Der Test

Vor dem Zeitsprung

Henning

Meine Welt stand völlig Kopf. Es kostete so viel Kraft, nicht die ganze Zeit zu Christina zu starren, ließ ihre Schönheit doch beinahe den ganzen Raum erleuchten.

Verdammt nochmal! Ich muss mich zusammenreißen. Kann Ria nicht bald zurückkommen? Dann habe ich etwas anderes, auf das ich mich konzentrieren kann.

Nichello hob eine perfekt aussehende Augenbraue, woraufhin ich schluckte.

Warum hat Christina mich nur nach einem Obdach gefragt? Will sie ... Nein, das glaube ich nicht. Warum sollte es sie kümmern? Meinetwegen hat sie eine gute Freundin und auch ihre Tochter verloren. Bestimmt wollte sie nur höflich sein, das ist alles.

Die Schritte, die sich näherten, kamen einer Erlösung gleich.

Ria kehrte mit einem weißen Buch in den Händen zu uns zurück. „So, das hier habe ich gesucht." Nach diesen Worten setzte sie sich wieder neben mich und blätterte ein paar Seiten um. „Kurz vor ihrem Tod übergab meine Oma mir ihr Tagebuch und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Zeit ebenfalls zurückdrehen konnte. Nur so ergeben manche ihrer Einträge Sinn." Ria richtete sich auf und reichte Christina das aufgeschlagene Tagebuch.

Diese nahm es entgegen. „Erstaunlich. Wann immer sie die Zeit zurückdrehte, erschien eine Art Portal, durch das sie hindurchgehen musste, um den Sprung zu vollziehen. Sobald sich die Zeitlinien wieder trafen, tauchte erneut ein Portal auf, durch das sie abermals gehen musste."

Mein Herz schlug schneller.

Ria nickte.

„Ist sie jemals nicht durch das zweite Portal gegangen?", sprach Nichello.

Ria zuckte mit den Schultern. „Dazu habe ich nichts in ihren Einträgen gefunden, aber ich vermute nicht. Könnte gut sein, dass sie dann auf ewig im Zeitnirwana gefangen gewesen wäre."

„Leider steht hier nichts dazu, wie sie diese Fähigkeit aktiviert hat." Christina gab Ria das Buch zurück und lehnte sich wieder nach hinten an die Lehne des Sofas.

„Spürst du etwas, Ria? Ein Ziehen, eine Wärme, irgendetwas?" Nichello schwang das rechte Bein über sein linkes.

Ria biss sich auf die Unterlippe und abermals pulsierten die Muster auf ihrer Wange.

„Möglicherweise hängt es mit ihren Emotionen zusammen", murmelte ich.

Christina blinzelte, dann jedoch trat Verständnis in ihre meerblaue Augen. Ach, verdammt! Die ehemaligen Vampire haben ihre super scharfe Sinne ebenfalls behalten dürfen. Das darf ich nicht vergessen!

„Wie fühlst du dich gerade?" Nichello nickte der jungen Frau zu.

Diese kaute auf ihrer Unterlippe. „Nervös, aufgewühlt, aber auch leicht hoffnungsvoll. Irgendwie will ich unbedingt daran glauben, dass ich Sarah zurückholen kann, aber gleichzeitig fürchte ich mich davor, dass ich die Zeit nicht weit genug zurückdrehen kann."

Da. Wieder das Pulsieren.

„Wir scheinen uns in die richtige Richtung zu bewegen. Versuchen wir es einfach." Christina verknotete ihre Beine zu einem Schneidersitz.

Ria schloss die Augen und atmete tief ein. Das Pulsieren verstärkte sich.

Meine Hände schwitzten leicht, während ich den Blick nicht von ihr wandte.

„Konzentriere dich auf deine Gefühle. Lass dich davon durchströmen", sprach Nichello.

Das Muster auf Rias Wange pulsierte mittlerweile so stark, dass ich glaubte, es würde gleich explodieren.

„Da ... Etwas ist da", wisperte Ria und klang dabei so, als würde sie einen schweren Gegenstand nach unten drücken.

