Geheimnisse

Zwanzig Jahre zuvor

Linvay

Meine Knie zitterten, während ich im Sessel beim Kamin in der Bibliothek Platz nahm. „Warum hat sie uns nicht ausreden lassen?", flüsterte ich.

„Der Verlust saß noch tief." Theo stellte sich hinter mich und legte seine Hände auf meine Schultern. Die Berührung brachte den leichten Geschmack des Trosts mit sich.

„Dennoch ... Warum hat Sarah auch diesem Haus einen Besuch abgestattet? Bei einem Menschen hätten wir leichteres Spiel, aber diese Dame ... Das Blut einer Blavishka kocht ebenso heiß, wie ihre Berührungen ein Feuer entfachen können." Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Du denkst also, dass sie Rache üben wird?" Theo massierte sanft meine Schultern.

„Davon gehe ich zumindest stark aus. Die Leidenschaft in ihrer Stimme, dieses Knurren ... Sie wird den Vorfall nicht einfach auf sich beruhen lassen." Ein Seufzer verließ meinen Mund.

„Wir reden mit Sara noch einmal und vielleicht können die Lynas uns dabei helfen, uns auf die Konfrontation vorzubereiten. Eine Blavishka kann gegen uns nichts ausrichten." Theo drückte einen Kuss auf meinen Kopf.

„Du hast Recht und es bringt mich auch nicht weiter, wenn ich nur hier sitze und mir den Kopf deswegen zerbreche." Ich stand auf und straffte meine Schultern. „Wollen wir dann jetzt die Bilder aufhängen?"

„Was auch immer dich auf andere Gedanken bringt." Theo schenkte mir ein Lächeln.

Dann verließen wir die Bibliothek.

Den Teppich will ich auch noch austauschen. Das Schwarz lässt das Schloss noch düsterer wirken als es ohnehin schon ist. Vielleicht ein hübsches Dunkelblau oder ein Rot oder ...

Theo hielt an und deutete mit dem Kopf nach links.

Tatsächlich. Ein Klagelaut drang an meine Ohren. Langezogen und hoch, viel zu hoch für einen Menschen.

„Hast du das schon einmal gehört?", raunte mein Freund.

„Noch nie", wisperte ich und schloss die Augen.

Abermals der Laut. Ein bleierner Geschmack legte sich auf meine Zunge. Mein Herz zog sich zusammen.

„Lass uns nachsehen", sprach ich und lief wieder los.

Wir gingen die restlichen Treppenstufen hinunter ins Erdgeschoss. Dort folgten wir dem langen Flur, bis zu einer verrosteten Tür. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Übelkeit wallte in mir auf. Meine Beine weigerten sich, die nächsten Schritte zu tun.

„Ruhig, mein Herz. Du bist nicht allein." Theo ergriff meine Hand und drückte sie sanft.

Bilder blitzten vor meinen Augen auf. Blutüberströmte, leichenblasse Körper. Zusammengekauerte Kinder, deren Mütter links daneben standen und hilflos zusehen mussten. Meine Eltern mit dem hungrigen Grinsen auf den Lippen. Kopfschüttelnd verjagte ich die Erinnerungen.

„Versprich mir, dass du bei mir bleibst", hauchte ich.

„Bis zum bitteren Ende, wenn es sein muss."

Meine freie Hand zitterte, als ich sie hob und mit meinen Reißzähnen an der Innenseite meines Handgelenks entlangfuhr. Ein dunkelroter Tropfen fiel zu Boden. Die Übelkeit in mir verstärkte sich, doch ich ließ drei Tropfen direkt in die Nische vor der Tür fallen.

Es zischte. Ein Rasseln, gefolgt von einem Knattern. Dann schwang die Tür auf. Dunkelheit erwartete uns dahinter, doch ich sah bereits, wie die lila Töne meiner Nachtsicht um mich herum zu wabern begannen.

Theo zeichnete mit seinem Daumen kleine Kreise auf meinen Zeigefinger.

„Gut. Lass uns weitergehen", raunte ich.

Er nickte und ging weiter.

Die Luft schmeckte abgestanden und die leichten Nuancen der Angst nahm ich immer noch wahr. Mit jedem Schritt, den ich über den Kopfsteinpflasterboden machte, zog sich mein Innerstes ein Stück weit zusammen.

Theo drehte den Kopf hin und her, sagte jedoch nichts. Dankbarkeit durchströmte mich. Noch habe ich nicht die Kraft, ihm von den Geschehnissen zu erzählen. Aber eines Tages ...

Da ertönte abermals das Klagen. Der Gang machte eine Kurve. Zellen säumten die Wände rechts und links von uns. Beinahe glaubte ich Echos der Schreie und des Lachens zu hören. Wir schaffen das! Schluss mit der Angst! Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Wir sind nicht wie unsere Eltern und werden niemals ihren Weg einschlagen. Niemals!

