Abschied

Vor dem Zeitsprung 

Christina 

Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben. Der Himmel weinte. Wie passend an dem heutigen Tag. 

Ich seufzte und drehte den Kopf von der Fensterscheibe weg. 

Am liebsten würde ich das Haus nicht verlassen. Würde einfach eine Kerze anzünden und ihrauf diese Weise gedenken, doch ich durfte Ria nicht im Stich lassen. Nicht nach allem, was sie für mich getan hatte. 

Schritte erklangen. Der Duft nach Pfefferminze und dem Meer streichelte meine Nase. 

„Bist du bereit?" Nichello betrat das Wohnzimmer. 

„So bereit wie möglich an einem derartigen Tag", entgegnete ich und ging zu ihm. 

Mein Mann nahm meine Hände und drückte sie. Die Wärme seiner Haut schenkte mir etwas Energie. „Wir schaffen das. Gemeinsam haben wir schon so viel gemeistert, da werden wir auch dies überstehen." 

„Das stimmt, aber sich zu verabschieden, ist nie einfach. Selbst nach allem, was wir im Großen Galaktischen Krieg erlebt haben, fällt es immer noch schwer." 

Nichello beugte sich nach vorne und drückte einen Kuss auf meine Stirn. „Lass uns gehen." 

Es kostete so viel Kraft, meine Hände aus seinen zu befreien und das Wohnzimmer zu verlassen. 

In der Eingangshalle pflückte ich meinen langen schwarzen Mantel von der Garderobe und schlüpfte hinein. Nichello knotete die Schnürsenkel seines rechten Schuhs zusammen. Ein Schauer fuhr meinen Rücken hinab. Innerlich zitterte ich. 

Schließlich öffnete mein Mann die Haustür und wir traten hinaus in den Regen. Keine Paparazzi standen dort, oder lauerten hinter den Hecken. Zumindest das. 

Nichello reichte mir seine Hand. „Für Ria", wisperte er. 

„Für Ria", hauchte ich und verschränkte meine Hand mit seiner. Anschließend schloss ich die Augen. „Körper, trage mich zur Maximilanskirche in Sélun", raunte ich. 

Einen Herzschlag später zog mich etwas am Bauchnabel fort. 


Die Armen! 

Welch ein Jammer, sie war doch noch so jung. 

Warum nur musste sie gehen? Sie hatte ihr ganzes Leben doch noch vor sich. 

 Meine Schuld, alles meine Schuld! Wenn ich doch nur dem Deal zugestimmt hätte! 

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals bei den Gedanken der Anwesenden und ich schlug die Augen wieder auf. 

Dutzende Leute tummelten sich auf dem Platz vor der Kirche vor uns und liefen alle zu einer Gruppe von drei Personen. 

Nichello setzte sich ohne ein weiteres Wort in Bewegung und ich folgte ihm. Jeder Schritt fiel schwerer als der vorherige. 

Wir bahnten uns einen Weg durch die Massen zu den drei Leuten. Schon von unserem Startpunkt aus hatte ich die Frau an der linken Seite erkannt. Das dicke schwarze Haar und die blau-grünen Augen ließen keinen Zweifel zu: Ria. 

Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Tränen traten in meine Augen. Jedes Wort, das mir einfiel, erschien mir nicht ausreichend. Wie sollte irgendetwas ihr überhaupt Trost spenden können nach ihrem Verlust? 

Du musst nichts sagen, wenn du nicht möchtest. Glaub mir, ihr hilft es schon sehr, dass wir gekommen sind", sprach Nichello in meinem Kopf. 

Daraufhin nickte ich bloß. 

„Mein herzliches Beileid, Ria." Mein Mann blieb vor der Frau stehen und senkte den Kopf. 

Die Angesprochene schniefte. „Vielen ... Vielen Dank. Es ..." 

Der blauäugige Mann neben ihr legte eine Hand auf ihre Schulter. „Nichello, Christina, es freut uns sehr, dass ihr den Weg auf euch genommen habt", sprach er. 

Mein Mann und ich nickten. 

„Nach allem, was ihr in der Vergangenheit für uns getan habt, erschien es uns nur richtig, euch an diesem Tag nicht allein zu lassen", erwiderte Nichello. 

„Das wissen wir sehr zu schätzen", meinte die Frau links neben Ria und neigte den Kopf, so dass der schwarze Schleier ihr Gesicht ein Stück freigab. Ein goldener Kringel zierte die blasse Haut am Kinn und ließ damit keinen Zweifel mehr zu, wen ich vor mir hatte. Linvay, auch wenn jeder von uns sie Lin nannte. 

Abermals bildete sich ein Kloß in meinem Hals. „Ria, darf ... darf ich dich umarmen?", krächzte ich. 