Christina lehnte sich ein Stück näher zu Ria. „Sehr gut. Verweile gedanklich unbedingt bei dem Gefühl, das du gerade empfindest. Weiche nicht davon ab."

Ria breitete die Arme aus. Diese zitterten leicht.

In diesem Moment erklang ein Geräusch, als würden Kleidungsstücke zerreißen. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich eine Bewegung. Sofort drehte ich den Kopf und erstarrte. Unmittelbar neben Ria schwebte ein lila, flimmerndes, kreisrundes Etwas über dem Boden. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Sehr gut. Du hast es geschafft." Aus Nichellos Stimme vernahm ich deutlich den Respekt und das Lob. „Am Besten begleitet dich jemand, wenn du durch das Portal trittst."

Christina löste die Verknotung ihrer Beine.

Ria nickte und wischte eine Schweißperle von ihrer Stirn.

Einen Moment lang herrschte Stille.

„Gut, dann bis später." Christina stand auf und ging mit Ria zu dem Etwas.

Mein Magen verkrampfte sich. Sie werden doch nicht ernsthaft ... Was, wenn etwas schiefgeht und ... Woher kommen denn jetzt diese Gedanken? So kenne ich mich doch gar nicht.

Ria reichte Christina die Hand. Diese nahm sie und drehte sich dann noch einmal zu Nichello und mir um. „Bis später."

Dann gingen sie und Ria durch das Etwas. Dieses surrte kurz und verpuffte dann.

„Wie ... Wie lange müssen wir warten, bis sie zurückkommen?", sprach ich.

Nichello schenkte mir ein Lächeln. „Ich weiß nicht, wie weit Ria die Zeit zurückgedreht hat, aber so wie ich sie einschätze, wird sie keine große Spanne versucht haben."

Darauf nickte ich und atmete tief durch.

„Wie geht es dir eigentlich?" Nichello winkelte seine langen Beine an.

„Mir? Ähm, also, wenn ich ehrlich sein soll, dann ..."

Ein Summen und dann tauchten Ria und Christina an der gleichen Stelle auf, an der sie verschwunden waren. Soweit ich erkennen konnte, waren sie auch unverletzt. Warum zur Hölle kümmert mich das?

„Wie weit seid ihr denn zurückgereist? Das hat nicht einmal fünf Minuten gedauert, ehrlich."

Ria grinste mich nur an. „Damit hätten wir ein weiteres Rätsel gelöst, vielen Dank, Henning." Wie bitte? Wovon redet sie da? Klärt mich bitte jemand ... Das werden sie nicht. Sie haben mich bisher noch nicht gefoltert und Christinas Blick nach wird das auch nicht geschehen, aber trotzdem ... Damit komme ich klar. Jeder hat das Recht auf Geheimnisse.

„Ria hat die Zeit um eine Stunde zurückgedreht." Christina nahm wieder neben ihrem Mann Platz. „Dass wir nicht sofort wieder aufgetaucht sind, nachdem wir verschwunden waren, beweist, dass auf der Ebene zwischen den Zeitachsen ebenfalls Zeit vergeht, wenn auch deutlich langsamer." Ebene zwischen den Zeitachsen? Was soll das denn jetzt heißen? Verstehe ich als Einziger nicht, was hier abläuft? Scheint so.

„Eine Stunde reicht allerdings nicht, um unseren Plan in die Tat umzusetzen." Ria ließ sich neben mir aufs Sofa fallen. „Um das zu gewehrleisten, müsste ich uns mehrere Wochen zurücktransportieren. Wenn nicht sogar Monate."

„Erst einmal solltest du dich ausruhen. Das hat dich ziemlich viel Kraft gekostet und wir müssen uns genau überlegen, wie wir vorgehen, um an unser Ziel zu gelangen", sprach Nichello.

Ein Seufzer entwich Ria. „Gut, wie du meinst. Aber lange werde ich mich nicht ..."

Schon stand Christina und lief Richtung Küchentür. Was hat sie jetzt wieder in den Gedanken gelesen, dass sie veranlasst hat, den Raum zu verlassen? Wieso kümmert mich das eigentlich? So sollte es nicht ablaufen.

