Ein Angebot
Vor dem Zeitsprung
Henning
Regen prasselte auf mich ein, während ich durch die Straßen lief. Noch immer hatte ich die Hände zu Fäusten geballt.
Wie bringe ich meine Herrin nur wieder zur Besinnung? Es muss doch einen Weg geben, irgendeinen. Jetzt brauche ich aber erst einmal einen Ort, um unterzukommen. Auf der Straße werde ich ganz sicher nicht schlafen.
Bei der nächsten Kreuzung nahm ich die linke Abzweigung und gelangte nach wenigen Metern in den Orchideenpark.
Nur wenige Leute kreuzten meinen Weg. Der Kies knirschte unter meinen Schuhen.
„Alles in Ordnung?"
Schlitternd kam ich zum Stehen.
Eine schwarzhaarige Frau in einem blutroten Mantel schenkte mir einen besorgten Blick.
„Hm, geht schon", brummte ich und setzte mich wieder in Bewegung.
„Sagt man das heutzutage, wenn man sein Obdach verloren hat?" Wie bitte? Woher weiß sie das? Wer ist sie?
Abermals blieb ich stehen und drehte mich um. „Wer sind Sie?"
Mein Gegenüber lächelte. Makellose Zähne strahlten mich an. „Viele Namen wurden mir schon gegeben, aber am geläufigsten dürfte der Name Hyliva sein." Mein Herz raste. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn.
„Es ehrt mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, aber ich habe kein Interesse, einen Handel mit Ihnen einzugehen", sprach ich.
Hyliva lachte auf. „Der Ruf meiner Schwestern und mir eilt uns voraus, wie ich sehe. Man sollte stets Vorsicht walten lassen, das sehe ich nicht anders, doch in Zeiten wie diesen ... In einem Notfall ist es vielleicht klug, noch einmal nachzudenken und die Bedenken über Bord zu werfen, meinst du nicht auch?"
Auf ihre Worte schluckte ich. Sie könnte mir helfen. Wenn nur die Hälfte stimmt, die man sich über sie und ihre Schwestern erzählt, wird sie zumindest dafür sorgen können, dass ich heute nicht auf der Straße schlafen muss. Aber, soll ich mich wirklich darauf einlassen? Welchen Haken werden sie mir verschweigen? Nicht, dass ich am Ende als Frosch aus der Geschichte gehe.
„Bedenken sollten niemals vollständig ignoriert werden", erwiderte ich.
Hyliva nickte. „Dem stimme ich zu. Du kannst es dir ja noch überlegen. Solltest du mein Angebot doch in Erwägung ziehen, begib dich zu dieser Bank." Sie deutete mit dem Kopf auf die dritte Bank in der Reihe links von uns. „Rufe nach mir und ich oder eine meiner Schwestern wird erscheinen." Klingt überhaupt nicht merkwürdig oder so. Egal, darüber kann ich mir später immer noch Gedanken machen.
„Danke für das Angebot. Einen angenehmen Tag noch." Nach diesen Worten lief ich wieder los.
Dieses Mal rief Hyliva mir nichts hinterher. Erleichterung durchfuhr mich und ich senkte meine Schultern ein Stück.
Herzenswunsch. Was, wenn mein Herzenswunsch gar nichts mit meiner Herrin zu tun hat? Wenn er sich in Wahrheit um etwas komplett anderes dreht? Was dann? Will ich sie wirklich, kann ich sie wirklich aufgeben? Schwer vorstellbar. Aber, was wenn es doch geht? Wenn ich bis jetzt einfach nur nicht herausgefunden habe, was mir zu meinem Glück fehlt?
Kopfschüttelnd verwarf ich diese Gedanken. So würde ich für mein aktuelles Problem keine Lösung finden.
In diesem Moment ließ der Regen nach und ich atmete tief durch. Die kühle Luft versorgte mich mit Energie, gleichzeitig verrauchte meine Wut.
Da rempelte mich plötzlich jemand an. „Entschuldigung", sprach ich.
„Kein Problem, das kann ja ..." Mein Gegenüber sah auf. Blau-grüne Augen starrten mich aus einem blassen Gesicht an, das zu einer jungen Frau gehörte. „Du!", knurrte sie. Mir kommt sie nicht bekannt vor. Eine alte Kundin meiner Herrin, die doch mehr wollte, als Sara zu bieten hatte?
„Verzeihung, kennen wir uns?"
Die Frau hob die Augenbrauen und da erst bemerkte ich die lila Muster auf der Haut ihrer rechten Wange. Lila Muster, lila Muster. Verdammt, da klingelt was in meinem Kopf. Was war das noch?
„Begegnet sind wir uns bisher nicht, aber du solltest froh darüber sein, denn sonst hätte ich dir schon längst den Kopf abgerissen!"
Ich hob die Hände. „Es tut mir wirklich leid, aber ich weiß beim besten Willen nicht, was ich Ihnen getan habe. Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht verwechseln?"
