In der Bibliothek
Heute
Theo
Lilly warf mir immer wieder einen Blick zu, während wir die belebten Straßen entlangliefen.
„Wenn du mich noch öfter so anschaust, fragen sich die Leute, was los ist", meinte ich.
„Tut mir leid. Ich dachte nur ... Vielleicht möchtest du darüber reden."
Ein Seufzer entwich mir, doch ich blieb nicht stehen. „Darum kümmere ich mich später. Lass uns bitte erst in der Bibliothek nachsehen, ob wir etwas finden, in Ordnung? Danach lasse ich mich gerne mit dir auf ein emotionales Gespräch ein."
Lilly schüttelte den Kopf. „Darüber solltest du keine Witze machen. Du willst mir doch nicht allen Ernstes weißmachen, dass du alles, was Henning dir gesagt hat, mit einem Schulterzucken abtun kannst, oder?"
Darauf gab ich keine Antwort.
Wir überquerten eine Straße und bogen in eine schmale Gasse ein. Die weiße Fassade des dreistöckigen Gebäudes hob meine Mundwinkel.
Die vertraute Ruhe der Bibliothek hüllte mich ein, kaum dass ich über die Schwelle getreten war. Drei Männer standen an dem Tresen und gaben gerade Bücher zurück.
Lilly schloss zu mir auf. „Die Bücher zur Wappenkunde werden vermutlich im ersten Stock stehen", flüsterte sie.
„Danke für diesen hilfreichen Kommentar", raunte ich.
Sie schluckte und blieb stehen.
Dessen ungeachtet, lief ich zu der Spiraltreppe.
Mit jeder knarzenden Stufe schlug mein Herz etwas schneller. Der Geruch nach frisch gedruckten Büchern begrüßte mich, ebenso der Duft nach Kaffee und Holz, kaum dass ich oben angekommen war. Mein Herzschlag beruhigte sich und ich ging zu der großen Tafel an der linken Seite, kaum dass ich im ersten Stock angekommen war. Die Lettern in der schwarzen Schrift teilten mir mit, dass ich in Regalreihe 43 fündig werden würde. Also schön.
Hätte ich mich Lilly doch anvertrauen sollen? Woher will ich denn wissen, dass sie tatsächlich einen falschen Namen benutzt? Henning ist gerade nicht die verlässlichste Quelle, aber sie schien nicht irritiert, als er das enthüllte. Damit kann ich mich später befassen. Reihe 41, 42, 43, wunderbar!
Niemand sonst verweilte bei diesem Regal.
„Historische Aufzählung der Wappen der letzten Königshäuser. Wappen der bekannten Adelshäuser. Wappen der größten Dynastien. Herr je, ich weiß doch nicht einmal, zu welcher Art Haus das Wappen gehört", murmelte ich, während ich die Titel besah.
Nach einer Weile entdeckte ich schließlich ein Buch, in dem sämtliche Wappen verzeichnet worden waren. Damit sollte ich anfangen.
Kaum, dass ich das Buch herausgezogen hatte, gaben meine Knie leicht nach. Hupps! Wiegt wohl mehr als gedacht. Wir schaffen das.
Mit dem Fund in beiden Händen richtete ich mich wieder auf. Ein Lesetisch aus Eichenholz wenige Schritte rechts von mir war unbesetzt. Staub wirbelte auf, als ich das Buch dort ablegte. Das Husten verkniff ich mir. Der gepolsterte Stuhl quietschte ein wenig, während ich ihn nach hinten schob.
Wann sind diese Möbel zuletzt genutzt worden? Keine Ablenkung! Vergiss nicht, warum du hier bist!
Meine Hände schwitzten etwas. Langsam klappte ich das Buch auf. Mir starrte eine leere Seite entgegen. Was zum ... Vielleicht ein Fehler beim Drucken?
Doch auch auf den nächsten Seite erwartete mich nichts als Leere. Merkwürdig. Bitte, lass das nicht auch irgendwie mit dieser Barriere um meinen Geist zusammenhängen. Die Blöße kann ich nicht gebrauchen, wenn ich jetzt eine Bibliothekarin frage, weshalb auf diesen Seiten nichts steht. Was nun? Lilly um Rat bitten? Nein, sie hat mich angelogen, warum sollte ich dir dann weiterhin vertrauen? Es muss nicht stimmten, was du erfahren hast. Aber, was wenn doch?
Mit einem Kopfschütteln verjagte ich diese Gedanken. Wenn ich nur in dieser gedanklichen Sackgasse verweilte, würde ich niemals Fortschritte erzielen.
