Kapitel 37

Mila's Sicht

Mein Tod muss inzwischen einige Wochen her sein. Vielleicht zwei Monate, vielleicht sogar vier oder fünf. Hier im Himmel kommt einem die Zeit so fern vor. Und ich habe sie gesehen. War auf meiner eigenen Beerdigung, habe Mama weinen gesehen, Papa schweigen, Sofia blass und hager, Oma ohne ihr Lächeln und Magda die einzig glückliche. Ich habe Lea gesehen, wie sie im Krankdnhaus lag und weinte, nicht mehr als die Person wiederzuerkennen, die sie einmal war. All die Farbe war aus ihrem Gesicht gewaschen. Und da frage ich mich, habe ich ihnen das angetan? Natürlich, mein Verlust ist schmerzlich für sie. Danach habe ich mir geschworen, mich niemals in dieses Bett mit dem Sternenhimmel zu legen, damit ich sie alle nicht vergesse. Damit ich sie wiedererkennen kann, wenn sie eines Tages hier heraufkommen werden.

Pegah und ich sind gute Freundinnen und verbringen viel Zeit miteinander, doch mit Gerlinde habe ich noch immer kein Wort gewechselt, auch wenn sie mich einige Male komisch angesehen hat. Alles in allem habe ich mich wunderbar eingelebt hier oben.

Heute jedoch ist wieder einer dieser Tage, an denen ich mich zur Erde gezogen fühle. Irgendeine Warnglocke sagt mir, dass es allerhöchste Zeit ist, nach dem Rechten zu sehen. Vor allem um Lea mache ich mir Sorgen. "Pegah", sage ich und blinzel meiner Freundin entgegen, die sich auf den Wolken ausgestreckt hat und die Sonne genießt. "Ja?" "Ich muss zu ihr." "Zu Lea?" Eigentlich ist es schon keine Frage mehr, denn inzwischen habe ich ihr alles über mich erzählt und sie kennt mich besser als jede andere. "Ja." Ich nicke. "Sie hat irgendetwas vor, das spüre ich." Pegah merkt meine Sorgen und drückt tröstlich meine Hand. "Sieh nach ihr. Ich warte hier auf dich." Ich nicke, beiße mir auf die Lippe, dann schließe ich die Augen und denke mir den Tunnel. Einige konzentrierte Sekunden später werde ich durch gleißendes Licht katapultiert.

Lea's Sicht

Ich weiß nicht, wie viele Meter mich von dem Wasser trennen. Vielleicht sind es vierzig, vielleicht fünfzig. Wild und dunkel ist der Seegang in dieser Nacht, die Brücke, auf der ich stehe, ist menschenleer. Vor Kälte zitternd setze ich einen Fuß auf das Geländer und warte einige Sekunden. Mir wird speiübel.

Inzwischen ist es April, ich bin schon lange aus dem Krankenhaus entlassen worden. Aber seit dem Tag bin ich noch einsamer. Mama spürt nicht, wie es mir wirklich geht, sie kann es gar nicht wissen, weil ich Tag für Tag mehr lächele. Aber sobald sie das Haus verlässt und zu ihrer neuen Arbeit fährt, sitze ich Zuhause rum und schwänze die Schule. Es hat ja auch keinen Sinn, hinzugehen. Wenn ich mal da bin, werde ich wie eine Aussätzige behandelt und Anschluss im Unterricht finde ich erst recht nicht. In jeder Sekunde denke ich an Mila und in jeder Sekunde frage ich mich, ob ich sie jemals aus meinen Gedanken verdrängen kann. Ob ich es je schaffe, ohne sie glücklich zu sein. Die Antwort lautet: nein. Nein, ich kann sie nicht vergessen und nein, ohne sie werde ich nicht glücklich. Man kann nicht glücklich sein, wenn man nicht vollkommen ist, wenn die bessere Hälfte ins Jenseits verschwunden ist. Der Körper steif und begraben. Und es gibt nur einen Weg, der mich zu ihr führt. Mein eigener Tod.

Zittrig schwinge ich das zweite Bein über das Geländer und so sitze ich da, schweigend, lasse die letzten Wochen Revue passieren. Aber mein Entschluss steht fest. Ich muss diese Welt verlassen, um bei ihr zu sein, und sollte ich nicht da landen, wo sie hinkam, so sind wenigstens meine Schmerzen beseitigt. Doch als ich hinunter schaue in die Wellen, die schäumend nach mir rufen, haut mich die Angst fast um. Wenn ich nicht ertrinke, werde ich erfrieren, zu hundert Prozent, denn es ist sehr kalt für April. Um die null Grad in dieser Nacht. Beides wäre ein langsamer, qualvoller Tod. Vielleicht habe ich auch Glück, und der Aufprall reißt mir die Gedärme aus dem Leib. Bei dem Gedanken dreht sich mir der Magen um und ich kann mich gerade noch vorbeugen, bevor meine karge Mahlzeit (Brot und Wasser) wieder hochkommt und sich den Weg durch meinen Mund sucht. Die Wellen treiben das Erbrochene davon, als wollen sie meine Schandtat vertuschen. Mit einem Zipfel meiner Sweatshirtjacke wische ich mir notdürftig den Mund ab, dann stehe ich wackelig auf. Meine Beine sind so zittrig vor Angst und vor Kälte, dass es ein Wunder ist, dass ich überhaupt stehen kann. Ich hebe den Kopf, sodass ich nicht in das Wasser, sondern in die tausenden Sterne sehe, und spreize die Arme vom Körper ab. Tränen rollen über meine Wangen, als ich mich in Gedanken von meiner Mutter verabschiede, die ahnungslos in ihrem Bett liegt. Ich bereite mich auf den Sprung vor. "Egal was kommt", sage ich laut, "es wird ein Ende geben und du wirst ankommen." Doch die Stimme, die ich hinter mir vernehme, als ich einen Fuß über den Abgrund halte, lässt mich zurückschrecken. Sie ist sanft und zart, genau wie ihre. Eine Melodie in meinen Ohren. "Nein, Lea. Denk an all das, was du noch genießen darfst, denk an deine Mutter, an Magda. An mich. Ich würde es mir selbst nie verzeihen, wenn du jetzt springen würdest." Ich drehe mich um. Und da steht Mila, schöner denn je. Ihre dunkelen Haare wehen im Nachtwind und das weiße Kleid schmiegt sich um ihre schlanke Taille. "Mila?" Ungläubig steige ich vom Geländer,  doch als ich sie anfassen will, greife ich Luft. Mein Hirn spielt mir einen Streich. Aber ihre Worte machen mich nachdenklich, sodass ich unschlüssig zwischen Mila und der Brücke stehe, weil ich nicht weiß, ob ich nicht doch noch springen soll. "Es gibt nur einen Grund, zu sterben, Lea, aber es gibt so viele zu leben." Ihre schimmrige Hand streichelt meine Wange. Es ist wie ein kalter Lufthauch.

Sie begleitet mich noch nach Hause. Kurz bevor sie sich vor der Haustür in Luft auflöst, sagt sie etwas sehr tröstliches: "Wenn du dich einsam fühlst, dann denk dir vorm Einschlafen einen Ort. Und im Traum gehst du dorthin. Ich werde da sein." "Immer?", schniefe ich. "Immer", sagt sie, dann verschwimmt ihr Bild. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn das Hirn einem hin und wieder einen Streich spielt. Sonst wäre ich jetzt nämlich tot.

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♥♥ Ich hoffe, es war nicht zu abgedreht (der Zeitsprung). Kommis? ♥♥

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