Schloss Hyleri
Heute
Theo
Meine Mum wippte mit ihrem Kopf im Takt des Lieds, das durch die Lautsprecher des Autos zu hören war.
Das brachte mich zum Lächeln. „Danke, dass du mit mir zu dem Schloss fährst."
Sie winkte ab. „Gerne und du weißt doch, dass ich mir alte Burgen und Schlösser sehr gerne anschaue. Von daher macht das keine großen Umstände."
Wärme durchströmte mich bei ihren Worten. Auch wenn sie mir manchmal tierisch auf die Nerven geht, kann ich mich nicht über sie beschweren.
In diesem Moment bogen wir in eine Straße ein und am Horizont erkannte ich bereits das Schloss. Mein Herz zog sich leicht zusammen. Was erwartet mich wohl dort? Weitere Visionen? Vielleicht war es doch keine gute Idee, diesen Ausflug mit meiner Mum zu unternehmen. Dad hätte ich gar nicht fragen brauchen und meine Schwestern sind anderweitig beschäftigt. Meine Freunde will ich gerade nicht sehen. Nein, mir blieb nur diese Möglichkeit.
„Weißt du schon, was du dir zuerst ansehen willst?" Meine Mum lenkte das Auto in den Hof.
„Nicht wirklich. Im Foyer wird es bestimmt ein paar Flyer mit den besten Routen geben."
Sie nickte.
Wenig später hielten wir in einer gekennzeichneten Box des Parkplatzes. Meine Mum schaltete den Motor aus und ich schnallte mich ab. Mir wurde flau im Magen, als ich die Tür öffnete und aus dem Auto stieg. Die warme Luft roch nach Wald und ich hörte das leise Murmeln eines Baches.
„Sehr hübsch hier." Mum schloss die Tür und schob den Riemen ihrer dunkelblauen Handtasche näher an ihre Schulter.
Wortlos ließ ich die Tür ebenfalls ins Schloss gleiten.
Nachdem Mum das Auto abgeschlossen hatte, setzten wir uns in Bewegung. Abgesehen von uns war niemand hier unterwegs.
Erleichterung durchfuhr mich. Visionen in Anwesenheit Fremder wären ja mal oberpeinlich.
Wir folgten dem Weg aus großen Steinfliesen bis zu einem gewaltigen Tor, das uns ein silbernes Lächeln schenkte. Zwei Männer standen rechts und links davon, in dunkelrote Uniformen gekleidet. Das flaue Gefühl in meinem Magen verstärkte sich.
„Guten Tag, die Dame und der junge Herr." Der ältere der beiden schenkte uns ein Nicken.
„Guten Tag", erwiderte meine Mum und öffnete ihre Handtasche.
Der jüngere Wächter musterte mich und bewegte die Lippen, doch ich verstand leider kein einziges Wort. Haben sich die Gerüchte jetzt schon so weit verbreitet, dass überall über mich geredet wird? Mach mal halblang, Junge! Warum sollten diese Leute hier wissen, was dich beschäftigt? Vielleicht ist ihm auch einfach nur etwas in deinem Gesicht aufgefallen, oder du siehst jemandem ähnlich, den er kennt. Mal den Teufel nicht an die ...
„Wunderbar. Viel Vergnügen bei der Besichtigung." Der ältere Wächter lächelte und tippte mit den Fingern seiner linken Hand an seine Mütze.
„Dankeschön", entgegnete meine Mum.
Die beiden Wächter drehten sich um neunzig Grad und berührten dann jeweils eine Seite des Tors.
Geräuschlos schwangen diese nach innen. Ein Frösteln jagte meine Wirbelsäule hinab, kaum dass wir über die Schwelle getreten waren.
Ein Kronleuchter hing an der marmornen Decke. Der Klang unserer Schritte wurde von einem Teppich aus sattem Purpur gedämpft. Zehn Frauen in einem schwarz-weißen Kostüm, aus einem Rock und einer Bluse bestehend, standen verteilt in den Ecken des Foyers. Ein Herr in einer marineblauen Uniform saß hinter dem Tresen und schrieb gerade etwas in ein Buch. Zielsicher steuerte Mum diesen an. Meine Hände zitterten leicht. Sofort ballte ich sie zu Fäusten.
Sobald Mum herausfindet, wie es mir geht, wird sie sofort mit mir umkehren. In meinem Zimmer werde ich keine Antworten finden. Wenn wenigstens meine Träume mehr Details offenbart hätten! Wieso bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass sie sich verändern würden, seit ich den Friedhof besucht habe? Ich seufzte.