Mit meiner rechten Hand fuhr ich über die Seite des Buchs. Goldenes Licht flutete sie. Ich zuckte zusammen und zog meine Hand zurück. Augenblicklich verschwand das Licht. Was bei Adamira war das denn?
Abermals berührte ich die Seite. Wieder das Licht. Die Seite erwärmte sich und dann spürte ich, wie mich etwas nach vorne riss. Instinktiv schloss ich die Augen und bereitete mich auf den Aufprall vor, doch er kam nicht.
Als ich die Augen wieder öffnete, fand ich mich in einem riesigen Saal wieder, in dem unzählige Stühle in einen Halbkreis angeordnet waren und zum Zentrum des Raums zeigten. Dort stand ein weißer Tisch. Hinter ihm ein älterer Mann. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, so dass ich erst einmal schlucken musste.
„Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, wie ich hierher gekommen bin?", sprach ich und näherte mich ihm.
„Sie möchten also etwas über die bekannten Wappen wissen." Der Mann schenkte mir ein sanftes Lächeln.
„Ja, das stimmt, aber ..."
„Nun, dabei kann ich Ihnen behilflich sein. Zu welchem genau wollen sie mehr Informationen?" Kaum waren diese Worte verklungen, als auf dem Tisch ein Blatt Papier mit der Zeichnung mehrerer Wappen erschien. Mir stockte der Atem.
„Wie ... Wie haben Sie das gemacht?", hauchte ich und trat näher.
Mein Gegenüber antwortete nicht.
Fünfzig Wappen blickten mir in fünf Reihen entgegen. Das nicht, das hier auch nicht ... Gibt es meines überhaupt nicht? Ha, da ist es! Lächelnd deutete ich auf das vierte Wappen von rechts in der dritten Reihe.
Mein Gegenüber nickte. „Das Wappen der Sehnsucht. Die Herzogsfamilie Drachenfels benutzte es seit dem Jahre 200 Vor dem Großen Galaktischen Krieg. Doch leider starb diese Dynastie vor zwanzig Jahren aus, als die letzte Nachfahrin Linvay Rabenfeder das Zeitliche segnete. Wenn Sie mehr über die Herzogsfamilie erfahren möchten, empfehle ich Ihnen das Buch Aufstieg und Fall der Drachenfels-Familie oder Geheimnisse und Rätsel des Wappens der Sehnsucht. Eine Abhandlung über die Drachenfels-Familie. Möchten Sie weitere Details zu dem Wappen erfahren, warten Sie einfach einen Moment."
Da ich keine Ahnung habe, wie ich hier wieder herauskomme, werde ich wohl bleiben müssen.
Eine Weile später verschwand das Blatt mit den Zeichnungen. Der Tisch löste sich auf und ein Blubbern drang an meine Ohren.
Sofort fuhr ich herum. Die Wände sowie die ganzen Stühle zerflossen, wie die Wasserfarben eines frisch erstellen Gemäldes, das in eine Pfütze gefallen war. Mein Herz schlug schneller. Das Blubbern kam näher. Nässe streifte meine Schuhe. Der ältere Mann rührte sich nicht von der Stelle. Verdammt, wie komme ich hier raus?
Von den Wänden war nicht mehr übrig als eine verschwommene Masse. Da breitete sich ein Ziehen in meiner Magengegend aus und ich bekam einen Schubs von hinten. Wie von selbst schossen meine Arme nach vorne, doch ich fing mich im letzten Moment.
Vogelgezwitscher tanzte um mich herum. Sonnenstrahlen küssten mein Gesicht und ich schnappte den Geruch nach frisch gemähtem Gras auf.
Der gleiche Mann wie vorhin stand vor mir bei einer Buche. „Das Wappen der Sehnsucht. Eine traurige Geschichte umgibt es, doch wenn Sie das aufhalten würde, wären Sie nicht hier, oder?" Ernsthaft jetzt?
„Kleiner Scherz am Rande, tut mir ja leid."
„Genau und ich stamme in Wahrheit von einem anderen Planeten! Können Sie bitte fortfahren? Meine Zeit ist begrenzt", entgegnete ich und ballte die Fäuste. Atme, Theo. Einfach atmen. Er kann nichts für deine Situation.
