Frostines Hunger

Während Nachtschweif und ich diesen Moment stillschweigend genossen, sahen sich die anderen um. Sie erkannten sofort die Beerensträucher um uns herum und fielen über sie her. Ich dagegen schloss meine Augen und ließ die vertraute Umgebung auf mich wirken. Wie sehr ich diesen Ort vermisst hatte. Nach all dem, was uns auf der Mondinsel zugestoßen war, war es ein tolles Gefühl wieder hier zu sein. Hier verspürte ich keine Angst und fühlte mich sicher. Es war meine Heimat! Nachtschweif sprach dann leise, um mich nicht zu erschrecken: "Na, hast du auch Hunger?" Ich grinste und so leisteten wir den anderen Gesellschaft. Dieser Tag war wirklich enorm anstrengend gewesen, weshalb ich nun einen riesigen Hunger hatte. Beim Essen wendete sich Nachtschweif unserem neuesten Mitglied zu: "Ich heiße dich herzlich Willkommen, Traunfugil!" Da wurde uns klar, dass wir noch gar nicht seinen Namen wussten, daher fragten wir ihn. Der Geist sah etwas verlegen aus und schien nachzudenken, was uns überraschte, da man da nicht lange überlegen musste. Er sprach dann: "Es ist so, dass mir mein Name, den mir meine Mutter gegeben hat, nicht gefällt. Er passt einfach nicht zu mir und daher will ich nicht, dass ihr mich so nennt." Mit so einer Antwort hatte keiner von uns gerechnet; ich versuchte ihn aber doch dazu zubringen, ihn uns zu verraten. "Finsterschatten", stammelte er seinen Namen und schien wirklich unglücklich darüber zu sein. Und in der Tat verstand ich ihn. Sein Name klang sehr dunkel und würde zu einem fiesen Geist passen. Aber sein Charakter war ja ganz anders. Sein Name musste etwas verändert werden und daher schlug ich vor: "Wie wäre es, wenn wir statt dem "finster" ein "hell" machen und dich "Hellschatten" nennen? Das würde doch besser zu deinem freundlichen Wesen passen, findest du nicht?" Dieser Vorschlag gefiel ihm und so hieß ich ihn auch noch in unserem Team willkommen; diesmal mit der Nennung seines neuen Namens.

Erst jetzt fiel uns auf, wie Frostine abseits von uns stand und als einzige, keine Beeren aß. Sie fragte Hellschatten: "Und wie kam es, dass du uns eingesperrt hast?" Die Frage war ihm etwas unangenehm, erzählte dann aber davon, wie seine Mutter ihn gezwungen hatte, Pokémon einzusperren. Dass er so unter seiner Mutter litt, ließ Nachtschweif und Frostine nachdenklich werden. Nachtschweif sagte dann: "Wow, um uns zu retten, hast du dich deiner Mutter widersetzt. Das war bestimmt nicht leicht für dich. Damit ist dein Handeln noch größer einzuschätzen. Du hast wirklich einen tollen Charakter!" Hellschatten lächelte und gab zu, dass er das hauptsächlich wegen mir getan hatte. Auch Frostine kam nun näher zu Hellschatten und entschuldigte sich bei ihm, dass sie ihn falsch eingeschätzt hatte. Sie war jetzt ebenfalls froh, ihn im Team zu haben.

