Auf dem riesigen Tisch in der Mitte des Raums stand eine dampfende Tasse, eine angeschnittene Erdbeertorte und drei Teller.

„Erwartest du weitere Gäste?" Lilly drehte sich zur Küchentür um, wo ihre Tante stand.

Diese schüttelte den Kopf. „Außer euch habe ich mit niemandem gerechnet."

„Sie ... Sie wussten, dass wir kommen würden?", sprach ich.

Tante Lena lächelte. „Ihr seid mir heute Morgen in meinem Spiegel erschienen und da wusste ich Bescheid."

„Klar." Langsam nickte ich. „Sie können mit dem Spiegel sicher auch in die Vergangenheit schauen, so wie Ihre Mutter."

„Theo!"

„Schon gut, Lilly, er kann es nicht wissen." Tante Lena machte einen Schritt auf mich zu. Instinktiv trat ich zurück.

„Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten und ich spüre, dass eine Barriere um deinen Geist gelegt wurde, die ich nicht zu durchbrechen vermag." Tante Lena hob ihre rechte Hand und fuchtelte in einer kreisenden Bewegung vor meinem Gesicht herum. „Hm, ja, aber ich kann noch Überreste der daloranischen Sprache feststellen."

„Wegen der Sprache sind wir hier", sprach Lilly.

Tante Lena ließ ihre Hand sinken und ging zu ihrer Nichte. „Nun, dann helfe ich euch gerne. Aber, bitte, setzt euch doch."

Lilly nahm umgehend auf einem der grün gestrichenen Holzstühle Platz.

Meine Hände zitterten leicht, während ich mich neben ihr niederließ.

„Greift ruhig zu, wenn ihr möchtet." Tante Lena verwies auf die Torte.

Lilly nahm sich gleich einen Teller und schaufelte sich ein Stück darauf. „Für dich auch?"

„Hm, gerne", erwiderte ich.

„Also, meine Lieben, weswegen führt euch Dalora zu mir?"

„Nun, ich ..." Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Mein Blick huschte zu Lilly.

Sie schenkte mir ein Nicken.

„Seit ich siebzehn bin, träume ich jede Woche mindestens einmal den gleichen Traum. Jedes Mal wandle ich durch ein Schloss oder eine Burg. Alles ist dunkel und in ein rötliches Licht getaucht. An den Decken hängen viele Kronleuchter und an den Wänden gibt es viele Bilder, aber ich kann nur eines erkennen. Es zeigt eine blasse, schwarzhaarige Frau in einem schwarzen Kleid mit einem schwarzen Brautschleier und in ihren Händen hält sie eine verwelkte Rose. Danach stehe ich in einem Zimmer, das einen Balkon hat. Auf diesem steht die Frau von dem Gemälde, nur ohne Schleier und sie trägt ein dunkelrotes Kleid. Kurz bevor ich aufwache, dreht sie sich zu mir und sagt meinen Namen. Dann wache ich auf."

Tante Lena nickte. „Aber letzte Nacht war etwas anders."

„Ganz genau. Dieses Mal bin ich nicht auf dem Balkon gelandet, stattdessen bin ich weiter durch das Schloss gelaufen. Auf einmal hörte ich mehrere Stimmen, die durcheinanderriefen und ... Explosionen. Zum Schluss sah ich wieder diese Frau. Sie hat sich etwas gespritzt und folgenden Satz gesagt: Iriva, éro nél. Kurz darauf bin ich wieder aufgewacht."

Abgesehen von dem Ticken der Wanduhr hörte ich nichts, nachdem ich geendet hatte.

Lilly schob sich ein Stück Torte in den Mund, während ihre Tante mich aus unergründlich blauen Augen ansah.

„Möchtest du, dass ich den Satz für dich übersetze?", sprach Tante Lena schließlich.

Darauf schüttelte ich den Kopf. „Meine Schwester hat das schon übernommen."

Tante Lena nahm einen Schluck aus ihrer Tasse. „Doch sie konnte dir nicht die Antwort geben, die du dir erhofft hast, sonst wärst du nicht hier."

Ich schob mir eine Kuchengabel voller Torte in den Mund. „Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist es auch dumm, dass ich mich damit befasse. Träume sind komisch und so ungewöhnlich ist es nicht, den gleichen Traum zu haben. Manche Leute wollen doch diese ... wie heißen die ... Fortsetzungsträume."

„Es ist niemals dumm, sich mit ungewöhnlichen Ereignissen zu befassen." Tante Lena blickte mich voller Mitgefühl an. „Jedoch glaube ich nicht, dass ich dir groß weiterhelfen kann. Der Satz, den du in deinem Traum gehört hast, ist kein Zauberspruch. Zumindest kenne ich keinen mit diesen Worten, aber ich weiß auch nicht mehr alles. Christina oder meine Mutter könnten dir sicherlich weiterhelfen, jedoch werden sie erst in drei Monaten nach Kosan zurückkehren."

