Eine Entscheidung

Vor dem Zeitsprung

Henning

Stille breitete sich im Wohnzimmer aus, kaum dass Lin, Theo, Christina und ich den Raum betreten hatten.

„Wie war ... oh!" Nichello stand sofort von dem Sofa aus und ging zu seiner Frau hinüber. Er kann ihre Gedanken nicht lesen, weiß aber sofort, dass etwas geschehen ist. Wie sieht er das? Wenn ich nicht dabei gewesen wäre, als Lena die Nachricht überbracht hat, könnte ich das nicht erkennen. Liegt das an seinen besseren Augen?

„Meine Frage mag vielleicht etwas vermessen sein, aber warum achtzig Jahre?" Lin verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken.

Vanessa schenkte ihr ein Lächeln. „Als vermessen würde ich es nicht bezeichnen und ich verstehe deine Verwirrung. Wir dachten zuerst daran, dass Ria die Zeit um zwanzig Jahre zurückdreht. Damit würde Saras Wellensittich wieder leben und sie hätte somit keinen Grund, Rache zu üben. Jedoch würde das nichts daran ändern, dass die Salinara-Schwestern Sara einen Besuch abstatten und sie dank Nichellos Schattègô einen Plan aushecken würde, Christina in ihre Finger zu bekommen."

Lin nickte. „Verstehe. Indem die Zeit so weit zurückgedreht wird, dass unsere Schattègî noch in uns stecken, werden die Schwestern nicht das bekommen, was sie wollen und Sarah wird ebenfalls zurückgeholt."

Maria kaute auf ihrer Unterlippe herum. Verschweigen sie etwas? Was haben sie sich überlegt, was sie Christina nicht ... Sie findet es doch sowieso heraus.

„Du und Theo werdet nicht mit uns in die Zeit zurückreisen." Christina wandte sich Lin zu.

Die Angesprochene blinzelte. „Warum nicht? Sollen wir euch nicht helfen? Ihr wisst, was dieser Zeitsprung bedeutet. Der Große Galaktische Krieg wird euch wieder bevorstehen, ganz zu schweigen von dem Fluch, den du brechen musst."

Meine Nackenhaare stellten sich bei diesen Worten auf. Bin ich froh, dass ich diesen Krieg nicht miterlebt habe.

Christina ergriff Lins Hände. „Das stimmt und wir können dir und Theo gar nicht genug für alles danken, was ihr für uns getan habt, aber wenn du mir wieder bei dem Fluch helfen würdest, würde sich mein Schattègô von mir lösen und das wollen wir verhindern."

Lin seufzte. „Entsteht damit aber nicht ein Zeitparadoxon?"

Nichello nickte. „Unser Plan sieht folgendes vor: Christina, Lena, Maria, Vanessa und ich springen achtzig Jahre zurück, während du, Theo, Ria und Henning lediglich zwanzig Jahre zurückreist. Auf diese Weise besteht zum Einen für Sara kein Grund sich an Sarah rächen zu wollen und zum Anderen können unsere Schattègî ihr nicht helfen."

„Aber Theos und meiner streifen doch dann trotzdem munter herum. Oder nicht, weil wir ... Wir wurden doch trotzdem von Luzifer ... ich bin verwirrt." Lin schüttelte den Kopf.

Nichello drückte ihren linken Arm.

„Es wird noch etwas dauern, bis ich den Zeitsprung vollführen kann und wir könnten in der Zwischenzeit versuchen, dich und Theo wieder mit eurem jeweiligen Schattègô zu verbinden." Ria erhob sich ebenfalls von dem Sofa.

Davon habe ich noch nie gehört. Wie ist so etwas möglich? Mir schwirrt der Kopf. Vielleicht sollte ich frische Luft schnappen. Mit dem nächsten Herzschlag ging ich zur Tür und trat aus dem Wohnzimmer.

„Hast du etwas dagegen, wenn ich dich begleite?"

Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Christina stand dort. Wer sonst?

„Aufhalten kann ich dich sowieso nicht."

Sie lächelte. Wärme hüllte mich ein. Schluss damit! Das muss unbedingt aufhören. Verdammt, ging es allen Männern so, mit denen sie je zu tun hatte?

„Mach dir keine Sorgen, ich kann die Stimmen in meinem Kopf ziemlich gut ausblenden. Also, gehen wir?" Noch während die Worte verklangen, schritt Christina zur Haustür.

Wortlos folgte ich ihr.

Ein Kind rannte die Straße entlang. Benzingeruch lag in der Luft und eine kühle Brise streichelte mein Gesicht.

„Überfordert mich das Gerede wegen der Zeitsprünge und der Paradoxen als Einziger?", sprach ich und schloss den Reißverschluss meiner Jacke.

„Nein. Obwohl ich in all den Jahren viel erlebt und sogar schon selbst in die Vergangenheit gereist bin, weiß ich auch nicht, wie genau es sich auswirken wird, wenn wir unseren Plan umsetzen." Christina wippte ein wenig auf ihren Fußballen. „Was meinst du, wollen wir eine kleine Runde laufen?" Wieso nicht? So kann ich mich auf andere Sachen konzentrieren.

Schon lief sie los.

