Der Vampir in mir

Heute

Theo

Yanliv umkreiste mich mit langen Schritten.

Ich bewegte mich synchron zu ihr.

„Hast du eingesehen, dass du nicht vor mir weglaufen kannst? Wenn Ja, möchte ich dich zu dieser Entscheidung beglückwünschen. Wenn nicht ... Immerhin rennst du nicht mehr weg und das wird alles etwas angenehmer gestalten."

„Angenehmer für dich, nehme ich an", entgegnete ich und hob meine Hände etwas.

Tief in mir spürte ich eine Kraft, die seit Jahren darauf gewartet hatte, wieder hervorzutreten. Als hätte ich sie in einer Truhe verschlossen und würde sie nun hervorholen. Wie ist das eben passiert? Warum habe ich gerade Reißzähne erhalten?

Yanlivs Herz schlug ruhig und gleichmäßig, während sie weiter ihre Kreise zog. „Darf ich jetzt Spaß mit dir haben, oder wirst du mit deinen kindischen Versuchen fortfahren, mir zu entkommen?" Sie kicherte, woraufhin sich meine Nackenhaare aufstellten.

„Du solltet mich besser nicht unterschätzen."

Yanliv hob die Augenbrauen. „Wirklich? Na, dann zeig mal, was du kannst." Diese Worte verklangen noch, als sie sich auf mich stürzte.

Ihre Bewegungen erschienen mir wie in Zeitlupe voranzuschreiten. Mühelos rannte ich um sie herum, ehe sie die Stelle erreichte, an der ich zuvor noch gestanden hatte.

„Interessant. Die Kraft der Träne ist abgeklungen. Dann versuchen wir das eben noch einmal." Wieder rannte Yanliv auf mich zu und abermals traf sie mich nicht.

Wie kann ich sie besiegen? Wie geht das? Schattègô, Schattègô, Schattègô! Ach, verdammt, ey! Wieso weiß ich nicht mehr darüber?

„Hast du genug?", sprach ich, als ich ihrem vierten Angriff entkam.

Sie seufzte. „Wie es aussieht, wird das den ganzen Tag dauern und das bereitet mir keinen Spaß. Dann lasse ich dich mal in Ruhe. Wir sehen uns." Yanliv winkte und raste davon.

Eine Weile schaute ich ihr nach, dann drehte ich mich zu meinem Elternhaus um und atmete tief ein. Mein Herz raste nicht und meine Lunge protestierte ebenfalls nicht. Merkwürdig. Dabei habe ich mich doch gerade mit einer unmenschlichen Schnelligkeit bewegt. Wenn das nicht dem Adrenalin zu verdanken ist ... Was dann? Hat der Besuch in diesem komischen Dazwischen-Reich mich in etwas verwandelt und mir sind deswegen Reißzähne gewachsen?

Behutsam strich ich mit den Händen über meine Wangen, tastete mein Gesicht ab. Nichts Ungewöhnliches. Alles fühlte sich vertraut an.

Kopfschüttelnd zog ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche, steckte ihn ins Schloss und schritt über die Schwelle.

„Mum, ich bin wieder da!", rief ich. Himmel, ist meine Stimme immer so laut? Davon bekommt man ja Kopfschmerzen.

Eine Tür wurde geöffnet, dann drang das Schlagen eines Herzens an meine Ohren. Schritte erklangen und ich erkannte an ihrer Art, dass sie zu meiner Mutter gehörten.

„Möchtest du etwas zu Essen, oder zu Trinken?", rief sie und ihr Duft nach Rosen und Orchideen drang derart intensiv in meine Nase, als würde sie direkt vor mir stehen.

„Nein, danke und du musst nicht so laut rufen", erwiderte ich und verstaute den Schlüssel wieder in meiner Hosentasche.

Meine Mum runzelte die Stirn und trat zu mir. „Bist du sicher? Du siehst ganz blass aus. Ist etwas ..." Ihre Augen weiteten sich, dann schüttelte sie den Kopf und drehte sich um. Ohne ein weiteres Wort ging sie davon.

„Mum?"

Sie setzte unbeirrt ihren Weg fort. Was zur Hölle? Sie weiß doch wieder irgendetwas, das ich nicht weiß. Was geht hier vor sich?

Mit dem nächsten Wimpernschlag stand ich vor meiner Mutter und versperrte ihr den Weg zur Treppe.

Sie zuckte zusammen und ihr Herz schlug schneller. Plötzlich flammte meine Kehle auf. Was zum ... Der Aufenthalt in diesem Dazwischen war ein Fehler. Da muss es irgendwelche Pestizide gegeben haben und mein Körper verhält sich deswegen so. Christina hätte mich ruhig warnen können.

„Theo, hör mir zu: Im Kühlschrank steht eine Flasche Traubensaft. Damit kannst du deinen Durst stillen und danach reden wir, in Ordnung?"

Traubensaft. Das Wort allein fachte das Feuer in meiner Kehle noch einmal an. Der Duft meiner Mum rief mich zu sich. Trug das Versprechen nach Erlösung für meine Kehle mit sich. Meine Hände zitterten und ich machte einen Schritt auf meine Mutter zu.