Sie schluchzte, machte jedoch einen Schritt auf mich zu. 

In der nächsten Sekunde hielt ich sie schon in meinen Armen. Die Tränen flossen meine Wangen hinunter. Die Geräusche um mich herum wurden gedämpft. Die Farben verblassten. 

Ein Blitz riss mich zurück in die Gegenwart. 

Ich ließ Ria los und drehte den Kopf. Ein genervtes Stöhnen verließ meinen Mund. „So viel zum Thema, die Presse schenkt uns an diesem Tag einmal Ruhe", sprach ich und fuhr mit dem Ärmel meines Kleids über meine Wangen. 

„Theo, sollen wir uns darum kümmern?" Nichello nickte dem Mann neben Ria zu. 

Dieser lächelte. „Sehr gerne doch." 

Die Beiden gingen mit langen Schritten auf die Paparazzi zu. 

In diesem Moment gesellten sich drei weitere bekannte Stimmen zu den anderen in meinem Kopf. Der Duft nach Agaven und Rosen vertrieb die Kälte der Trauer ein wenig aus meinem Körper. 

„Hey zusammen!" Maria, Lena und Vanessa traten zu uns. 

Ria schenkte ihnen nur ein Nicken. 

„Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt", sprach Lin. 

„Aber selbstverständlich." Lena streckte ihre Hände nach Ria aus. „Mein aufrichtiges Beileid, liebe Freundin. Von Christina einmal abgesehen kann niemand von uns auch nur ansatzweise erahnen, was gerade in dir vorgehen muss." 

Rias Mundwinkel zuckten, doch sie hob sie nicht. „Danke", hauchte sie. 

„Jederzeit. Wenn du möchtest, können wir die übrigen Gäste in Empfang nehmen und du gehst mit Lin schon einmal in die Kirche", sprach Maria. 

„Würdet ... würdet ihr das wirklich ..." Rias Stimme brach. 

„Wenn meine Frau sich etwas in den Kopf gesetzt hat, fällt es schwer, sie davon abzubringen." Lena wuselte kurz mit ihrer behandschuhten linken Hand durch Marias rote Lockenpracht. 

Ria nickte. Sie senkte den Kopf und wandte sich der Kirche zu. 

Wie ein Schatten folgte Lin ihr. 

„Wie geht es dir?" Maria schenkte mir einen Blick. „Irgendein Anzeichen, dass die Ärzte sich doch getäuscht haben könnten?" 

„Leider nicht", flüsterte ich mit belegter Stimme. 

Lena legte eine Hand auf meinen Unterarm. „Es tut mir so leid. Wenn wir irgendetwas für dich tun können, gib einfach Bescheid." 

Meine Hals fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an. Neue Tränen kullerten meine Wangen hinab. Abermals verlor die Umgebung an Farben und Geräuschen. 

In diesem Moment nahmen die Lautstärken von Theos und Nichellos Stimmen in meinem Kopf wieder zu. Wenig später berührte mich etwas Warmes an der Schulter. 

 „Verzeih, aber manche Reporter wollten sich einfach nicht abwimmeln lassen. Wie fühlst du dich?", raunte Nichello in meinem Kopf. 

Ganz ehrlich, ich bin froh, wenn wir wieder zuhause sind. Noch hat mich niemand mit Fragen belästigt, da sich alle auf Ria konzentrieren, aber irgendwann ...

Mein Mann ergriff meine Hand. „Wir gehen auch schon einmal in die Kirche. Bis gleich", sprach er. 

Lena, Maria und Vanessa nickten. 

Wortlos lief ich los. 

Die kühle Luft in dem Gebäude ließ mich zittern. Der Sarg aus Mahagoniholz vor dem Altar schien leicht zu wispern. Mich zu sich zu rufen. Mich einzuladen, neben der Toten Platz zu nehmen. 

„Atme. Atme, Christina. Ein und wieder aus", sprach eine innere Stimme. 

 „Du machst das ganz toll, mein Herz. Wir haben bald unsere Plätze erreicht. Ehe du dich versiehst, haben wir die Beerdigung hinter uns gebracht und ich kann dich zuhause wieder auf andere Gedanken bringen." Eine leichte Müdigkeit lag in Nichellos Unterton und ich schluckte. 

Sobald wir zuhause sind, nehmen wir uns in Ruhe Zeit, um uns zu verabschieden. Wie ungerechtfertigt wäre es von mir, dich auszuschließen, obwohl du doch viel mehr darunter leidest als ich", sprach ich. 

Nichello nickte. Eine Träne kullerte seine Wange hinab. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten wir unsere Plätze erreicht. Niemand saß neben uns. Ein Stich durchfuhr mich. 