„Entschuldigen Sie, bitte."
Der Mann am Tresen sah auf. „Was kann ich für Sie tun, gute Frau?"
„Mein Sohn und ich sind nicht sonderlich bewandert mit Schlossbesichtigungen. Gibt es einen Raum, den Sie uns besonders empfehlen könnten?"
Der Mann strich mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand über sein markantes Kinn. „Für Sie, werte Dame, dürfte das Pokalzimmer im zweiten Stock sicherlich für großes Interesse sorgen, während Ihr Sohn sicherlich die Bibliothek ganz angenehm finden wird."
Wieder eine Bibliothek? Hoffentlich sind die Bücher dort nicht genauso aufgebaut wie diejenigen in der Stadtbücherei. Im Netz konnte ich auch nichts dazu finden und meine Bücher zuhause sind alle mit beschriebenen Seiten gefüllt.
Meine Mum nickte und wandte sich mir zu. „Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier."
Daraufhin nickte ich. „Viel Spaß."
Sie lächelte und schritt dann zu der Treppe.
Ok, keine Panik, Theo. Wir schaffen das. Alles wird gut.
So langsam wie möglich ging ich die Treppenstufen hinauf. Gemälde zierten die Wände rechts und links der Treppe. Eines zeigte einen Wasserfall in einer blühenden Landschaft. Auf einem anderen war das Porträt einer jungen Frau abgebildet, die in ihrer Hand einen Silberpflock hielt. Mir stockte der Atem und mein Herz setzte einen Schlag aus. Christina Voll? Was macht ein Gemälde von ihr in diesem Schloss? Eigentlich sollte ich mich daran gewöhnt haben, dass mir keine Antworten geliefert werden, aber es kann doch nicht zu viel verlangt sein, endlich Informationen zu bekommen, die keine weiteren Fragen aufwerfen.
Schließlich kam ich im ersten Stock an. Ein Pfeil mit der Aufschrift Bibliothek verwies in den linken Gang. Niemand verweilte sonst hier. Alle Türen, die ich passierte, winkten mir mit einem schwarzen Gesicht zu, dessen Mund silbern war.
Da erreichte ich eine große Holztür, die mich mit einem roten Lächeln begrüßte. Ein kleines rotgoldenes Schild an der linken Seite teilte mir mit, dass hinter ihr die Bibliothek zu finden war. Also schön. Mal sehen, was ich hier finden werde. Nachdem ich tief Luft geholt hatte, öffnete ich die Tür und trat über die Schwelle.
Das Gefühl der Vertrautheit kroch in meine Glieder. Gewisper umkreiste mich. Der Geruch nach Holz, Pergament und Büchern streichelte mich. Regale, randgefüllt mit Büchern standen in fünf Reihen, soweit ich sehen konnte. Behutsam schloss ich die Tür. Das Gewisper nahm zu, als ich zu einem Regal trat. Was ist hier nur los?
Meine Hand zitterte, als ich meinen Arm ausstreckte und ein Buch in einem dunkelblauen Einband aus dem Regal holte. Meine Muskeln spannten sich an, während ich den Arm wieder zurückzog. Nichts geschah. Keine Bilder, die vor mir aufblitzten.
Gedichte des letzten Jahrhunderts stand in schwarzen Lettern auf dem Cover. Lyrik ist eigentlich nicht so meins, aber wer weiß? Vielleicht weckt das irgendwelche Erinnerungen, oder gibt eine Starthilfe für meine Visionen.
Mein Herz schlug schneller, als ich das Buch aufschlug. Adamira sei Dank, auf dieser Seite steht etwas.
Während ich ein paar Seiten umblätterte, ging ich zu einem der großen Fenster und lehnte mich dort an die Wand. Liebesgedichte, Gedichte für Alltagssituationen, Gedichte, um langweilige Konversationen aufzulockern ... Wusste gar nicht, dass es auch solche gibt. Oh, Träne der Zeit. Der Titel kommt mir irgendwie bekannt vor, doch ich weiß nicht, warum. Vielleicht fällt es mir beim Lesen wieder ein.
Mit leicht zitternden Händen blätterte ich zu der entsprechenden Seite. Dann begann ich zu lesen.