Sie hob die Hände.

„Verrätst du mir, was mit mir geschieht?", knurrte ich.

Panik kroch in ihre grüne Augen. „Du kennst die Antwort darauf. Trink den Traubensaft und danach wirst du viel klarer sehen, versprochen."

Ihre Stimme, ihr Duft ... Ich wollte ihr Blut kosten. Jede Faser meines Körpers schrie danach, gleichzeitig erhob sich eine innere Stimme, dich mich anflehte, den Traubensaft zu wählen.

„Schön, aber wehe du bleibst mir auch nur eine einzige Antwort schuldig!"

Dann drehte ich mich um und raste in die Küche. Den Kühlschrank konnte ich gar nicht schnell genug öffnen. Die Flasche stand im obersten Fach. Das Feuer meiner Kehle loderte stärker, so dass ich es kaum mehr ertragen konnte. Mit einer Handbewegung nahm ich die Flasche und öffnete sie. Anschließend trank ich. Das schmeckt so unglaublich gut. Besser als alles, was ich bisher in meinem Leben getrunken habe. Mehr, ich brauche mehr davon.

Schließlich hatte ich die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert. Das Feuer meiner Kehle war erloschen und ich warf die Flasche in den Eimer, in dem wir das Altglas sammelten. Es klirrte und dann zerbrach sie in Scherben.

Schritte näherten sich und der Duft meiner Mum wehte zu mir. „Besser?", sprach sie, während sie sich auf einem der Stühle am Tisch niederließ.

„Deutlich besser", entgegnete ich und verschränkte die Arme hinter meinem Rücken. „Woher hast du gewusst, dass der Traubensaft mir ... Ach, verdammt, ich hab die Flasche kaputt gemacht. Das tut mir leid und auch, wie ich mich vorhin verhalten habe. Keine Ahnung, was da in mich gefahren ist."

Meine Mum nickte und schenkte mir ein sanftes Lächeln. „Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Dein Vater und ich wussten, dass dieser Tag kommen würde und deshalb haben wir entsprechende Vorkehrungen getroffen."

Erleichterung durchfuhr mich und ich spürte, wie sich meine Muskeln entspannten. „Danke. Darf ich erfahren, was mit mir geschehen ist?"

Meine Mum zog die Knie an und schlang die Arme darum. Ihr Herzschlag beruhigte sich etwas. „Die Träne der Zeit wirkt nicht mehr bei dir und deswegen ..."

„Moment mal, Träne der Zeit? Das ..." Träne der Zeit. Natürlich, die Bibliothek in dem Schloss. Eine Träne der Zeit, gibt dem Zeit, der sie nicht hat und nimmt sie dem, der sie hat. Kummer, Reue, Schmerz und Pein, aus diesen Dingen besteht die Träne. Sie macht einen Unsterblichen sterblich und einen Sterblichen unsterblich. Mithilfe der Träne kann jemand in eine Elfe oder in einen Vampir verwandelt werden, aber diese wiederum können auch in einen Menschen, einen Mantîra oder aber in Chanteurs verwandelt werden.

Die Erkenntnis ließ mich erschaudern. Wie von selbst hoben sich meine Hände und ich legte sie auf mein Herz. Kein Schlagen. Kein Laut. Nichts. Mein Blutdurst vorhin, die Schnelligkeit während meiner Konfrontation mit Yanliv ...

„Das bedeutet also, dass ich den Vampir in mir geweckt habe", wisperte ich.

Meine Mum neigte ihren Kopf leicht nach links. „Entschuldige, ich hab dich leider nicht gehört. Was hast du gesagt?"

„Dass ich ... ein Vampir bin. Beziehungsweise war und jetzt wieder bin, richtig?"

Sie nickte.

Ein Gefühl der Enge befiehl mich. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Jede Zelle meines Körpers schrie danach, die Flucht anzutreten, doch wohin sollte ich? Ruhig, Theo. Ganz ruhig. Dir geschieht nichts, hörst du? Wenn dich das schon überfordert, wie sehr wirst du durchdrehen, sobald du alle Antworten erhalten hast? Bleib ruhig.

„Entschuldige, ich ... glaube, ich möchte jetzt allein sein." Anschließend drehte ich mich um und verließ die Küche.

In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich auf mein Bett und starrte zu meinem Schreibtisch. Staubkörner tanzten im Sonnenlicht darauf herum. Wenn ich einst ein Vampir war, wer hat mich dann mithilfe der Träne zu einem Menschen gemacht und warum? Wieso wirkt diese Träne jetzt nicht mehr? Möglicherweise hilft mir meine Gabe weiter.

Vorsichtig legte ich meine rechte Hand auf meine linken Oberarm und schloss die Augen. Nichts. Seufzend öffnete ich wieder die Augen.

So wie es aussieht, kann ich nur bei anderen Leuten dieEssenzen finden und deren Geschichten in Erfahrung bringen. Bei mirfunktioniert das nicht. Dieser Riss, als ich Lilly berührt habe ... Oh,natürlich. Deswegen kam mir das Bild so bekannt vor. Sie ist Lenas Schattègô!


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