Meine Familie. Sie hätten ... Nein! Ria hatte richtig gehandelt, indem sie sie nicht eingeladen hatte. In den letzten achtzig Jahren hatte ich weit mehr als genug Aufmerksamkeit bekommen. 

Mit einem Seufzer nahm ich auf der blank polierten Bank Platz. 

Nichello ließ meine Hand nicht los, als er sich niederließ. Nicht ein einziges Mal. 

 Mehr und mehr Stimmen traten in meinen Kopf. Ich atmete tief ein und drückte Nichellos Hand. 

Leise Stimmen drangen an meine Ohren. 

 Schritte näherten sich. 

Vertraute Düfte umwehten mich. 

Vanessa, Lena und Maria nahmen in der Reihe vor Nichello und mir ihre Plätze ein. 

Soll ich anschließend mit zu euch? Es würde mir nichts ausmachen und Maria hat auch nichts dagegen." Lenas ruhige Stimme ließ mich wieder weinen. 

Danke, aber erstmal brauchen wir Zeit für uns. Nichello macht sich derart Vorwürfe, dass ich manchmal Angst habe, er könnte sich selbst verletzen.

Nehmt euch alle Zeit, die ihr braucht. Wenn wir irgendetwas tun können, gebt Bescheid. Ihr seid nicht allein.

Vancari. Für alles.

Da verstummten die Gespräche. Die Stille kroch meine Wirbelsäule entlang. Suchte nach einer Pore, um in meinen Körper zu gelangen. Meine Hände schwitzten. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. 

Dann wieder Schritte. Der Duft nach Weihrauch tanzte um meine Nase, gemischt mit etwas Zimt. 

Zwei Priester in schwarzer Kleidung schritten den Gang der Kirche entlang und schwenkten dabei ihre Gefäße, aus denen die Gerüche kamen. Vor dem Sarg verbeugten sie sich und gingen dann an jeweils eine Seite. 

Nun gesellte sich eine vertraute Stimme zu den anderen in meinen Kopf. Ihre Tiefe ließ meinen Schädel vibrieren. Meine freie Hand zuckte, doch ich hob sie nicht. 

„Gestalt ist vergänglich. Der Geist weilt ewig!", rief der Priester, der nun den Gang entlangschritt. Seine dunkelrote Robe schimmerte bei jedem Schritt. 

Die beiden Priester wiederholten seine Worte. 

Ein Rascheln. 

Wie in Trance erhob ich mich. Nichello folgte meiner Bewegung und wenig später standen alle Gäste. 

„Die Zeit ist ein Fluss. Sie trägt uns an verschiedene Ufer. An manchen mögen wir Rast finden, an anderen wartet ein Kampf auf uns", sprach der Priester in der roten Robe. 

EinSchniefen. 

Schluchzer. 

Niemand sonst sagte etwas. 

„Heute hat die Zeit uns an ein Ufer voller Trauer getragen. An ein Ufer, an dem wir weinen und uns kraftlos fühlen. Wir würden zu gerne zu dem Fluss zurückkehren und uns von ihm treiben lassen, bis wir auf ein neues stoßen." 

Eiseskälte kroch meinen Rücken hinab. 

„Doch wir können weitergehen, bis wir ins Landesinnere vorstoßen und dort werden wir eine andere Umgebung entdecken. Der Weg dorthin mag beschwerlich erscheinen und oft genug werden wir uns fragen, ob wir noch die Kraft besitzen, ihn weiterzugehen, doch ich glaube, dass jeder Einzelne von uns diese Kraft in sich trägt." 

Warme Lippen streiften meine linke Hand. „Iriluv héli. Wir stehen das gemeinsam durch. So wie wir alles als Team meistern", hauchteNichello. 

„Vancari, hélen", wisperte ich. 

Der Priester in der roten Robe hob die Arme. „So lasset uns einen Moment innehalten und unsere Gedanken auf den Abschied lenken." 

Lebewohl, geliebte Freundin. 

Auf Wiedersehen, mein Herz. Eines Tages werden wir unswiedersehen. 

Auch wenn ich dich nicht gut kannte, hoffe ich doch, dass du Frieden findest, wo auch immer du nun bist. 

Du hast nun die Gestalt erlangt, nach der jeder Wandler strebt. Bis wir uns wiedersehen, meine Schwester. 

Lebewohl, meine Tochter. Noch bevor du deinen ersten Atemzug nahmst, habe ich dich schon geliebt. Hoffentlich geht es dir gut, wo auch immer du sein magst. 

Abermals zog sich mein Herz zusammen. Langsam hob ich den Kopf. 

Nichello wandte seinen mir zu. Ein Tränenschleier lag auf seinen braunen Augen. „Leyniva", formten seine Lippen, ohne dass ein Laut an meine Ohren drang. 

„Lebewohl", hauchte ich.  

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