Auf wackeligen Beinen stakste ich weiter. Endlich hatten wir die Zellen hinter uns gelassen und standen nun bei einer Kreuzung.

„Der Laut kam von rechts", hauchte Theo.

Ich nickte.

Auch hier gab es keine Halterungen für Fackeln an den Wänden. Welch Grauen muss es für die Menschen bedeutet haben, hier unten zu sein? Blind und vollkommen wehrlos.

Wir passierten mehrere Türen, die uns ein hölzernes Lächeln schenkten.

Abermals meinte ich das Lachen meiner Eltern zu hören. Dazu der fanatische Ausdruck in den dunkelgrünen Augen meiner Mutter. Ein blutiges Messer in ihrer Hand. Haben sie jemals versucht, friedlich mit den Menschen zusammenzuleben? Wenn, dann muss das viele Jahre vor meinem Zusammenleben mit ihnen geschehen sein.

In diesem Moment erreichten wir eine Stahltür, die einen Spalt offenstand. Das Klagen ertönte wieder und schloss damit jeden Irrtum aus. Was auch immer diese Laute ausstieß, befand sich hinter dieser Tür.

„Du schaffst das, mein Herz." Theo drückte meine Hand.

„Danke." Dann versetzte ich der Tür einen Schubs nach innen.

Geräuschlos schwang sie in diese Richtung.

Alles in mir wollte umkehren, kaum dass ich einen Blick in den Raum geworfen hatte. Meine Beine zitterten so stark, dass ich befürchtete, sie würden mich nicht mehr tragen. Ein Teil von mir rief mir zu, dass dieser Fall nicht eintreten würde. Mein Körper verfügte über derart starke und schnelle Reflexe, dass mir nichts geschehen würde.

„Wenn du möchtest, trage ich dich", raunte Theo.

Darauf schüttelte ich den Kopf und schritt über die Schwelle.

Die Luft schmeckte nach Panik und Wahnsinn. Ein köstlicher Geruch stieg in meine Nase und etwas summte leicht. Meine Kehle flammte auf. Wie bei allen Blutströmen ist das möglich?

Zaghaft ging ich weiter in die Mitte des Raums, in der ein silberner Käfig stand. Darin lag eine Wölfin. Krusten von getrocknetem Blut zierten das Fell ihres langen Halses.

„Warte kurz, ich hole schnell meine Drachenlederhandschuhe." Theo ließ mich los.

„Aber, warum ..."

Er küsste meine Stirn. „Ehe du dich versiehst, bin ich zurück. Versprochen."

Dann drehte er sich um und rannte aus dem Raum.

„Hey, ganz ruhig", wisperte ich und näherte mich behutsam dem Käfig.

Die Wölfin hob ihren Kopf. Die Muskeln unter ihrem Fell zitterten.

„Alles gut. Wir holen dich hier raus", sprach ich und kniete mich vor den Käfig.

Die Wölfin stieß nur einen Klagelaut aus.

Warum haben meine Eltern eine Wölfin eingesperrt und wozu das Silber? Um mich fernzuhalten? Das kann ich mir nicht vorstellen, immerhin mussten sie dann auch immer ihre Handschuhe bereitlegen.

Da erblickte ich aus dem linken Augenwinkel ein Stück Papier, das auf dem Boden lag. Schon eilte ich dorthin. Das Papier raschelte, als ich es aus dem Staub hob und schüttelte. Als ich die Schrift sah, wallte erneut Übelkeit in mir auf.

„Ruhig, ganz ruhig, Lin. Sie ist nicht hier. Sie kann niemandem mehr etwas tun", sprach ich.

Schritte. Dann ein Luftzug.

„So, dann wollen wir ... Lin?"

Nachdem ich geschluckt hatte, drehte ich mich um. Die Sorge in Theos Blick ließ mich frösteln.

„Von ihr", raunte ich und reichte ihm das Blatt Papier.

Er nahm es entgegen und las. „Das ergibt doch keinen Sinn." Theo sah wieder auf. „Warum sollte deine Mutter dir eine solche Nachricht hinterlassen? Verständnis wird sie damit nicht erreichen."

Eine Träne floss meine Wange hinunter. „Nein und ich glaube, das wollte sie auch gar nicht. Vielmehr wollte sie mich an ihrer Welt teilhaben lassen und mir die Gründe für ihr Handeln darlegen."

Theo schüttelte den Kopf. „Warum haben Vampire es nötig, sich mit der Salinara zu verbünden? Der Große Galaktische Krieg brach erst Hundert Jahre später aus und davor hattet ihr keine natürlichen Feinde."

„Wenn man das eigene Spiegelbild weglässt, hast du Recht."

Gleichzeitig fuhren Theo und ich herum.

Mein Mund klappte auf. Anstelle der Wölfin lag eine nackte, pinkhaarige Frau in dem Käfig.


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