Missbraucht
Heute
Theo
Warme Hände streichelten mein Gesicht. „Theo, alles in Ordnung? Geht es dir gut?" Die Sorge in Maries Stimme gefiel mir ganz und gar nicht.
„Was? Ja, alles so weit in Ordnung. Kein Problem."
Meine Schwester runzelte die Stirn. „Irgendwie glaube ich dir das nicht. Du siehst ... anders aus." Anders? Was meint sie damit? Hier muss es doch irgendwo Spiegel geben. Nein, ich habe eine bessere Idee. Sie wird mir bestimmt sagen, weshalb ich anders aussehe.
„Hör zu, es geht mir gut, ich hab einfach nur eine kurze Pause gemacht und dabei die Zeit vergessen. Mehr war nicht", sprach ich. Was bei Adamira? Das wollte ich gar nicht ... Olléchin! Verdammter Mistkerl!
„Schön, wie du meinst. Soll ich dir aufhelfen?" Marie hielt mir die Hand hin.
Es wäre sehr nett, wenn ... Natürlich nicht. Gefangen in meinem Körper, bis die Wirkung des Zaubers abgeklungen ist und bis dahin dazu verdammt sein, nur zuzuschauen, aber nicht zu kontrollieren, was geschieht. Na, toll!
„Wie sieht es eigentlich mit dem Plan aus, den ihr zuvor geschmiedet habt?", sprach mein Körper.
„Ria hat eine gute Lösung dafür gefunden, wohin wir die Schattègî schicken können und Lisa durchstöbert die Bibliothek nach allem, was uns dabei hilft, sie so lange wie möglich in Schach zu halten. Kannst du dich an irgendwelche Zauber erinnern?"
Mein Körper schüttelte den Kopf. „Bisher nicht, aber ich bin sehr optimistisch, dass die Erinnerungen bald wieder zurückgekehrt sind. Warte, da fällt mir ein ... Warum bittet ihr Ántirchis nicht um Hilfe? Sie sollte die Sprache doch ziemlich gut beherrschen."
Marie blinzelte. Einmal, zweimal. Merkt sie, dass ich das nicht bin? Bitte, Schwesterherz, du kennst mich doch. So etwas würde ich niemals auf diese Weise formulieren. Das weißt du, nicht wahr?
„Ein guter Gedanke und ich werde dem nachgehen. Was hast du jetzt vor?"
Ich spürte, wie sich die Mundwinkel meines Körpers nach oben bewegten. „Das Schloss weiter erkunden. Laut Ántirchis gibt es in dem Keller alte Relikte aus vergangenen Zeiten und die wollte ich mir ansehen."
Marie nickte. „Dann viel Spaß. Wir rufen dich, sobald wir deine Hilfe brauchen." Sie drehte sich um und ging.
Verdammt, das mit den alten Relikten klingt wirklich nach mir. Wie macht dieser Olléchin das nur? Oh, wir bewegen uns.
Mein Körper verließ die Bibliothek und spazierte gemächlich zum Treppenhaus. Dabei summte er ein Lied vor sich hin. Ernsthaft? Dann auch noch Das Opalfeuer? Es muss zehn Jahre her sein, seit ich dieses Lied zuletzt gesungen habe.
Im Erdgeschoss angekommen, wandte mein Körper sich nach links und blieb vor einer schwarzen Tür stehen.
In diesem Moment erklangen Schritte von rechts. Kein Herzschlag. Ein Vampir. Nein, eine Vampirin.
„Sie möchten den Keller besichtigen?" Die Vampirin blieb vor meinem Körper stehen.
„Das hatte ich vor."
Sie nickte. „Wir können Sie selbstverständlich nicht daran hindern, aber hier sind die Aufräumarbeiten noch nicht ganz abgeschlossen. Wenn Sie möchten, können wir uns umgehend darum kümmern. Warten Sie kurz hier, dann ..."
„Machen Sie sich bitte meinetwegen keine Umstände. Chaos schreckt mich nicht ab, ich bin mit drei älteren Schwestern aufgewachsen."
Die Vampirin lächelte. „Verstehe. Nun, dann wünsche ich Ihnen viel Spaß. Ach, eine Sache noch: Einen Raum werden Sie nicht betreten können. Allein die Erbin kann die Tür zu jenem öffnen, aber ich kann mir sowieso nicht vorstellen, dass dieser für Sie interessant sein dürfte. Weshalb sollten Sie sich einen silbernen Käfig ansehen wollen?"
Ein Zucken durchfuhr meinen Körper. Aha! Dahin wollten wir. Tut mir ja fast schon leid, dass es nicht klappt. Gut, nein, das wäre gelogen. Was machst du nun, Olléchin, hm?
