Die Schattègî
Zwanzig Jahre zuvor
Linvay
Nichts war von Dauer. Dank meiner Unsterblichkeit schlug ich diesem Sprichwort regelmäßig ein Schnippchen, doch auch ich konnte die Wogen des Schicksals nicht glätten.
Theo schenkte mir ein Lächeln, ehe er klingelte.
Schritte erklangen von der anderen Seite der hellgrünen Tür. Vanessa öffnete. „Lin, Theo, schön, euch zu sehen. Kommt doch rein."
„Dankeschön", entgegnete ich und trat mit meinem Freund ein.
„Darf ich euch etwas anbieten? Ich habe mir erst gestern eine neue Flasche Rotwein gekauft, aber Traubensaft sollte ich auch noch haben." Vanessa schloss die Haustür.
„Einem Glas Rotwein bin ich nicht abgeneigt", erwiderte Theo. „Für mich auch", sprach ich.
Die Lyna nickte. „Gut, kommt sofort. Geht doch schon einmal ins Wohnzimmer und nehmt Platz."
Nachdem Theo und ich aus unseren Schuhen geschlüpft waren, liefen wir den Flur entlang und betraten das erste Zimmer auf der rechten Seite.
„Hoffentlich kann sie uns weiterhelfen", murmelte ich, während ich auf dem dunkelgrünen Sofa Platz nahm.
Theo drückte meine Schulter. „Ganz bestimmt. Warum sollte sie nichts gesehen haben? Kunalia hat nichts damit zu tun und somit ..."
„... Wissen wir das? Vielleicht ja doch. Die Macht der Elfe darf nicht außer Acht gelassen werden."
Mein Freund legte einen Arm um mich.
In diesem Moment kehrte Vanessa mit zwei Gläsern in den Händen zu uns zurück, die sie uns reichte. Sofort nahmen wir die Getränke entgegen.
„Was führt meine Lieblingsvampire zu mir?", sprach Vanessa und nahm gegenüber von uns auf dem Sofa Platz.
„Nun, ich hatte gestern eine Vision und Linvay hat eine Vermutung, wer die Leute sind, die ich gesehen habe." Theo trank einen Schluck aus dem Glas.
„Auch wenn es vielleicht verrückt klingt, so glaube ich, dass in Theos Vision unsere Schattègî aufgetaucht sind."
Vanessa zuckte zusammen. „Wenn sie es waren, stehen wir vor einem gewaltigen Problem. Allein Christinas könnte die Galaxie versklaven und zusammen mit Nichellos, Lenas, Marias und meinem ... Hoffentlich werden wir es nie erfahren."
Ich legte eine Hand auf ihr Knie. „Deshalb brauchen wir deine Hilfe. Du könntest nachsehen, wann sie sich von uns gelöst haben."
Vanessa legte einen ihrer langen Finger an ihre linke Schläfe. „Hm, ich verstehe. Du vermutest, dass während des Kriegs etwas geschehen ist, das dazu geführt hat. Lass mich überlegen ... Wann lösen sich laut der Legende die Schattègî von einem?"
„Wenn man darum bittet, es kann auch erzwungen werden, oder aber, wenn man eine Tat vollbringt, deren Licht derart erstrahlt, dass sie es in einem nicht mehr aushalten", sprach ich und nahm noch einen Schluck aus meinem Glas. Der bekannte Geschmack beruhigte mich etwas.
Vanessa schloss die Augen und rutschte in den Schneidersitz, wobei ihre schwarze Leinenhose leicht raschelte. Ihre Augenlider bewegten sich, während sie so dasaß.
Schweigend sah ich ihr zu und leerte mein Glas.
Nach einer Weile schlug sie die Augen wieder auf. „Du hast dich nicht getäuscht, Linvay. Als wir Lynas damals die Spritze von Doktor Nieselregen erhielten, lösten sich unsere Schattègî von uns. Deiner und Theos brachen aus euch heraus, während ihr von Luzifer gefangen gehalten wurdet."
Ein eisiger Schauer fuhr meinen Rücken hinab. Wir mussten sie umgehend finden und wieder an uns binden.
„Meine Frage mag vielleicht etwas dumm sein, aber was genau sind Schattègî? Eine Art dunkles Alter Ego?", sprach Theo.
„Vom Kern her Ja." Vanessa atmete tief durch. „Wir alle teilen uns in eine helle und eine dunkle Seite. Die meisten Leute leben im Gleichgewicht mit diesen Seiten und finden Wege, wie sie den Bedürfnissen der Dunkelheit und des Lichts nachgehen können, ohne dabei andere Individuen zu verletzen. Sobald man sich bewusst für lediglich eine Seite entscheidet, entsteht entweder ein Schattègô oder ein Lichtègô. Dieses Alter Ego kann sich von einem selbst nicht lösen, außer es geschieht das, was Lin uns eben genannt hat."