Ich war nun pappsatt und wollte mit Nachtschweif ein bisschen alleine sein. Daher entfernten wir uns ein kleines Stück von der runden Wiese. Schließlich waren wir für eine lange Zeit, die für mich extrem schlimm gewesen war, getrennt gewesen und so hatten wir uns viel zu erzählen. Er wollte natürlich als erstes wissen, wie ich es geschafft hatte, zu entkommen; ich war ja in der Pyramide mit einem Pokéball gefangen worden. Daran erinnerte ich mich eigentlich nur ungern zurück, denn die Zeit im Labor war die reinste Folter. Allein schon wenn ich an den Raum mit der gläsernen Kammer dachte, kamen mir die unbeschreiblichen Schmerzen ins Gedächtnis zurück. Trotzdem berichtete ich ihm davon. So gut es ging erzählte ich ihm alles und gestand ihm, wie sehr ich in diesen Momenten an ihn gedacht hatte. Die einzige positive Sache an der Gefangenschaft war, dass ich es geschafft hatte, mich aus eigener Kraft zu befreien. Darauf war ich wirklich sehr stolz, was auch Nachtschweif war: "Siehst du, Lia! Wenn du dir vertraust, bist du doch stärker als du glaubst." Diese Erkenntnis hatte ich da wirklich gelernt, wobei ich es ohne Nachtschweif nie geschafft hätte. Er war zwar nicht anwesend, aber sein Glauben an mich, hat mir für den Ausbruch erst die nötige Energie gegeben. Dann erzählte ich ihm noch den Rest und damit auch, dass ich die zwei Mondsteine zurück zu Cresselia gebracht hatte. Mit dieser Nachricht hatte Nachtschweif nicht gerechnet und war jetzt noch begeisterter von mir. Am Schluss berichtete ich ihm noch meine Erlebnisse im Finsterwald und erklärte ihm, was mit Zwirrfinst geschehen war. Damit hatte ich ihm genug von mir erzählt und wollte endlich wissen, was Frostine und ihm widerfahren war, als sie in der Pyramide gewesen waren. Sein Bericht war weniger aufregend, denn die Menschen hatten sie, nachdem sie von ihnen besiegt worden waren, einfach liegen gelassen. Als sie dann aufgewacht waren und nicht gewusst hatten, was sie tun sollten, waren sie zum Finsterwald aufgebrochen, um die Menschen wieder einzuholen und Informationen zu erhalten. Doch das hatte sich als ein Fehler herausgestellt, denn ohne sich regeneriert zu haben, trafen sie auf ein Zoroark, das sie überwältigt hatte und zu Hellschatten gebracht hatte. Im Gefängnis dann hatte er ununterbrochen an mich denken müssen. Der Gedanke, dass er mich für immer verloren hatte, hatte sich immer mehr in sein Gedächtnis gedrängt. Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut. Ich hatte es ja auch gehabt und hätte mich fast an den Rand der Verzweiflung gebracht. Daher sahen wir uns nun ganz genau an. Seine Ringe leuchteten auf und ließen uns auch jetzt in der Nacht den anderen erkennen. Diese Ungewissheit, wo der andere war, hatten wir nun nicht mehr und das machte uns glücklich. Nie mehr sollten wir getrennt sein und fingen nun an, uns noch näher zu kommen. Wir berührten, spürten, küssten, kuschelten uns aneinander und schliefen glücklich und erschöpft ein.