„Vielen Dank für den Hinweis."
„Gerne." Die Vampirin verbeugte sich, ehe sie in einer kurzen Reverenz versank und dann ging.
Mein Körper streckte die Hand aus und legte sie auf die schwarze Tür. Augenblicklich schwang diese nach innen.
Ein langer Gang dahinter mit Fackeln an den Wänden. Auch dieser Teil des Schlosses kommt mir sehr vertraut vor. Warum nur? War ich in meiner Kindheit einmal hier? Kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern mich in den Keller eines Schlosses geschickt hätten.
Mein Körper folgte dem Gang, bis er zu einer Treppe gelangte, die in einer Spirale nach unten führte. Angenehm kühle Luft strich über meine Hände und ein wohliger Seufzer entwich meiner Kehle. Schließlich war mein Körper unten angelangt und blieb dann stehen.
Wie genau sieht dein Plan aus, Olléchin? Was wolltest du in jenem Raum tun? Mich in dem Käfig einsperren und mir dann die Kontrolle zurückgeben? Was hättest du davon? Nicht viel.
In diesem Moment setzte mein Körper sich wieder in Bewegung.
Auch hier hängen Fackeln an den Wänden. Ah, wir entscheiden uns für den rechten Gang.
Staubkörner tanzten in dem Schein der Fackeln über den Boden. Abgesehen von dem Knistern der Flammen drangen keine Geräusche an meine Ohren und meine Nase nahm auch keine Düfte anderer Personen wahr. Da erschienen drei Türen am Ende des Ganges. Sie schenkten mir alle ein dunkles Lächeln. Mein Körper entschied sich für die mittlere Tür und drückte sie auf. Knarrend schwang sie nach innen.
Sofort huschten ein paar Ratten davon und alles wurde in lila Töne getaucht. Ah, die Nachtsicht meiner vampirischen Augen. Wirklich nützlich diese Fertigkeit.
Mein Körper steuerte die Mitte des Raumes an und setzte sich dann. Die Feuchtigkeit des Raums drang in meine Jeans. Gut, die werde ich nachher waschen müssen. Was machen wir hier?
In diesem Moment schnappte meine Nase abermals den Duft nach Pfefferminze und der See auf.
Olléchin näherte sich meinem Körper von links. „Sehr gut gemacht, mein Freund. Eigentlich dachte ich, dass wir das Ritual drüben in der ehemaligen Folterkammer vollziehen könnten, aber hier wird es auch gehen. Vorher jedoch ... werde ich dich mit all dem Wissen versorgen, das dir verlorengegangen ist. All deine Fragen werden ausgelöscht sein." Er grinste. „Wie befreiend das sein muss, meinst du nicht auch?"
Mistkerl! Er weiß ganz genau, dass mein Körper ihm nicht das antworten wird, was ich eigentlich von mir geben möchte. Wann lässt die Wirkung des Zaubers nach? Natürlich weiß ich das auch nicht, wie passend!
„Schön, dann lass uns anfangen." Kaum waren diese Worte verklungen, als Olléchin die Hände auf meine Wangen legte.
Trotz der Wärme seiner Haut wallte Ekel in mir auf. Mit aller Kraft wehrte ich mich gegen diese Berührung, doch mein Körper gehorchte mir nicht.
Olléchins braune Augen schienen mich direkt anzusehen. Mich, eingesperrt in diesem Körper, in dem ich zwar wohnte, der mir aber nicht gehorchte.
„Du kannst die Augen schließen, wenn du magst. Dann wird es etwas intimer."
„Später vielleicht, mein Herr." Was zum ... Oh, nein. Nein, nein, nein. Bitte nicht das! Verschone mich!
Olléchin lehnte seine Stirn an die meines Körpers und streichelte sanft meine Wangen.
Lass mich los, du Bastard! Lass! Mich! Los!
„Hm, eigentlich ... Warum genieße ich die Zeit nicht noch etwas mit dir, ehe ich dir deine Erinnerungen zurückgebe? Mir würde es ja besser gefallen, wenn du, Theo, zu mir sprechen würdest, aber so ... Hat es durchaus seinen Reiz." Olléchin strich mit einem langen Finger den Hals meines Körpers hinab, bis zum Schlüsselbein.
Die Schultern meines Körpers entspannten sich. Was zum ...? Stehe ich eigentlich auch auf Männer? Oder liegt das immer noch an dem Zauber? Letzteres. Bin mir ziemlich sicher, dass es letzteres ist.
