Das Wiedersehen

Heute

Theo

Kaum, dass die Chanteuse die Tür zum Speisesaal geöffnet hatte, krochen vertraute Düfte in meine Nase. Wärme wie die eines Sonnenstrahls durchflutete mich. Tatsächlich. Sie sind wirklich hier.

„Marie, Lisa, Ria, schön euch zu sehen", rief ich und trat zu meinen Schwestern, die an einer der langen Tafeln im Saal saßen.

„Die Freude ist ganz unsererseits." Lisa stand auf.

„Wie geht es euch und was macht ihr hier?", sprach ich.

Meine Schwestern tauschten Blicke untereinander aus.

„Mum hat uns angerufen, während sie sich auf den Weg zu Christina gemacht hat und dann ..." Ria senkte den Blick. „... haben wir uns zusammengereimt, was passieren könnte und sind vorsichtshalber schon einmal hierher gekommen."

Lisa schenkte mir ein Lächeln und irgendwie erschien es mir, dass ihre pinken Haare noch stärker leuchten würden. Entweder stimmt das, oder Mum hat ihnen mehr erzählt, als sie mir verraten dürfen. Was auch immer, jedenfalls bin ich froh, sie zu sehen.

„Verstehe. Gut, ich nehme an, dass ich euch nicht über unsere Situation aufklären muss, oder?"

„Wir wissen von den Schattègî und ihrem Versuch, bei euch einzudringen." Ria erhob sich ebenfalls.

Ich nickte. „Sehr gut, dann vergeuden wir damit keine Zeit. Ántirchis und ich haben einen Plan, wie wir diese Leute besiegen können. Dafür brauchen wir deine Hilfe, Ria."

Meine Schwester atmete tief ein. „Sicher, dass das eine gute Idee ist? Du hast in den letzten Tagen ziemlich viel durchmachen müssen und ich möchte dich nicht mit noch mehr Verwirrung beladen."

Lisa machte einen Schritt auf mich zu und holte tief durch die Nase Luft. „Deine Sorgen sind unbegründet, liebe Ria. Die Träne der Zeit hat ihre Wirkung eingebüßt." Davon wissen sie also auch. Irgendwie ergibt das schon Sinn, jene Leute nahe bei mir zu haben, die alles wissen, auch wenn ich mir wünschte, sie würden meine Fragen beantworten. Dieser elende Duft der Erkenntnis! Wer hat sich das nur ausgedacht?

„Da wir das geklärt haben, sollten wir anfangen, nicht wahr?" Marie klatschte in die Hände und erhob sich schwungvoll von ihrem Stuhl.

„Ohne Vorbereitung? Wir wissen nicht einmal, wohin ich sie am besten schicken soll", entgegnete Ria.

„Geschweige denn davon, dass die Schattègî in deiner Nähe sein müssen." Lisa verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken. Ria kann Leute irgendwohin schicken? Interessant und das kommt mir auch so bekannt vor. Trotzdem kann ich nicht sagen, woher.

„Das meinte ich doch, als ich davon sprach, dass wir beginnen sollten." Marie schenkte meinen Schwestern ein Lächeln. „Nele, könntest du nicht herausfinden, wo die Schattègî sich momentan aufhalten?"

Die Chanteuse, die mich hierher gebracht hatte, hob die Hände an ihre Schläfen und schloss die Augen. Zumindest weiß ich, wozu eine Chanteuse in der Lage sein kann. Ein Punkt, der mich mal nicht überfordert oder verwirrt. Ihren Plan werden sie auch ohne mich schmieden können, aber was soll ich tun? Einfach warten, bis wieder Erinnerungen zurückkehren? Das gefällt mir nicht und weckt in mir nur das Gefühl, meine Zeit zu vergeuden. Aber, was kann ich groß schon anstellen? Meine Fähigkeit hilft mir nicht weiter und als Vampir ... Moment, aber klar.

Nele summte etwas vor sich hin, während ich meinen Schwestern noch ein kurzes Lächeln schenkte und mich dann umdrehte. Anschließend verließ ich den Speisesaal.

Lisas Duft kroch weiterhin auf mich zu und aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass sie mir folgte.

Ein Seufzer entwich mir und ich blieb stehen.

„Was hast du vor?", sprach sie, als sie mich erreichte.