Ich nickte und strich mit dem Daumen meiner rechten Hand über den Rand meines Glases.
„Verstehe und besitzen diese die gleichen Gaben wie man selbst?" Theo nahm meine freie Hand und drückte sie sanft.
Vanessa biss sich auf die Unterlippe. „Jein. Christinas Schattègô verfügt über die gleiche Kreativität und Sprechfertigkeit, ist dafür jedoch nicht in der Lage, Gedanken zu lesen, einen Schutzschild zu errichten und die vier Elemente zu nutzen."
„Die besonderen Kräfte der Schattègî sind das Gegenteil der ursprünglichen Person", entgegnete ich.
Theos Mund klappte auf. „Wie grausam! Wir müssen sie unbedingt finden und wieder an uns ... Wie funktioniert das eigentlich?"
Vanessa senkte den Blick und ich schaute nicht zu ihm.
„Die Legende berichtet nichts darüber, aber wir finden sicherlich einen Weg. Vanessa, kannst du sehen, wo sich unsere Schattègî aufhalten?", sprach ich.
Die Lyna seufzte. „Das habe ich bereits getan und ... nun, wie soll ich es ausdrücken? Mir wurden lediglich Umrisse gezeigt. Scheint, als würde mein Schattègô meine Gabe bereits blockieren. Sie könnten sich in einem Haus aufhalten, es könnte aber auch ein Palast sein."
„Danke. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die Augen und Ohren offen zu halten." Theo schenkte Vanessa ein Lächeln.
In diesem Moment vibrierte mein Handy. Sofort holte ich es aus meiner Hosentasche. Ria stand auf dem Display.
„Entschuldigt mich kurz." Nach diesen Worten eilte ich in den Flur und nahm den Anruf entgegen. „Ria, was kann ich für dich tun?"
Ein Schniefen erklang. War Sarah etwas zugestoßen? Hatten die Schattègî sie angegriffen? Am Ende sogar entführt und verlangten nun Lösegeld?
„Lin ... Es ... Etwas ist passiert. Sarah und ich haben gestern Nacht noch einen Spaziergang unternommen. Wir wollten ganz entspannt die Gegend ablaufen und dann ... hat sich bei Sarah der Jagdtrieb durchgesetzt und sie ..."
Wieder ein Schniefen. Der Geschmack nach Angst und Sorge legte sich auf meine Zunge. „Ganz ruhig, Ria. Hol tief Luft."
Eine Weile herrschte Stille am anderen Ende.
„Hat sie einen Menschen angefallen?"
„Was? Nein! Wir ... hatten uns für Katzen entschieden und sind in das Blumenviertel gegangen, weil es in den Gärten immer so gut duftet. Wir wussten nicht, dass die eine Anwohnerin eine Voliere im Garten hat, in der ein ... Wellensittich lebt." Ria schluchzte.
„Verstehe", hauchte ich. Aufhalten konnte Ria Sarah dann auch nicht mehr. Setzt der Jagdtrieb einer Katze einmal ein ... „Habt ihr mit dem Besitzer schon gesprochen?", sprach ich.
„Das wollten wir, aber scheinbar ist sie nie da, wenn wir klingeln. Zumindest kennen wir ihren Namen: Sara Motte. Vielleicht könnt ihr etwas über sie herausfinden."
„Das machen wir, versprochen. Wie geht es Sarah?"
„Sie wirft sich das vor und will kaum noch das Haus verlassen. Am Tag nach dem Unfall hat sie ihre Gabe regelrecht verflucht und nach einer Möglichkeit gesucht, diese loszuwerden."
Der Griff um mein Handy lockerte sich. Im letzten Moment fing ich es auf. „Oh je! Geht es ihr besser?"
„Mittlerweile ein wenig. Hör zu, ich habe mir folgendes überlegt: Warum kommen du und Theo nicht kommendes Wochenende zu uns? Wir kochen vorher etwas Schönes und vielleicht lenkt das Sarah etwas ab. Immerhin habt ihr auch etwas zu feiern, nicht wahr?"
„Auch? Was habe ich verpasst?"
Ria schniefte noch einmal. „Möglicherweise habe ich Sarah vor drei Tagen einen Antrag gemacht."
„Wie schön! Das freut mich sehr für euch. Theo wird sicherlich nichts dagegen haben, dass wir euch besuchen, aber zur Sicherheit rede ich nochmal mit ihm."
„Ist gut. Bei euch soweit alles ok? Irgendwelche wichtigen Vorkommnisse?"
„Nichts, was wir nicht geregelt bekämen", erwiderte ich.
Dann beendete ich das Gespräch und kehrte zu Vanessa undTheo ins Wohnzimmer zurück.
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