Der Traum
Heute
Theo
Kerzengerade schoss ich aus dem Bett hoch.
In dem Zwielicht erblickte ich den riesigen Kleiderschrank. Stille streichelte meine Ohren. Ich atmete aus.
Daheim. Du bist daheim. Es ist alles in Ordnung.
Dennoch brauchte ich eine Weile, bis mein Atem sich wieder beruhigt hatte. Anschließend drehte ich mich nach links zu der weißen Kommode und tippte den Bildschirm meines Smartphones an. Die hellen Ziffern zeigten mir an, dass ich noch mindestens zwei Stunden schlafen konnte.
Was jedoch, wenn ich es wieder sehen würde? Wenn mich mein Unterbewusstsein wieder an jenen Ort losten würde, den ich schon hunderte Male besucht, aber ihn nie richtig erkannt hatte?
Eine Schweißperle floss meine Wange hinab. Schlafen stand erst einmal nicht zur Option. Seufzend schlug ich die Bettdecke zur Seite und tapste ins Badezimmer.
Während ich den Wasserhahn aufdrehte, warf ich einen Blick in den Spiegel oberhalb des Waschbeckens. In dem fahlen Licht konnte ich nicht viel erkennen, aber ich sah deutlich nicht so aus, als hätte ich in letzter Zeit genug Schlaf bekommen. Kopfschüttelnd beugte ich mich zu dem Hahn und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Die Kühle vertrieb die Panik des Traums ein wenig, aber vollständig erloschen war sie nicht.
In diesem Moment erklang ein Maunzen. Sofort drehte ich den Kopf. Lucy lag auf einem Handtuch und starrte mich mit ihren Radaraugen an.
„Hab ich dich geweckt, Süße?", flüsterte ich und beugte mich zu der Katze hinab.
Sie blinzelte.
„Sorry, das war keine Absicht. Hab schlecht geschlafen und dann etwas Wasser gebraucht." Abermals blinzelte sie.
„Träumst du auch manchmal schlecht?", raunte ich und sank neben ihr auf die Knie.
Lucy schloss die Augen und streckte sich, ehe sie sich wieder zusammenrollte.
„Wie auch immer. Schlaf gut, Süße." Nach diesen Worten kehrte ich in mein Zimmer zurück und kroch wieder unter die Bettdecke.
Eigentlich sollte ich mich einfach wieder hinlegen und weiterschlafen. Mit vier Stunden Schlaf würde ich in der Schule nicht viel reißen können und ich durfte es mir nicht erlauben, schlechter in der Arbeit in Geschichte abzuschneiden als beim letzten Mal. Dennoch ... Schon der Gedanke daran, die Augen zu schließen, ließ mich frösteln.
Vielleicht sollte ich es doch mal mit Asmr versuchen. Lisa schwört darauf, also kann es doch nicht schaden.
Nachdem ich mir die Airpods in die Ohren gesteckt hatte, griff ich erneut zu meinem Handy und entsperrte es. Eine ganze Liste an Einträgen erschien, kaum dass ich Asmr in die Suchleiste bei YouTube eingegeben hatte. Von Personal attention über Tapping, mouth sounds, unboxing bis hin zu brushing gab es fast alles.
Toll! Wie finde ich denn jetzt heraus, was mir hilft? Mich durchalle zu klicken, wird auch dauern.
Genervt warf ich mein Handy auf die leere Seite meines Doppelbetts.
„Es war nur ein Traum. Du hattest schon früher Albträume und bist damit fertig geworden. Warum sollte es dieses Mal anders sein?", wisperte eine innere Stimme.
Zum Einen werde ich nicht wie früher meine Eltern wecken und ihnen von dem Traum erzählen. Wie peinlich wäre das denn?! Zum Anderen unterscheiden sich meine bisherigen Albträume von diesem wie das Licht von Schatten. Meine Freunde werden alle noch tief und fest schlafen, ebenso meine Schwestern.
Wobei ... Vielleicht kann Lisa mir helfen. Als sie gestern mit Mum geredet hat, hat sie davon gesprochen, dass sie für das Lektorat ihres neusten Romans eine Nachtschicht würde einlegen müssen. Wird sie mich verstehen? Unmöglich ist es nicht, nachdem, was sie sich alles auszudenken vermag. Dennoch ...
„Hey, Siri, rufe Lisa an!", sprach ich zu meinem Handy gewandt.
Das Display leuchtete auf. Das Freizeichen ertönte.
„Theo, was gibt es?"
„Ich ... hab mies geschlafen und kann nicht wieder einschlafen."
Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. „Hattest du einen Albtraum? Gibt es etwas, das dich beschäftigt?"
„Hm. Also ... Seit meinem Geburtstag träume ich mindestens einmal die Woche das gleiche. Jedes Mal bin ich in einem Schloss oder einer Burg. An den Wänden hängen Kronleuchter und Bilder. Alles ist ... leicht rötlich und dunkel."
„Kannst du die Bilder genauer erkennen?"
„Nur eines. Eine schwarzhaarige Frau, so blass wie du und mit einer verwelkten Rose in der Hand. Zudem bedeckt ein schwarzer Schleier ihr Gesicht."
„Also so ähnlich wie die traurige Witwe."