Mein Gegenüber schnaubte. „Wie könnte ich das Gesicht des Mannes vergessen, der mitgeholfen hat, meine große Liebe zu ermorden?" Große Liebe? Moment mal, das kann doch nicht ...
„Sie sind Ria Sanders, nicht wahr?", flüsterte ich.
Ein Funkeln trat in die großen Augen der Frau. „Korrekt!" Scheiße!
Aus den Augenwinkeln nahm ich keine Bewegungen wahr und ich hörte lediglich Vogelgezwitscher und das leichte Tröpfeln des Regens. „Wenn Sie mich töten wollen, tun Sie sich keinen Zwang an, Frau Sanders. Niemand wird mich retten, geschweige denn hören", raunte ich.
Mein Gegenüber seufzte. „Du kannst von Glück reden, dass mir nicht der Sinn nach einem Mord steht. Zumindest heute nicht, nachdem ich vorhin gute Neuigkeiten erhalten habe." Gute Neuigkeiten? Welche denn? Wieso juckt mich das und warum freut es mich, dass sie etwas gehört hat, um sich abzulenken?
„Dann bin ich ja beruhigt." Wie von selbst hoben sich meine Mundwinkel. „Nun, ähm, einen schönen Tag noch und ... ähm ... es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Das wollte ich nicht, wirklich nicht." Was zum Henker stimmt nicht mit mir? Wieso entschuldige ich mich dafür? Meine Herrin wollte, dass Sarah eingesperrt wird und wenn sie bei ihrem Fluchtversuch zu Tode kommt, sollte mich das nicht kümmern, oder?
Ria runzelte die Stirn. Das Lila ihrer Muster schien auf einmal zu pulsieren. „Sagst du das nur, um mir später das Messer in den Rücken rammen zu können? Nach allem, was ich über dich gehört habe, fällt es mir schwer zu glauben, dass du deine Entschuldigung aufrichtig meinst."
Daraufhin nickte ich. „Verständlich und wenn die Situation umgekehrt wäre, würde es mir wahrscheinlich genauso gehen, aber glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich aufrichtig bedaure, was mit Sarah geschehen ist. Meine Herrin hätte das nicht tun dürfen, ich hätte ..." Was fasele ich da? Seit wann denke ich so über Sara? Stimmt etwas nicht mit mir?
Ria atmete tief durch. „Also schön. Zwar verstehe ich deinen Sinneswandel nicht, aber ich gebe dir eine Chance. Du könntest dabei helfen, deine Tat wiedergutzumachen." Sie weiß es. Ihre Fähigkeit, die Zeit zurückzudrehen, ist in ihr erwacht. Darüber sollte ich meine Herrin ... Nein, sie hat das Recht darauf verloren, als sie Olléchin statt mir wählte! Was ... Nein, sie muss ... Wir gehen mit Ria. Punkt!
„Oh, ähm, ich bin ganz Ohr", sprach ich und fuhr durch mein kurzes, dunkelblondes Haar.
„Ganz einfach: Begleite mich, wenn die anderen Lynas, Lin, Theo und ich einen Test durchführen. Solltest du doch etwas im Schilde führen, wird Christina das rechtzeitig bemerken und ich kann mir nicht vorstellen, dass du uns alle überwältigen könntest." Ria schenkte mir ein Lächeln, das mich an ein Raubtier erinnerte. „Also, wie klingt das?" Ohne die Barriere darf ich nicht ... Unsinn, Christina kann mir vielleicht dabei helfen, die Gedanken in meinem Kopf zu sortieren.
„Perfekt", entgegnete ich und hob meine Mundwinkel.
Rias Augenbrauen huschten wieder nach oben. „Nun, gut. Dann folge mir." Diese Worte waren kaum verklungen, als sie loslief.
Mühelos passte ich mich an ihre Geschwindigkeit an. Warum mache ich das? So erhalte ich aus erster Hand Informationen über das weiterer Vorgehen, aber Christina wird mich sofort entlarven. Moment mal, vielleicht hat sie ihre Gabe des Gedankenlesens noch deaktiviert. Immerhin wird sie nicht ... Sie könnte die Gabe auch wieder nutzen. Vergiss nicht, was deine Herrin gesagt hat. Vielleicht war das auch nur Paranoia.
Mein Blick huschte zu Ria. Sie schaute stur geradeaus, während wir durch den Orchideenpark liefen. Ich frage sie ganz bestimmt nicht, ob sie weiß, ob Christina ihre Gabe wieder einsetzen wird. Wie taktlos wäre das denn? Seit wann kümmert mich das?!
Wie von selbst ballten sich meine Hände zu Fäusten.
„Alles in Ordnung?" Ria schenkte mir einen Seitenblick.
„Etwas nervös, da ich gleich den Lynas von Angesicht zu Angesicht entgegentreten werde."
Sie nickte und wenn ich mich nicht täuschte, huschte einselbstgefälliges Grinsen über ihre Lippen.
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