„Die Bibliothek nach einem daloranischen Wörterbuch durchsuchen. Laut Ántirchis sollen die anderen Schattègî damit zumindest eine Weile in Schach gehalten werden können. Vielleicht finde ich dann noch eine Möglichkeit, dieses Haus so lange zu sichern, bis alle Vorbereitungen abgeschlossen sind."

Meine Schwester nickte. „Geht es dir wirklich gut? Hast du Mum und Dad nochmal auf das angesprochen, was du gehört hast?"

Ich schüttelte den Kopf. „Irgendwie glaube ich nicht, dass sie mir geantwortet hätten und ich bleibe dabei, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass Dad eine Affäre hatte. Dann wurde ich vermutlich adoptiert, aber momentan gibt es wichtigere Angelegenheiten, auf die wir uns konzentrieren sollten."

Lisa legte eine Hand auf meinen Unterarm. Ihre Haut brannte nicht derart wie die meiner Eltern auf meiner. Seltsam. „Wie du meinst. Wenn du trotzdem jemanden zum Reden brauchst, darfst du dich gerne an mich wenden. Zwar werde ich dir nicht alles verraten dürfen, aber ich höre dir dennoch zu. Versprochen."

Ihre Worte schenkten mir Trost, gleichzeitig spürte ich, wie sich ein schweres Gewicht von meinen Schultern verabschiedete. „Danke, Schwesterherz. Das weiß ich wirklich zu schätzen. Geh besser zu den anderen zurück. Marie wird nichts unternehmen wollen, ohne dass du zumindest deine Meinung kundtun konntest."

Lisa lachte. „Wohl wahr. Viel Erfolg bei der Suche." Nach diesen Worten drehte sie sich um und ging davon.

Nach einer Weile setzte ich mich ebenfalls wieder in Bewegung.

Stille streichelte meine Ohren, kaum dass ich die Bibliothek betreten hatte. Wohin sind meine Eltern gegangen? Hoffentlich in ein ruhiges Zimmer. Mutti braucht jetzt erst einmal Ruhe und Dad wird sich gut um sie kümmern. Hier kommt ihm seine Ausbildung zum Krankenpfleger wenigstens zugute. Egal, schauen wir mal, ob wir ein daloranisches Wörterbuch finden. Brauche ich wirklich eines? Dalora ist doch meine erste Muttersprache, also sollte ich keines benötigen. Auf Anhieb fällt mir aber kein Zauber ein. Merkwürdig.

Anschließend setzte ich mich wieder in Bewegung und lief die Regalreihen entlang. Es gab zu allen möglichen Themen Bücher, aber kein Wörterbuch zu der Sprache Dalora. Sehr merkwürdig. Warum ... Was ist das? Chronik über die Familie Rabenfeder. Der Name kommt mir sehr vertraut vor. Als hätte ich ihn unzählige Male gehört und irgendwie ... Fühlt er sich ... warm an. Haben Vampire auch Synästhesie, oder was?

Kopfschüttelnd zog ich das Buch heraus und schlug es auf. Buchstaben standen auf der ersten Seite. Faszinierend. In der Stadtbücherei lag der Fall anders vor. Warum nur?

„Du wirst dort nicht die Antworten finden, die du suchst", sprach da Ántirchis.

„Vielleicht nicht die primären, aber die sekundären möglicherweise", entgegnete ich und drehte mich um.

„Diese Möglichkeit besteht natürlich." Ántirchis lächelte mich an.

„Hast du meine Eltern irgendwohin gebracht?"

„Oh, nein. Dein Vater würde niemals riskieren, dass ich seine Ehefrau auch nur anfasse."

„Verstehe. Woher rührt eigentlich sein Misstrauen dir gegenüber? Liegt es daran, dass du ... nun ... einst so warst wie Arimà und der Rest der Schattègî?"

Ántirchis wickelte eine lose, goldene Strähne um ihren rechten Zeigefinger. „Zum Teil Ja, zum anderen Teil hatten er und ich in der Vergangenheit eine Begegnung, die für ihn keinen Anlass zur Freude gab." Ok. Verstehe, dass mein Dad dann nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen ist. Allerdings hat er mir mein ganzes Leben ... Zumindest mein ganzes Leben bei ihnen gepredigt, wie wichtig Vergebung sei und dass man die Vergangenheit ruhen lassen solle.

„Weißt du, ob es hier ein daloranisches Wörterbuch gibt?", sprach ich.

Ántirchis nickte. „In der Tat, aber leider wirst du hier auf keines stoßen und du brauchst auch keines."