Ein lauter Schrei hallte durch den Wald und weckte uns auf. Gähnend schob ich Nachtschweifs Pfote, die er beim Schlafen auf mich gelegt hatte, beiseite und rüttelte ihn wach. Verständnislos blickte er auf mich und fragte sich, wieso ich ihn so früh wecken würde, doch da jetzt ein weiterer Schrei zu hören war, wurde es ihm klar. "Klang nach Frostine.", vermutete er und daher folgten wir den Schreien, um nachzusehen. Kaum ein paar Schritte gegangen, da sahen wir sie vor uns. Zwei Kronjuwild hatten es auf sie abgesehen und bedrohten sie mit ihrem Geweih, das durch das grüne Laub kaum zu sehen war. Auch die Wächter und Hellschatten eilten zu uns und waren ebenso überrascht, was hier los war. Wir gingen näher an sie heran und riefen den Kronjuwild zu: "Hey, was soll das? Lasst sie in Ruhe!" Die Hirsche, die wohl ein Paar waren, knurrten uns laut an und schrien: "Habt ihr überhaupt eine Ahnung, was dieses Glaziola getan hat?" Sie waren offenbar sehr wütend, aber da es wohl einen Grund gab, waren wir gespannt, ihn zu hören. Doch sie mussten uns nichts erklären, als wir einen näheren Blick auf Frostine warfen. "Das glaube ich jetzt nicht.", sagte ich völlig fassungslos. Auch Hellschatten traute seinen Augen nicht und fragte unsicher: "Ist das Sesokitz tot?" Aber er sah die Antwort vor sich. Vermutlich konnte er einfach nicht glauben, das tote Reh neben Frostine zu sehen. Es gab keinen Zweifel darüber, was hier los war. Aus Frostines Mund tropfte nämlich Blut und somit wusste jeder von uns, dass sie gerade dabei war, das kleine Reh zu essen. Wir standen wie paralysiert da und fanden keine Worte, die zum Ausdruck bringen würden, wie entsetzt wir waren. Frostine bemerkte unsere Regungslosigkeit und rief: "Wollt ihr mir jetzt vielleicht helfen, diese Kronjuwilde zu verjagen? Sie wollen mich umbringen!" Nach diesen Worten kratzte ich mich am Kopf. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie sauer wir auf sie waren. Sie hatte ein kleines, wehrloses Pokémon umgebracht und tat auch noch so, als wäre es das Normalste der Welt. Der männliche Hirsch berichtete nun, während der weibliche Hirsch laut weinte: "Das Glaziola ist wie eine Bestie über unser Kind hergefallen. Es ist nur fair, wenn wir uns an ihr rächen." Es musste wirklich schlimm sein, das eigene Kind zu verlieren und daher ging mir ihr Verlust sehr nahe. Gerade das Schluchzen der Mutter ergriff mich und ließ mich an ihrem Schmerz teilhaben. Dass Frostine zu uns gehörte, machte es nur schlimmer. Ich schämte mich in diesem Augenblick, dass sie in unserem Team war. Sollten wir tatsächlich eingreifen und sie retten? Ich war mir da gerade wirklich nicht sicher. Für Nachtschweif schien das kein Thema zu sein, denn er widersprach den Hirschen: "Tut mir leid, was sie euch angetan hat, aber trotzdem müsst ihr das Glaziola zufrieden lassen." Erbost darüber brüllte der Hirsch: "Wie? Du stellst dich auf die Seite der Mörderin? Gehört sie etwa zu euch?" Keiner von uns nickte bis auf Nachtschweif. Die Kronjuwilde sahen uns alle mit einem wütenden und auch traurigen Blick an. Gegen uns alle würden sie keine Chance haben, daher zogen sie sich zurück, wobei sie noch ein letztes Mal auf ihr Kind blickten, in das Frostine fröhlich hineinbiss. Nachdem die Hirsche in den Tiefen des Waldes verschwunden waren, sagte Frostine erleichtert: "Puh... hätte ich gewusst, dass die Eltern vom Sesokitz in der Nähe waren, hätte ich ein anderes Pokémon gewählt. Aber zum Glück seid ihr noch gekommen." Dass sie sich tatsächlich noch bei uns bedankte, war mir zu viel. Voller Wut schrie ich sie an: "Bist du total bescheuert?! Du hast ein unschuldiges Pokémon getötet und damit das Leben seiner Eltern zerstört, nur um dir den Bauch vollzustopfen?" Frostine wirkte ziemlich getroffen, dass ich so ausrastete. Auch als sie den anderen in die Augen sah, spürte sie die Verachtung und Verständnislosigkeit, die wir ihr gegenüber zeigten. Sie ließ ihre Ohren hängen und schien nun zum ersten Mal darüber nachzudenken, was sie eigentlich getan hatte. Lunastein sprach zu mir: "Wir haben dich doch vor ihr gewarnt. Sie ist eine tickende Zeitbombe." Sonnfel gab auch noch seinen Senf dazu: "Mich wundert es, dass sie auch Nachtschweif nicht aufgegessen hat, als sie mit ihm zusammen eingesperrt war." Nach diesen Äußerungen blickte Frostine uns traurig an und lief davon. Nachtschweif reagierte sofort und wollte ihr hinterherlaufen, doch sie hinderte ihn daran, indem sie einen Eisstrahl auf ihn schoss, der ihn zurückwerfen ließ. Sofort kam ich auf ihn zu, um nach ihm zu sehen. Verärgert stand er wieder auf und war sichtlich schlecht gelaunt. "Wie konntet ihr sie so verletzen?", fuhr er uns an, wobei er auch mich meinte. Irritiert sah ich ihn an. Fand er es etwa in Ordnung, was sie getan hatte? Ich antwortete ihm, wie abstoßend ich das fand, was sie dem armen Sesokitz angetan hatte. Nachtschweif meinte: "Darum geht's mir nicht. Klar, ihre Tat erachte ich auch alles andere als gut, aber trotzdem gehört Frostine zu unserem Team. Und ein Teammitglied macht man nicht fertig! Wir müssen es ihr anders erklären, dass das nicht in Ordnung war." Wir sahen ihn alle staunend an. Wie man sich untereinander zu verhalten hatte, wusste ja jeder, aber im Gegensatz zu Nachtschweif konnten wir Frostine nicht so schnell verzeihen. Wie konnte er da so ruhig bleiben? Nachtschweif kam nun auf mich zu und sprach mich direkt an: "Weißt du, wieso Frostine solche Angst gehabt hat, die Eiswüste mit uns zu verlassen?" Worauf er mit dieser Frage hinauswollte, wusste ich nicht, aber da ich die Antwort nicht kannte, schüttelte ich den Kopf. Er sprach weiter: "Wie du weißt, ist Nahrung ein sehr knappes Gut in der Eiswüste. Als Frostine noch ein Evoli war, hatte ihre Mutter alles versucht, sie durchzufüttern. Für die Mutter keine leichte Aufgabe, da der Vater von Frostine sie direkt verlassen hatte, als sie aus dem Ei geschlüpft war. So geschah es eines Tages, dass ihre Mutter auf Suche nach Nahrung die Eiswüste verlassen hatte. Sie wollte bis zum Anbruch der Nacht wieder bei Frostine sein, kam jedoch niemals zurück." Diese Geschichte war in der Tat sehr traurig. Auch Hellschatten ging ihr Schicksal nahe und hatte feuchte Augen. Aber wieso sollte Frostines Vergangenheit rechtfertigen, dass sie ohne schlechtes Gewissen Pokémon aus Hunger tötete. Nachtschweif brachte es auf den Punkt: "Sie ist in der Eiswüste nur deshalb am Leben geblieben, weil sie die einzige Nahrungsquelle genutzt hat, die ihr zur Verfügung gestanden ist. Sie kennt es folglich nicht anders; sie hat sich von klein auf nur von anderen Pokémon ernährt. Für sie ist es normal, für ihren Hunger zu töten."

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