Olléchin nahm das Gesicht meines Körpers in seine Hände. „So sehr ich Linvay auch verachte, ich kann sie durchaus verstehen. Du bist so heiß, dass ich aufpassen muss, mich nicht zu verbrennen." Igitt! Bring es doch einfach hinter dich. Los doch!
„Welch ein Jammer, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Dann werde ich jede Sekunde einfach auskosten." Diese Worte verklangen noch, als er sich nach vorne beugte und seine Lippen auf die meines Körpers drückte.
Danke! Jetzt muss ich ihn zumindest nicht sehen. Aber ich spüre ihn noch. Seine Lippen. Ist das ... Seine Zunge? Ekelhaft! Warum unternimmt mein Körper nichts dagegen? Er ... genießt es sogar. Er lehnt sich an und öffnet den Mund.
Schließlich lösten sich Olléchins Hände von den Wangen meines Körpers.
Dieser öffnete wieder die Augen.
„Wie versprochen, schenke ich dir jetzt deine Erinnerungen und dann werden wir gemeinsam die Salinara beschwören."
Mit dem nächsten Wimpernschlag flutete eine derart gewaltige Welle an Bilder meine Augen, dass ich den Impuls verspürte, mich zu Boden zu werfen. Immer schneller tanzten sie im Kreis um mich herum und dann ordneten sie sich an. Geräusche gesellten sich hinzu, bis sie wie kleine Filme vor mir abliefen.
Erleichterung durchfuhr mich, gleichzeitig wuchs der Ekel. Mistkerl! Wie soll ich das Lisa, Marie und Ria nur erklären? Werden sie mir überhaupt glauben? Bestimmt, oder?
Olléchin lächelte mich an und schnupperte dann. „Ja, ganz deutlich. Der Duft der Erkenntnis umgibt dich wie eine Aura. Wundervoll. Dann lass uns die Schwestern rufen und danach hebe ich den Zauber auf. Du hast mein Wort."
Natürlich bekomme ich dann erst die Kontrolle wieder zurück, du Bastard! Na, warte nur! Du hast keine Ahnung, was ich dann tun werde! Dank meiner Erinnerungen bin ich auch zu mehr in der Lage, als du ahnst!
Olléchin sank auf die Knie und zog ein Stück Kohle aus seiner Jackentasche. Damit zeichnete er einen Würfel auf den Boden, fügte aber keine Augen hinzu.
Ein blattloser Baum, ein Spinnrad, eine Schriftrolle. Damit lassen sich alle Schwestern beschwören. Verdammt! Lisa, Marie, Ria! Hört mich jemand!
Nichts. Kein Summen.
Olléchin stellte eine Kerze neben die Zeichnung und malte dann einen Kreis, in dem mein Körper saß. Im Anschluss holte er ein Feuerzeug heraus und zündete die Kerze an.
„So, streck nun bitte deine Hand aus, mein Freund. Keine Sorge, es wird nicht weh tun."
Mein Körper gehorchte.
Olléchin verstaute das Feuerzeug wieder und zog stattdessen ein Messer. Mit der Klinge strich er einmal kurz über die Handinnenfläche meines Körpers. Blut quoll heraus. Merkwürdig. Hat er das Messer zuvor in eine Tinktur getaucht?
Olléchin drehte sich nun wieder zu der Kerze und ließ einen Tropfen meines Bluts in die Flammen fallen. Es zischte. „Wollen wir gemeinsam die Worte sprechen?" Nein! Niemals! Am Liebsten würde ich die Kerze umstoßen und deine wunderhübsche Zeichnung verschmieren!
„Nichts würde mich glücklicher machen", raunte mein Körper. Dann auch noch dieser Unterton! So unterwürfig! Ekelhaft!
Olléchin lächelte. Abermals nahm er die Hände meines Körpers. „Sprich mir nach: Oh, Kennerinnen meines Herzenswunsches!"
Mein Körper wiederholte die Worte.
„Oh, Kennerinnen meiner größten Angst!"
Auch diese Worte gab mein Körper wieder.
„Kommt zu mir und offenbart mir, was ich in der tiefsten Ecke meiner Seele zu verbergen suche." Wer hat sich diese Beschwörungsformel ausgedacht? Klingt irgendwie nicht besonders mystisch.
Die Flamme der Kerze flackerte und einen Moment später umgab ein Feuerring Olléchin und meinen Körper.
Eine Weile geschah nichts, dann erschienen wie aus dem Nichts sechs Frauen in dem Kreis.
„Theo! Es ist lange her, nicht wahr?", sprach diejenige in dem blutroten Kleid und dem wallenden, schwarzen Haar. Hyliva.
„Scheiße", hauchte ich.
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