Darauf zuckte ich mit den Achseln. „Kann sein, ich kenne das Gemälde nicht."
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht unterbrechen. Was weißt du noch? Hörst du etwas, sind da irgendwelche Stimmen oder Laute?"
„Bisher war es immer nur eine Stimme, aber letzte Nacht ... Mehrere. Drei, vier, fünf vielleicht. Sie riefen alle durcheinander und ich habe Explosionen gehört. Dann wieder Schreie. Panisch, ängstlich, wütend."
„Verstehe. Hast du irgendwelche Leute gesehen?"
„Eine sah aus wie auf dem Gemälde, nur eben ohne Schleier und ohne die Rose. Sie ..." Mein Herz schlug schneller und verkrampfte sich. „Sie hat sich etwas gespritzt und dann ... konnte sie kaum noch stehen. Sie hat irgendetwas aus ihrer Hosentasche geholt und etwas gemurmelt."
„Hast du verstanden, was das war?"
„Es war nicht Kosanisch oder eine andere Sprache, die ich kenne. Klang auch nicht wie Thundoror oder sonst etwas." „Ok ..."
„Ja. Wenn ich mich richtig erinnere, hat sie gesagt: Iriva, éro nél! Warum träume ich von einer Person, die eine Sprache benutzt, die ich überhaupt nicht ..."
„Oh mein Gott, Theo! Das ist Dalora, die Sprache der Elfen."
„Die Sprache der Elfen? Aber warum sollte ich ..." „Das weiß ich nicht, aber ich kann dir sagen, was es bedeutet. Wenn du es wissen möchtest." Das Zögern in ihrer Stimme am Schluss gefiel mir nicht.
„Ähm, ok. Schieß mal los."
„Gut, aber du darfst mich nicht dafür verantwortlich machen, dass dir das passiert ist. Der Satz bedeutet: Liebe, finde mich."
„What? Noch kitschiger ging es wohl kaum, oder?"
„Hey, ich habe ihn nur für dich übersetzt."
„Du hast ja Recht. Entschuldige bitte, ich bin ... Ach, ich weiß auch nicht."
„Kein Problem und ich verstehe dich. Geht es dir besser? Denkst du, du kannst noch etwas schlafen?"
Darauf zuckte ich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Gerade bin ich einfach nur verwirrt."
„Verständlich. Du weißt, dass ich keine Traumexpertin bin, aber ich könnte mir vorstellen, dass du irgendwie Elemente von dem Buch Tödlicher Gesang mit dem Film Nachtschimmer verbunden hast und das eben dabei rauskam."
„Wieso Nachtschimmer? Da waren keine Vampire oder so. Also zumindest sah die nicht so aus wie in dem Film und über Im Zwielicht rede ich nicht."
Sie lachte. „Da bist du nicht allein. Nachtschimmer wegen des Schlosses oder der Burg und das alles so rötlich war. Wobei ... Es passt auch zu der Serie Hinter den Portalen so dunkel, also zumindest von der Farbgebung her."
„Gut, aber wie hilft mir das weiter?"
„Das weiß ich nicht. Warte, du meintest, dass du diesen Traum mindestens einmal die Woche hast, seitdem du siebzehn bist."
„Nicht ganz. Dieser Traum war anders. Davor hab ich immer nur dieblasse, schwarzhaarige Frau gesehen. Sie ... stand auf einem Balkonund hat nach draußen in die Nacht geblickt. Am Ende hat sie sichzu mir umgedreht und meinen Namen gesagt. Mehr nicht."
Abermals herrschte Stille für einen Moment am anderen Ende der Leitung. „Wie klang ihre Stimme? Weißt du ihre Augenfarbe noch?"
„Ihre Stimme klang ... schön? Du kennst dich mehr damit aus, woher soll ich das wissen?"
„Kannst du die Stimme mit einer Sprecherin vergleichen?"
„Hm ... Nicht so wirklich, aber die kosanische Stimme von Arniva aus Die Herrin des Lichts kommt ihr am nächsten."
„Ok. Und die Augenfarbe?"
„Grün. Ein intensiveres Grün als bei Mutti."
„Alles klar. Danke, dass du mich angerufen hast, auch wenn ich dirleider nicht groß weiterhelfen kann. Versuch noch etwas zuschlafen und geh zur Not nicht in die Schule."
„Ganz sicher nicht! Ich schreib in Geschichte was und wenn ich eine 5 bekomme, verhaue ich meinen Schnitt."
Ein Seufzer erklang. „Es ist deine Sache, aber du bist nicht irgendwie dumm oder so, wenn du kein eins Komma noch was Abi hast. Schau mich an: Abi mit 3,0 gemacht und studiere trotzdem." Sie begreift es nicht.
„Hm. Danke für deine Zeit."
„Gerne und wenn du möchtest, mache ich mir weitere Gedankendarüber."
„Das musst du nicht und bitte, erzähle niemandem davon. Besonders unseren Schwestern nicht."
„Keine Sorge, ich schweige wie ein Grab."
„Danke. Dann mach's mal gut."
„Tschüss."
Anschließend betätigte ich das rote Symbol auf meinemHandydisplay.
Wenn ich wegen eines Traums meine Schulnoten aufs Spiel setzte, würden mich alle für verrückt halten. Es war ja nur ein Traum. Sonst nichts.
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