Träne der Zeit. Gibt dem Zeit, der sie nicht hat und nimmt sie dem, der sie hat. Kummer, Reue, Schmerz und Pein. Sind diese Gefühle all dein, so beweine den, der dies in dir erweckt und entscheide rasch, zu was du ihn werden lässt. Trink und sei verdammt zur Jagd. Atme und sei verdammt zu Wissen, all dies vermag die Träne. Ein Seufzer entwich mir. Nö, sagt mir immer noch nichts. Möglicherweise haben wir in der Schule mal ein ähnliches gelesen.
In dem Moment, in dem ich die Seite umblätterte, bemerkte ich, dass das Gewisper verstummt war. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Eine Gänsehaut jagte meine Wirbelsäule hinab. Wie in Zeitlupe drehte ich mich um und machte einen Satz nach hinten.
Henning grinste. „Hab ich dich erschreckt?"
„Was soll der Mist? Hör zu, ich will bis auf Weiteres erstmal nichts mehr mit dir zu tun haben. Dachte eigentlich, dass ich das deutlich gemacht hätte, da ich mich nicht mehr bei dir gemeldet habe", sprach ich und straffte die Schultern.
Er schüttelte leicht den Kopf. „Hast du wirklich geglaubt, dass ich das nicht wusste? Mir war das in dem Moment klar, in dem ich meinen Plan schmiedete."
„Welchen Plan?" Elende Neugier! So gewinnen wir gar nichts!
„Wieso sollte ich dir das verraten, wenn es mich doch amüsiert, dich verzweifelt zu sehen?" Henning legte die Hände auf sein Herz. „Oh, ich träume ständig von einer wildfremden Person und muss sie unbedingt finden, auch wenn ich den Grund nicht kenne. Mir werden nur Hinweise gegeben und ich bin total verwirrt, ich armer, armer Junge." Mein ehemaliger Freund wischte sich imaginäre Tränen von seinen Wangen. Dann kehrte das Grinsen zurück. „Hör auf so zu tun, als seist du hier das Opfer. Du hast dich bewusst für diesen Weg entschieden. Sara und ich hatten dir einen anderen aufgezeigt, aber nein, der ehrenhafte Theo wollte nicht auf uns hören."
Mein Herz raste. „Was faselst du da? Ich kenne keine Sara und warum sollte ich bitte diese Verwirrung gewählt haben? Das ergibt doch keinen Sinn."
„Ganz genau! Es widerspricht jeder Logik und dennoch hast du sie gewählt. Die Verwirrung, deine Träume, die Tatsache, dass du an dir selbst zweifelst und beinahe den Verstand verlierst." Henning machte einen Schritt auf mich zu.
Sofort trat ich zurück.
„Du hast Angst vor mir, das ist absolut verständlich, aber du fürchtest dich noch nicht genug. Nicht ich bin derjenige, der für dein Schlamassel verantwortlich ist, oh nein."
Mein Herzschlag beschleunigte sich. „Wer dann?" Abermals ging ich ein paar Meter nach hinten.
„Hm, ich denke, dass du noch warten musst, bis du diese Antwort erhältst." Henning hob die Hand und erst da sah ich das Messer. Scheiße! Was jetzt? Ruhig, ganz ruhig. Vielleicht können wir ihn irgendwie aufhalten. Mit einem Buch, klar!
„Hör zu, ich hab keine Ahnung, was du vorhast, oder weshalb du auf einmal eine solche Kehrtwendung hinlegst, aber bitte, leg das Messer weg."
Henning feixte. „Du und deine Freunde haben Sara einen Strich durch die Rechnung gemacht, doch das ändere ich jetzt. Blut für Blut, nicht wahr?" Er hob seine Hand.
Die Klinge des Messers blitzte auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
„Theo!", schrie jemand in meinem Kopf.
Linvay?
Die Klinge des Messers stieß nach vorne. Ein scharfer Schmerz breitete sich in meiner linken Brust aus. Meine Beine knickten unter mir ein. Den Aufprall spürte ich nicht. Schatten tanzten vor meinen Augen.
„Weg von ihm!" Chris ... Christina Voll?
Ein Knurren. Dann ein Geräusch, als würde Glas zerspringen. Die Schatten verdichteten sich.
„Theo, halte durch. Bitte. Ria und Marie würden mir das nie verzeihen." Ria? Marie? Was?
Etwas Warmes berührte meine rechte Schulter. „Silber. Das ..."
Tiefschwarze Gewässer zogen mich hinab.
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