Kapitel 2

Harry POV

Erschrocken drehe ich mich um. Mein Herz entspannt sich jedoch wieder, als ich sehe, wer mich da gerade aus meinen Gedanken gerissen hat.

"Hi Caro.", sage ich, als ich hörbar ausatme. "Tut mir leid, du hast mich erschrocken.", füge ich noch schnell hinzu. Caroline. Sie ist hier Angestellte und, im Gegensatz zu den anderen Mitarbeitern, noch ziemlich jung. Ich glaube sie ist jetzt 23 Jahre jung, aber nachfragen möchte ich lieber nicht, sie könnte es persönlich nehmen und ich will ja nicht unhöflich sein. Wir verstehen uns sehr gut und reden öfter mal über die Schule, wie es zur Zeit so läuft und was uns sonst noch so einfällt.

"Das tut mir leid, ich hätte mich auch nicht so anschleichen müssen", gibt sie etwas schuldbewusst von sich und lächelt mich entschuldigend an. Ich nicke nur verstehend und schaue wieder etwas zurückhaltend auf den Boden. Caroline zieht sich einen kleinen Hocker, welcher vor dem Regal steht, um eigentlich besser an Bücher in den oberen Reihen zu gelangen, an das kleine Sofa und setzt sich langsam darauf.

"Wie war die Schule heute? Haben sie wieder irgendwas gemacht?" Man kann deutlich die Sorge in ihrer Stimme hören. Ich bin ihr wirklich dankbar, dass sie mit mir über sowas redet, denn sonst habe ich leider niemanden, dem ich solche Sachen erzählen könnte. Caro weiß über alle meine Probleme bescheid. Na gut, wenn man die Sache mit meiner Mutter nicht mit einbezieht. Das ist mir dann doch ein wenig unangenehm und ich schäme mich schon etwas für ihr Verhalten mir und anderen gegenüber.

"Naja, heute war eigentlich ein guter Tag. Bis auf ein paar Beleidigungen und ein, zwei Schläge blieb ich zum Glück verschont." Ich zwinge mich zu einem kleinen Lächeln und schaue ihr sanft in die Augen. Wenn ich ihren Blick richtig deute, versucht sie wieder mal, eine Lüge von meinem Gesichtsausdruck abzulesen. Das macht sie nur, weil ich ihr mal eine kleine Information verheimlicht habe. Da ich nicht der beste Lügner bin, hat Caro es natürlich direkt gemerkt und seitdem traut sie mir bei solchen Themen nicht mehr so richtig. Ich versuche aber auch gar nicht zu lügen, da ich weiß, dass es bei ihr keinen Sinn hätte.

"Möchtest du nicht mal mit deiner Mutter reden oder mit dem Direktor?" Na toll. Warum muss sie genau jetzt wieder meine Mutter erwähnen? Ich wollte meine Gedanken heute eigentlich nicht an sie verschwenden. Schnell suche ich nach einer Ausrede.

"Ich wollte heute Abend mal mit ihr reden, weiß aber noch nicht so ganz wie ich es ihr sagen soll.", bringe ich nur hervor. Und schon wieder eine neue Lüge. Caro schaut mich etwas skeptisch an, doch diesmal scheint sie mir zu glauben - wie auch immer ich auf einmal so glaubhaft lügen kann. Ich lächle sie zögernd an und hoffe, sie hinterfragt es nicht weiter.

"Alles klar. Das schaffst du schon. Ich muss jetzt wieder vor, heute kommt noch ein Neuer wegen der freien Stelle und da muss ich noch einiges für das Vorstellungsgespräch vorbereiten. Bis morgen." Sie will gerade gehen, doch da dreht sie sich noch einmal zu mir um. "Und sag mir, wie es gelaufen ist!", hängt sie noch in einem gespielt strengen Ton an ihre Verabschiedung und winkt mir flüchtig zu. Ich schenke ihr noch ein vertrautes Lächeln und widme mich dann wieder dem Bücherregal. Sieben: Spiel ohne Regeln. Ich nehme das Buch heraus und schaue mir das Cover an. Interessant sieht es ja schon aus. Gespannt auf die Beschreibung drehe ich es um und lese mir alles gründlich durch.

