Gewebt ins Blut

Heute

Theo

Christina lief vor meinem Käfig auf und ab, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.

„Ähm, soll ich den Rest meines Lebens hier eingesperrt bleiben?", sprach ich.

Sofort blieb sie stehen und schenkte mir ein Lächeln. „Natürlich nicht."

Anschließend zog sie aus ihrer Hosentasche einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Es klickte, als sie den Schlüssel herumdrehte und dann sprang die Tür auf.

„Dankeschön."

Christina verstaute den Schlüssel wieder in ihrer Hosentasche. „Gerne. Möchtest du mir erzählen, was du erfahren hast?" Woher weiß sie das? Hat sie das in meinen ... Nein, das ergibt keinen Sinn. Verstehe, wer will.

„Deine Gedanken haben mir nichts mitgeteilt, aber ich konnte Linvays Stimme in deinem Kopf hören, kurz bevor du ohnmächtig geworden bist und dann ..."

Ich erstarrte. „Moment mal, soll das heißen, dass Linvay mich in dieses Dazwischen gebracht hat?"

Christina nickte.

„Aber wie hat sie das gemacht? Sie war doch nicht ... Hätte ich es nicht gemerkt, wenn sie ..." Kopfschüttelnd machte ich ein paar Schritte und ließ mich dann auf einem Stuhl nieder.

Christina seufzte und ging zu mir. „Glaube mir, ich würde dir zu gerne helfen, aber ich kann nicht."

Sie legte eine Hand auf meine Schulter und in diesem Moment fühlte ich mich, als würde ich Achterbahn fahren. Rechts und links von mir huschten Bilder vorbei, chemische Formeln tauchten auf und dann kristallisierten sich ein paar Worte so deutlich vor meinen Augen, als hätte meine Mum sie mit ihrem Lieblingsstift in Großbuchstaben in ein Heft geschrieben. Mit dem nächsten Herzschlag verblassten die Bilder und ich blickte in Christinas dunkelblaue Augen.

„Alles in Ordnung?" Sie drückte meine Schulter. Wie zum Henker soll ich ihr erklären, was gerade passiert ist? Wobei ... Sie dürfte das doch wissen, immerhin befindet es sich in ihrem Blut. Wieso weiß ich das? Was geschieht hier gerade?

Mein Herz schlug schneller. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn.

„Schon gut, alles gut." Christina nahm ihre Hand von meiner Schulter und kniete vor mir nieder. „Was hast du gesehen?"

„Bilder, Formeln aus der Chemie und ... einen Fluch."

Mein Gegenüber schmunzelte. Ok, das ist seltsam. Meine Reaktion sähe deutlich anders aus, wenn mir jemand sagen würde, dass ich mit einem Fluch belegt wurde.

„Kennst du die Worte des Fluchs?"

„Wen du schreibst, wird real. Was du willst, wird sich erfüllen. Wonach du dich sehnst, das wird zu dir kommen. Verlangen und Angst, alles wird Wirklichkeit", wisperte ich.

Christina erhob sich und ging zu der Holztür, die in den Raum führte. „Wohin gehen Sie?"

Sie wandte sich mir zu. „Du darfst mich ruhig duzen, weißt du und um deine Frage zu beantworten, ich hole dir ein Glas Wasser. Zudem wartet deine Mutter sehnsüchtig darauf, wieder mit dir zu reden."

Mum! Verdammt, ich habe sie komplett vergessen. Was stimmt nicht mit mir? Geht es ihr gut? Was hat sie mitbekommen? Wo ...

„Gedulde dich noch etwas." Christina öffnete die Tür. „Bin gleich wieder da." Dann verließ sie den Raum.

Seufzend lehnte ich mich in dem Stuhl zurück. Dieser Fluch ... Er kommt mir bekannt vor, als hätte ich ihn schon einmal gehört oder gelesen. Vielleicht, wenn ich ...

Ein Ruck durchfuhr meinen Körper und dann erblickte ich ein Mädchen vor mir, das mit seiner Mutter durch einen schneebedeckten Wald stapfte. Die Augen des Mädchens ... Die Gesichtsform ... Täusche ich mich, oder ist das Christina? Die Beiden erreichten ein Herrenhaus und die Mutter klopfte an die Tür. Eine Frau in einem blutroten Kleid öffnete. Sie schenkte der Mutter und Christina ein Lächeln, ehe sie sie hereinwinkte. Christina zögerte, folgte dann aber ihrer Mutter ins Innere.

„..., Theo?"

Ich blinzelte.

Meine Mum stand vor mir und diesen Blick kannte ich sehr gut.

„Sorry, muss wohl eingenickt sein", sprach ich und streckte mich.

„Dann gehörst du zu den wenigen Menschen, die mit offenen Augen schlafen können. Geht es dir gut? Was genau ist in dem Schloss geschehen? Christina wollte mir nicht alles erzählen."

Mein Magen zog sich zusammen. Super, wie erzähle ich ihr das jetzt? Meine Ex-bester-Freund hat mich angegriffen und dann bin ich in einem komischen Dazwischen-Reich gelandet, dort habe ich erst meinen Schattègo und dann die Frau getroffen, nach der ich die ganze Zeit suche und eben hatte ich Visionen aus Christinas Vergangenheit. Da kann ich mich auch gleich in die Klapse einweisen lassen!