Drei Monate. Das werde ich schaffen. „In Ordnung, dann rede ich mit ihnen, sobald sie zurück sind", meinte ich und aß noch einen Bissen Torte.

„Du meintest, dass eine Barriere um Theos Geist gelegt worden sei", sprach Lilly und schob ihren leeren Teller in die Tischmitte. „Warum sollte jemand das tun? Dalora als Art Magie kann doch nicht mehr genutzt werden, oder? Seit Christina und die anderen Lynas die Portale versiegelt haben, entfaltet diese Sprache ihre Magie nicht mehr in unserer Galaxie, oder?"

Tante Lena öffnete den Mund, als ein Miauen erklang. Wenig später trabte eine schwarz-weiß-getupfte Katze ins Zimmer.

„Mikasa, was ist denn los? Haben Sammy und Cleo dich wieder geärgert?" Tante Lena stand auf und hob die Katze hoch.

Das Tier maunzte nur.

„Ja, ich verstehe. Na, komm her." Tante Lena nahm wieder Platz, dieses Mal mit der Katze auf dem Schoss. „Was deine Frage angeht, Lilly, die Sprache entfaltet wieder ihre Magie, seit vor zwanzig Jahren die Portale erneut geöffnet wurden."

„Wirklich? Von wem?" Lilly faltete die Hände zusammen und legte ihren Kopf darauf.

„Das weiß ich nicht, auch die Lynas konnten es nicht herausfinden, aber es ist mit einer der Gründe, weshalb die Akademien gebaut wurden."

Lilly nickte.

Tante Lena streichelte Mikasa, während ich stumm mein Tortenstück aufaß.

Jemand hat eine magische Kunstsprache benutzt, um damit eine Barriere um meinen Geist zu legen, die aber niemand außer einer Kriegsheldin aufheben kann. Klingt doch bestens!

„Vielen Dank für Ihre Zeit, aber ich denke, Lilly und ich sollten jetzt gehen", sprach ich, nachdem ich den letzten Bissen verspeist hatte.

„Selbstverständlich. Kommt gut nach Hause und besucht mich doch bald mal wieder." Tante Lena schenkte mir ein Lächeln.

Lilly und ich standen auf und verließen im Anschluss das Haus.

„So schlimm war das jetzt gar nicht", meinte ich, während wir den Bürgersteig entlangliefen. „Nach dem, was du gesagt hast, dachte ich, dass sie mit irgendwelchen Wahrsagekugeln oder Tarotkarten ankommt, aber das ... Gut, sie wusste, dass wir zu Besuch kommen, aber so ungewöhnlich ist es nicht, wenn ihre Mutter in die Vergangenheit blicken konnte, oder?"

Lilly schwieg und hielt den Kopf gesenkt.

„Lilly?"

Ihr Kopf schnellte nach oben. „Hm, was hast du gesagt?"

„Ist alles in Ordnung? Woran hast du gedacht?"

„An ... ach, egal. Das bringt uns auch nicht weiter." Sie atmete tief durch. „Warum hast du mir nicht schon früher von deinen Träumen erzählt? Oder Henning?"

„Weil es keine große Sache ist", entgegnete ich, als wir gerade eine Straße überquerten.

Kinderlachen drang an meine Ohren und der leichte Duft nach Unbeschwertheit kroch in meine Nase.

Lilly schüttelte energisch den Kopf. „Das stimmt nicht und du weißt das auch. Du hast deinen Blick nicht gesehen, als du davon erzählt hast. Du schienst irgendwie ganz weit weg zu sein und beinahe ... sehnsüchtig."

Ich lachte auf. „Du hast zu viele kitschige Filme gesehen."

Sie zuckte nicht mit der Wimper. „Mag sein, aber das ändert nichts an dem, was ich gesehen habe."

Darauf hob ich die Augenbrauen. „Was du meinst, gesehen zu haben. Das ist ein Unterschied."

„Wenn du das sagst. Es tut mir wirklich leid, ich dachte, meine Tante könnte dir irgendwie helfen, aber scheinbar hat sie nur mehr Fragen zu Tage gefördert als du schon hattest."

Ein Seufzer entwich mir. „Lilly, ich weiß deine Sorge zu schätzen, aber du brauchst daraus kein großes Thema zu machen. Wer weiß, am Ende sind die Träume morgen schon vorbei."

Lilly drehte ihren Kopf zu mir und hob die Augenbrauen. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht, oder?"

Auf ihre Worte blieb ich stumm.


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