Meine Fingerspitzen kribbelten. „Weil Dalora meine Muttersprache ist, ich weiß. Dennoch fällt mir nichts ein, wie wir die Schattègî irgendwie behindern können, sobald Ria ihren Plan für sie umsetzt. Geschweige denn wie ich das Haus mit einem Schutzzauber belegen könnte, damit wir mehr Zeit haben."

Ántirchis trat auf mich zu und legte eine Hand auf meinen Unterarm. Die Wärme ihrer Haut überraschte mich. Seit meiner Rückverwandlung hatte ich niemand berührt, der meine Körpertemperatur teilte.

„Verbirgst du deine Reißzähne so gut, dass ich sie bisher einfach nicht bemerkt habe, oder was wird hier gespielt?"

Sie lachte. „Eine sehr kluge Frage, nicht wahr." Mit dem nächsten Wimpernschlag verschwand sie und ein Mann mit langen, braunen Haaren stand vor mir.

Nein, kein Mann. Dieser Duft nach Pfefferminze und der See ... Scheiße! Olléchin!

„Wo ist Ántirchis? Was hast du mit ihr gemacht?" Flammen der Wut glommen in mir auf. Ich ballte die Fäuste.

„Wie rührend, dass du dich um sie sorgst, wenn du dir mehr Gedanken um deine eigene Familie machen solltest." Olléchin grinste mich an.

„Das kommt von der Person, die Ántirchis geliebt hat", zischte ich. Sekunde, was? Woher ... Aber es stimmt. Das weiß ich zu hundert Prozent.

„Geliebt? Oh, mein lieber Theo, das stimmt nicht. Wir Schattègî vermögen es nicht zu lieben, dafür sind wir ... zu dunkel. Begehren, Lust empfinden, das hingegen stellt kein Problem für uns dar." Gut, das hätte mir klar sein müssen.

„Danke, dass du mich mit deiner Weisheit beehrt hast. Was willst du von mir und wie bist du überhaupt hierher gekommen? Kann mich nicht daran erinnern, dich in letzter Zeit getroffen zu haben und ..."

Olléchin schüttelte den Kopf und gluckste. „Lilly hatte Recht. Es ist schon köstlich, wie du nach Erklärungen suchst, obwohl du das gar nicht bräuchtest. Die Ergebnisse dieser Prozesse ... Ja, bieten einen gewissen Unterhaltungswert."

Ein Schauer jagte meinen Rücken hinab. Mir musste etwas einfallen und das schnell. „Du wirst sicherlich nicht nur hier sein, um dich an mir zu erfreuen, oder? Über meine verzweifelten Versuche kannst du auch andernorts lachen."

„Das stimmt. Du kannst dir nicht denken, weshalb ich dich aufgesucht habe? Wozu ich in der Lage bin? Du hast keinen blassen Schimmer, nicht einmal die leiseste Ahnung?"

Olléchin, Olléchin, Olléchin. Aber ja, er ist Nichellos Schattègô und verfügt damit über die Fähigkeit, vergessene oder gelöschte Erinnerungen wieder herzustellen! Scheiße! Linvay hat mich vor ihm gewarnt.

Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. „Was hast du davon, wenn die Salinara mich orten, aber dieses Schloss nicht betreten können?"

„Ach, wie kommst du darauf, dass sie nicht eintreten werden können? Hat jemand aus deiner Familie dir das gesagt? Ántirchis? Damit ein Schattègô oder jemand der Schwesternschaft einen Ort betreten kann, muss diesen Leuten entweder vertraut, oder sie müssen beschworen werden. Letzteres kann ich sehr wohl tun." Vertrauen. Das erklärt, weshalb Lilly einfach so in meinem Zimmer aufgetaucht ist und weshalb Ántirchis mir diese Frage gestellt hat, bevor sie uns geholfen hat. Was nun?

„Du wirst mich nicht kampflos anrühren."

Mein Gegenüber schüttelte leicht den Kopf. „Wir werden nicht kämpfen, keine Sorge. Es wäre eine Verschwendung, deine Energie zu verbrauchen, bevor es richtig losgeht, nicht wahr? Nein, Nein, ich werde einfach mit dir reden. Wie zivilisierte Gentlemen das eben tun."

Olléchin trat auf mich zu. Er öffnete den Mund und bewegte die Lippen. Kein Ton drang an meine Ohren und dann spürte ich, wie mich dunkle Gewässer nach unten zogen.


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