~Bist du Opfer oder Täter? Link Selkirk hofft, dass die anderen bei dem Flugzeugabsturz umgekommen sind, den er wie durch ein Wunder überlebt hat. Aber sein Hochgefühl währt nur kurz. Denn Links Mitschüler, die ihn seit Jahren mobben, sind alle noch da - auf einer tropischen Insel gestrandet und mehr als bereit, ihn weiterhin zu erniedrigen. Ziemlich schnell jedoch ist klar: Hier in der Wildnis steht die Schulhierarchie auf dem Kopf. Das Recht des körperlich Stärkeren ist außer Kraft gesetzt. Einzig Link verfügt als Nerd über das Wissen zum Überleben. Jetzt macht er die Regeln. Jetzt wird das Opfer zum Täter.~

Kurz gesagt, geht es um ein Nerd, der sich rächen möchte. Wie gerne ich mich an den zweien rächen würde. Na gut, rächen ist etwas gemein, aber wie gern würde ich ihnen mal meine Meinung sagen. Sie haben mir schon sehr wehgetan. Physisch und psychisch. Am Anfang, vor ungefähr zwei Jahren, waren es immer nur kleine Sticheleien und ich habe es nur als Späße gesehen. Irgendwann kamen dann stärkere Beleidigungen dazu und als sie merkten, dass ich mich nicht wehre, haben sie angefangen, mich zu schlagen und komplett fertig zu machen.

Ich verdränge diese Gedanken schnell und setze mich erneut auf das kleine Sofa und lege das Buch neben mir ab. Aus meiner rechten Hosentasche ziehe ich mein Handy und lege es ebenfalls neben mich. Schnell hole ich meine weißen Kopfhörer aus meinem Rucksack, welche auch nicht mehr die neusten sind, und stecke diese an mein Handy an. Die leise Musik dröhnt durch das Kabel in meine Ohren und ich lasse mich in den braunen Stoff sinken. Gespannt schlage ich das Buch auf und fange an zu lesen. Schon nach wenigen Minuten bin ich komplett in der Geschichte versunken und bekomme nichts mehr von meiner Außenwelt mit.

Ich blicke von den Seiten auf, als ich merke, dass es draußen langsam dunkler wird. Verwundert, wie schnell die Zeit vergangen ist, schaue ich auf mein Handy und bemerke, dass es schon 18:12 Uhr ist. Fast schon automatisch schaue ich nochmal hinein, um auf die Seitenzahl zu sehen. 136 Seiten. Man könnte mehr schaffen, aber naja. Ich lege mein kleines Lesezeichen, welches eigentlich nur ein Stück abgerissenes Papier ist, zwischen die Seiten und schließe das Buch, um es zurück in das Regal zu stellen. Für alle die fragen sollten: Ja, ich habe immer dieses kleine Stück Papier in meinem Rucksack.

Mittlerweile ist es 18:16 Uhr und ich bekomme einen kleinen Schock. Ich wollte doch halb sieben zu Hause sein, weil ich mich morgen doch mit Caro treffe, um im Park etwas spazieren zu gehen. Schnell packe ich meine Kopfhörer und mein Handy in meine Hosentasche und schließe den Reißverschluss meines Rucksackes. Mit zügigem Schritt gehe ich an den Regalen vorbei, die Treppe nach unten und steuere den breiten Flur zum Ausgang an. Mit gesenktem Blick öffne ich die große Ein-und Ausgangstür und setze einen Schritt nach draußen. Plötzlich spüre ich, wie ich an etwas hartem abpralle und leicht nach hinten stolpere. Mit Panik in den Augen sehe ich nach oben, nur um dann meinen Blick schnell wieder zu senken. Ich bin in einen jungen Mann reingelaufen. Ich schätze ihn auf Anfang 20, aber so genau habe ich das in der kurzen Zeit nicht erkannt.

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