„Wie Sie wünschen. Dieses Wappen besteht, wie bekannt sein dürfte, aus einer schwarzen Rose, einer nach dem Betrachter greifende Hand, einem schwarzen Schleier und einer weißen Eule. Diese vier Symbole befinden sich in den jeweiligen Ecken des Wappens, dessen Grund in hellblauer Farbe gehalten ist. Es fand zuerst im Jahre 300 Vor dem Großen Galaktischen Krieg Verwendung, als König Theodor IV. einen Brief an seine Geliebte, die Herzogin Pingûra von Thymalìv schrieb. Theodor starb in dem damaligen Krieg und seitdem taucht das Wappen nur in besonders schweren oder traurigen Schicksalsschlägen auf. Manche Leute munkelten sogar, dass dieses Wappen ein Omen des Todes sei, doch letztlich steht es nur für eine überaus starke Sehnsucht, wie der Name schon verrät und ein Geheimnis, das die Welt des Betroffenen für immer auf den Kopf stellen wird."
Ein Ziehen breitete sich in meiner Magengegend aus. Toll! Noch mehr Wahnsinn? Darauf kann ich gut und gerne verzichten.
Der Mann breitete seine Arme aus. „Wenn Sie sich das Wappen einmal in Ruhe anschauen möchten, sollten Sie Schloss Hyleri einen Besuch abstatten, doch ich muss Sie warnen. Für jemanden, dessen Geist zerrüttet ist, wird das Schloss großen Schmerz, aber auch Befreiung bereithalten." Bitte was?
„Was soll das bedeuten? Woher weiß ich, wann mein Geist ..."
Der Mann verbeugte sich vor mir. „Danke, dass Sie mehr über das Wappen in Erfahrung bringen wollten. Um zur Auswahl zurückzukehren, klatschen Sie einmal kurz. Wenn Sie zurück in die Realität kehren wollen, gehen Sie durch die Tür, die gerade hinter Ihnen erschienen ist. Einen schönen Tag noch."
Trotz der lauwarmen Luft meiner Umgebung, fröstelte ich, als ich mich umdrehte. Tatsächlich. Eine dunkelgrüne Tür stand zwischen zwei Birken. Ich rannte los. Abermals glaubte ich, nach vorne gerissen zu werden. Meine Kehle verengte sich und ich hielt die Luft an. Schwärze trieb auf mich zu. Für ein Blinzeln nahm ich nichts anders wahr als den Druck meiner Kehle.
Dann jedoch spürte ich wieder das kratzige Polster unter mir und die vertrauten Regale der Bibliothek standen links von mir. Erleichterung durchfuhr mich und ich atmete tief ein. In diesem Moment erklangen Schritte. Sie näherten sich. Lilly. Meine Muskeln spannten sich an.
„Theo?" Das Kratzen in ihrer Stimme weckte Sorge in mir, wofür ich mir gedanklich eine Ohrfeige verpasste. Etwas Warmes berührte meine rechte Schulter.
„Was willst du?", sprach ich und wandte mich ihr zu.
Tränen schimmerten in ihren dunklen Augen. „Können wir bitte reden? Du musst mir glauben, was ich getan habe ... Mein Schweigen ... Die Lügen ... All das diente nur zu deinem Schutz."
„Klar." Nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, stand ich auf und brachte es in das Regal zurück.
Lilly folgte mir. „Hör zu, ich weiß, dass du mir gerade nicht glauben kannst. Das verstehe ich auch, aber bitte, gib mir eine Chance. Es käme mir nie in den Sinn, dir ... absichtlich weh zu tun."
„Ach und indem du mich belügst, dachtest du, mich beschützen zu können", zischte ich und lief zu der Treppe.
Lilly packte meinen Arm, doch ich riss mich los. „In mir brodelt etwas und ich weiß nicht, wie lange ich noch dagegen ankämpfen kann", rief sie.
Das Ehepaar links von mir hob die Köpfe.
Ein Knurren entwich mir, doch ich drehte mich wieder zu Lilly um. „Scheinbar habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt: Meine Träume, das ganze rätselhafte Verhalten und die Tatsache, dass ich immer wieder nur Hinweise bekomme, die noch mehr Fragen aufwerfen, das alles beschäftigt mich ziemlich. Mein ganzes Leben hat eine Kehrtwende hingelegt und jetzt verlangst du allen Ernstes von mir, dass ich dir bei deinem Problem helfe?"
Lilly schniefte. Sie fuhr mit dem Ärmel ihrer Jeansjacke über ihre Wangen. „Wir sind doch Freunde."
„Freunde lügen nicht", raunte ich.
Dann wandte ich mich ab und lief die Treppe hinab. Mit jedem Schritt fühlte es sich so an, als würde sich etwas aus meinem Herzen verabschieden, bis nur noch ein großes Loch zurückblieb. Danke für nichts, Schicksal!
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