„Ria, ich glaube, du hast immer noch nicht die Frage beantwortet, weshalb du Henning mit in deine Wohnung genommen hast." Nichello legte seine Hände übereinander.

Der Kloß von vorhin kehrte in meinen Hals zurück.

„Hat deine Frau dich noch nicht aufgeklärt?" Ria verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. „Gibt es etwa Dinge, die Christina dir nicht erzählt?" Was zur ... Meint sie das ernst? Ria kann das doch nicht wirklich glauben, oder? Christina würde nicht ... Nicht nach allem, wie ich sie einschätze. Sekunde, warum denke ich das? Die Möglichkeit besteht durchaus, dass sie die ganze Zeit ein falsches Spiel gespielt hat. Immerhin kann niemand ihre Gedanken lesen, oder?

Nichello schüttelte leicht den Kopf. „Christina muss mir nicht alles erzählen. Wie soll sie mich denn so überraschen können? Über die wichtigsten Angelegenheiten reden wir und um deine Frage zu beantworten: Nein, das hat sie nicht. Sie hat mir nur erzählt, dass ich deine Beweggründe verstehen würde, wenn ich ihre Gabe besäße und ..."

„... ich würde niemals einfach etwas erzählen, wenn ich nicht die Erlaubnis der betreffenden Person zu erhalten, dies zu tun", sprach Christina und kehrte mit einem Glas Wasser zurück. Dieses reichte sie Ria.

„Vancari."

„Keine Ursache." Christina ließ sich neben Nichello wieder nieder.

Stille trat ein. Soll ich etwas sagen? Christina schaut mich so merkwürdig an. Ihre Augen. Dieses Blau, so unergründlich und tief wie das ... Nicht schon wieder! Reiß dich gefälligst zusammen! Orchideen, Orchideen, Orchideen.

„Was auch immer dich dazu gebracht hat, Henning mit zu dir zu nehmen, bisher hat er nicht versucht, uns etwas anzutun." Nichello lächelte mich an.

Ria trank einen Schluck aus ihrem Wasserglas.

Christina drückte die Hand ihres Mannes. „Wenn ich mit meiner Theorie richtig liege, wird dies auch nicht geschehen." Theorie? Hat sie etwa eine Idee, eine mögliche Erklärung für mein Verhalten?

Christina nickte. „Um herauszufinden, ob ich richtig liege, müsste ich einen Test durchführen und dazu brauch ich Lins und Theos Unterstützung."

„Glaubst du wirklich, dass sie ihm helfen werden? Du kennst Lins Gerechtigkeitssinn." Nichello strich eine Strähne goldenen Haares aus Christinas Gesicht. Wie sich ihr Haar wohl ... Schluss damit! Sie ist vergeben, verdammt nochmal! So habe ich doch noch nie von einer anderen Frau gedacht, seit ich mit meiner Herrin zusammenwohne.

Christinas Mundwinkel zuckten. „Wie könnte ich den vergessen? Du weißt jedoch, welche besondere Fähigkeit Theo sein Eigen nennen darf."

Nichello nickte.

„Was vermutest du?" Ria nahm noch einen Schluck und wandte sich dann wieder Christina zu.

Diese drehte ihren Kopf zu mir und sah mich so eindringlich an, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. „Im Speichel einer Blavishka könnte sich ein Enzym oder etwas anderes befinden, dass langfristig gewisse Auswirkungen auf die Klienten hat."

„Dann werde ich Lin und Theo kontaktieren." Kaum waren diese Worte verklungen, als Nichello schon die Augen schloss.

Die blaue Sonne auf seinem rechten Handrücken schimmerte leicht. Ah, er nutzt wohl die Telepathie. Zu schade, dass ich diese Fähigkeit nicht besitze. Manchmal wäre das wirklich hilfreich gewesen.

Ria leerte ihr Glas und stelle es auf den kleinen Tisch.

In diesem Moment öffnete Nichello wieder die Augen. „Sie sind so schnell hier wie möglich und die anderen Lynas werden sie ebenfalls begleiten."

Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Noch mehr zauberhafte Damen. Wie soll ich das bloß aushalten?


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