Schweigend gingen wir nebeneinander durch die Straße. Nur wenige andere Leute begegneten uns. Alle verharrten kurz, sobald sie Christina erblickten, eilten dann aber weiter. Ob sie sich daran gewöhnt hat? Mit Sicherheit. Der Krieg ist doch mindestens sechzig Jahre her und wenn einem das jedem Tag begegnet, hat man sich nach all der Zeit bestimmt daran ... Wieso kümmert mich das? Verlassen diese ... Enzyme langsam meinen Körper und ich denke deswegen so? Dann könnte ich Hylivas Angebot tatsächlich ablehnen. Ob Olléchin immer noch bei Sara ist? Werden sie ... Nein, das glaube ich ... Warte, beeinflusst Sara ihn dann auf die gleiche Weise wie mich?

„Was genau hat Hyliva denn vorgeschlagen?" Christinas Stimme klang ziemlich sanft.

„In erster Linie hat sie versprochen, dass ich ein Obdach bekomme, aber diese Schwestern erfüllen ja die sehnlichsten Wünsche. Was, wenn diese nichts damit zu tun haben, oder damit, dass ich Sara zurückgewinne?"

Christina nickte. „Theo wird bald mit seiner Freundin darüber reden und ich bin sicher, dass du dann bei ihm und Lin unterkommen kannst. Zwar wird Lin noch etwas brauchen, bis sie deine Anwesenheit akzeptieren kann, aber sie wird dir nicht den Kopf abreißen. Erst recht nicht, nachdem, was Theo in deinen Essenzen gefunden hat."

Ein Stein fiel von meinem Herzen. „Das mag sein, aber ich möchte nicht, dass Lin sich die ganze Zeit zusammenreißen muss. Immerhin kenne ich das Gefühl ziemlich gut."

Christina biss sich auf die Unterlippe.

„Hab ... Hab ich etwas ..."

„Nein, nein. Es amüsiert mich nur, dass du glaubst, Lin wäre mit diesem Gefühl nicht vertraut. Sie ist die Urvampirin. Was glaubt du, wie oft sie schon in Situationen gesteckt hat, in denen sie gegen ihre Instinkte handeln musste?" Oh! Wie dumm von mir! Lin, die Urvampirin? Das wusste ich gar nicht und man sieht es ihr auch gar nicht ... Natürlich nicht. Keiner der Lynas sieht aus, als hätte er schon achtzig Jahre gelebt.

Ich räusperte mich. „Dennoch ... Irgendwie hab ich das Gefühl, als würde ich Sara verraten, wenn ich bei Lin und Theo wohne. Momentan kann ich aber auch nicht zurück zu ihr, geschweige denn, dass ich das möchte."

„Das verstehe ich, aber du wirst diesbezüglich eine Entscheidung treffen müssen. Bedenke folgendes: Wenn du zu Sara zurückkehrst, wirst du bis zum Ende deines Lebens dieses Enzym in dir tragen und früher oder später wird sie deine Droge. Wenn du einen Deal mit der Salinara machst, wird sich auch deine größte Angst erfüllen. Sie sprechen keinen Segen aus, wenn man zu ihnen geht, sondern Flüche."

Christina drehte den Kopf zur Seite und atmete tief durch. Der Klang ihrer Stimme ... Hat sie das etwa erlebt? Was ist nur ... Nein, mir steht es nicht zu, das in Erfahrung zu bringen. Dafür kennen wir uns nicht lange genug und ich ... Was, wenn ich dieses Vertrauen dann missbrauche?

„Weißt du, je mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto sympathischer wirst du mir." Christina schenkte mir ein Lächeln und mir schien es, als würde die Sonne mich küssen.

„Ähm, ok. Danke, auch wenn ich das nicht ganz nachvollziehen kann."

„Keine Ursache."

Wir bogen in die rechte Straße ein.

„Was deine Frage anbelangt, ich wurde tatsächlich von der Schwesternschaft verflucht. Damals war ich noch ein Kind und meine Mum brachte mich zu ihnen, allerdings wusste sie nichts davon."

Mein Mund klappte auf. „Wie ... Wie hast du davon erfahren?"

„Die Vermutung keimte in mir, nachdem ich Pingûrs Fluch gebrochen hatte, aber mit Sicherheit wusste ich es erst, als Theo ihn in meinem Blut fand." Was zum ... In ihrem Blut? Wie muss man sich das vorstellen? Was haben die Schwestern damals mit ihr gemacht?

Christina legte eine Hand auf meinen Unterarm. Die Berührung ließ mich erschaudern. „Die Schwestern weben jeden Fluch in einen Teil der Person, die sie verfluchen und bei mir haben sie sich für mein Blut entschieden. Dadurch fällt es schwerer ihn zu brechen. Normalerweise steckt die Lösung für das Brechen schon in den Worten des Fluchs, aber das gilt nicht, wenn er in das Blut gewebt wurde. In dem Fall ... Sagen wir, wenn meine Schwangerschaft glücklich verlaufen wäre, würde ich den Fluch in mir tragen, bis ich sterbe."

Meine Beine fühlten sich schwer wie Blei an. Es erschien mir unmöglich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der Fluch kehrt zurück und sie wird trotzdem ... Muss ich das verstehen? „Wieso erzählst du mir das?", wisperte ich.

Christina blieb stehen und blickte mir fest in die Augen. Das Blau erinnerte mich an das Meer. „Damit du weiß, was dich möglicherweise erwartet, wenn du zu Hyliva und ihren Schwestern gehst. Niemand sollte einen Fluch tragen, der in das eigene Blut gewebt wurde. Solch ein Schicksal wünsche ich niemandem", flüsterte sie.

Mein Herz verkrampfte sich. Was soll ich denn jetztnur tun?


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