„Es ist alles ok. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen", entgegnete ich und stand auf. Erst da bemerkte ich, dass meine Mum ein Glas mit Wasser in ihrer Hand hielt.

„Wie du meinst. Hier, das soll ich dir geben." Sie reichte mir das Glas.

„Dankeschön", erwiderte ich und nahm einen Schluck. Die kühle Flüssigkeit tat gut. „Wie lange sind wir schon hier? Irgendwie hat sich mein Zeitgefühl komplett verabschiedet."

„Seit ungefähr zwei Stunden, also ich. Du dürfest eine halbe Stunde vor mir hier angekommen sein."

„Wie meinst du das? Was hat Christina zu dir gesagt?"

Meine Mum senkte den Kopf. Ihre Schultern bebten. Weint sie etwa? Was hab ich falsch gemacht? Kann mich bitte mal jemand aufklären? Irgendwann drehe ich noch komplett durch.

„Mutti, geht es dir gut? Hör zu, ich weiß, wie das auf dich wirken muss, aber ich ..."

Sie hob den Kopf und schüttelte ihn. „Du bist nicht die einzige Person, die über gewisse Ereignisse schweigt." Ihre Stimme klang leicht belegt. Was soll das denn jetzt heißen? Weiß sie etwa, was mit mir geschieht? Wenn Ja, hilft sie mir dann aus dem gleichen Grund wie Christina nicht? Wo bleibt denn da die Logik?!

„Können wir eigentlich gehen? Wenn ich mich richtig erinnere, wartet zuhause noch eine Matheaufgabe auf mich und ich will mir die Note echt nicht versauen."

Ein Lachen entwich meiner Mum und sie fuhr mit den Händen über ihre Wangen.

„Ihr dürft selbstverständlich gehen." Christina trat zu uns. Hab gar nicht gemerkt, dass sie wieder in das Zimmer zurückgekehrt ist. Komisch. „Allerdings glaube ich nicht, dass du dich noch auf deine schulischen Arbeiten konzentrieren kannst, nach allem, was geschehen ist."

Erste Flammen der Wut züngelten in meinem Inneren. „Irgendwie muss ich mich von dem ganzen Chaos erst einmal ablenken und da ich noch zur Schule gehen, erscheint mir diese Idee durchaus sinnvoll."

Christina blickte zu meiner Mum.

Diese zuckte mit den Schultern.

Was läuft hier? Klärt mich bitte jemand auf?

„Nun, gut. Geht nur und Theo, wenn du Hilfe brauchst, kannst du dich jederzeit an mich wenden."

Ein Schnauben entschlüpfte meine Lippen, bevor ich es verhindern konnte. „Alle Fragen wirst du mir auch nicht beantworten, nicht wahr? Was genau hat Hyliva damals mit dir gemacht? Nur den Fluch in dein Blut gewebt, oder ..."

Meine Kehle schnürte sich zu. Woher sind diese Worte eben gekommen? Aber sie stimmen. Das weiß ich zu hundert Prozent.

„Theo, Schatz." Meine Mum strecke eine Hand nach mir aus, doch ich machte einen Schritt zurück.

„So sehr mich deine Wut auch schmerzt, so sehr verstehe ich sie auch. Trotzdem beweisen die Worte, dass der Zauber definitiv an Kraft verliert." Bis er endgültig abgeklungen ist, wird es wohl noch etwas dauern. Hoffentlich erhalte ich auch mal Antworten, die ohne ein ganzes Fragenpaket ankommen. Fällt mir immer schwerer zu glauben, dass ich diesen Plan ersonnen haben soll, aber laut Henning ist genau dies geschehen. Auf der anderen Seite ... Verlässlich erscheint er mir momentan nicht.

„Danke, dass Sie sich um meinen Sohn gekümmert haben, Frau Voll." Meine Mum hielt Christina die Hand hin.

Diese nahm und schüttelte sie. „Keine Ursache und ich würde es jederzeit erneut tun. Kommen Sie gut nach Hause." Christina lächelte mir zu, dann setzte meine Mum sich in Bewegung und ich folgte ihr.

„Tut mir leid, dass ich vorhin laut geworden bin", brummte ich, kaum dass wir das Haus verlassen hatten.

Eine sanfte Brise streichelte mein Gesicht und in der Ferne hupten ein paar Autos, während wir weitergingen.

Meine Mum zog den Autoschlüssel aus ihrer Jackentasche. „Deswegen brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Niemand wirft es dir vor. Wir alle wussten, worauf wir uns einlassen würden, als wir den Entschluss fassten."

Ok, das klingt irgendwie wichtig, aber auch mega kryptisch. Ganz ruhig, Theo. Die Wut hilft uns nicht dabei, Antworten zu erhalten. Wenn das, was wir über Christina erfahren haben, bei allen Leuten funktioniert, bekommen wir so vielleicht ein paar nützliche Informationen. Aber warum können wir das? Was genau ... Der Fluch ist eine Essenz Christinas und wir haben die Geschichte dieser erfahren. Das können wir, weil das ... unsere Gabe ist. Wir sind kein Mensch. Nein, wir sind eine Lachesilia. Eine Person, die einst eine fiktive Figur war und das erklärt, weshalb Dalora und Kosanisch unsere Muttersprachen sind. Bleibt nur noch die Frage, welche Leute hinter uns her sind. Möglicherweise kann ... Henning mir da weiterhelfen.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top