Kapitel 28

Mila's Sicht

Ich erwache mit dem Morgentau und das Gras kitzelt unter meiner Haut. Eine warme Brise umhüllt meinen Körper und lässt meine Haare aufwirbeln. Dunkelbraun, hüftlang, gewellt... Moment mal? Ich sehe an mir herunter. Ich stecke in einem weißen Kleid und meine Haut ist zartrosa, sie wirkt gesund. Mein Körper ist nicht dürr, nein, er ist schlank, schön,  und an genau den richtigen Stellen rund.

Das kann nur ein Traum sein! Enttäuscht lasse ich mich schon auf die Wiese zurückfallen, als ich den Umschlag in meiner Hand bemerke. Und da fällt er mir wieder ein. Mein Tod. Die Stufen, die zerfetzten Bilder meines Lebens und der Umschlag... Ich reiße ihn ungeduldig auf und nehme den Zettel hervor. Es ist Seidenpapier und die Schrift ist gestochen. Sie wirkt nicht wie die Schrift der Zeit, in der ich gelebt habe. Neugierig lese ich die ersten Zeilen.

Mila,
wenn du das hier liest, bist du bereits tot. Das klingt hart, ich weiß, aber du kannst dich glücklich schätzen, weil du es sein darfst. Du bist sicher geschockt, dass ich so etwas sage, aber sieh dich um.

Kopfschüttelnd sehe ich auf und blicke mich um. Hier bin ich auf einer Wiese, nicht weit weg von einem kleinen Springbrunnen. Es gibt keine Sonne, es gibt keine Wolken, und es gibt keinen Himmel. Das ist der Himmel, erinnere ich mich und lese weiter.

Vorerst sollte ich mich vielleicht vorstellen. Ich bin Josephine. Ja genau, die Josephine mit den komischen Augen, die stets ihre Farbe verändern. Das Mädchen mit der seidenen Haut und den braunen Bilderbuchlocken. Ich bin die alte Frau.

Ich gebe ein stutziges Geräusch von mir, doch im nächsten Moment schnappe ich nach Luft. Josephine ist die alte Frau! Nun ergibt auch alles einen Sinn. Alles, was vorher ein großes Fragezeichen war, ergibt nun einen Sinn!

Das ist alles schwer zu glauben, und es ist auch eine lange Geschichte. Ich bin geboren im Jahr 1701. Seitdem werde ich stetig 88 Jahre alt und beginne dann wieder bei 15. Ich sterbe nie. Ich werde immer 15 und 88 sein.

Ich fahre mit dem Finger durch meine Haare, die sich anfühlen wie Seide. Meine Hand wandert zu meiner Lippe; sie ist voll und weich. Der Springbrunnen ergänzt sich zu einer berauschenden Hintergrundmelodie, die mich vollkommen einwickelt und beruhigt. Ich atme tief ein, ehe ich weiterlese.

Seit ich herausgefunden habe, dass ich unsterblich bin, gehe ich mit Kindern durch den Tod. 'Warum Kinder', scheinst du dich nun zu fragen. Die Antwort ist ganz einfach. Für mich. Ich bin bei den Eltern, spende Kraft, ich versuche, den Kindern die Angst vor dem Sterben zu nehmen. Und wenn sie gestorben sind, gebe ich ihnen Briefe mit auf den Weg, um zu erklären, dass es das wunderbarste ist, was ihnen passieren kann. Dass sie sich um ihre Liebsten keine Sorgen machen brauchen.

Meine Liebsten.. Ich verspüre das überraschende Bedürfnis, zu weinen, aber in mir regt sich nichts. Nicht mal ein Gefühl. Ich taste nach meinen Augen, doch meine Tränensäcke sind verschwunden. Weg. In Luft aufgelöst. Anstatt mich zu erschrecken, bleibe ich vollkommen ruhig. Nicht mal atmen muss ich, obwohl ich aus Gewohnheit trotzdem nach Luft schnappe. Ich probiere es ohne Blinzeln: mir fehlt nichts. Zum Schluss fühle ich mein Herz, doch es pocht nichts. Du bist tot,  sage ich mir. Du musst weder blinzeln, noch atmen, noch essen, noch trinken, noch schlägt dein Herz. Deine Gefühle gibt es nicht mehr. Ich horche in meinen Körper. Ich habe gelogen. Denn ein Gefühl gibt es. Das Gefühl der Schwerelosigkeit, ein Rauschen, ein Zwitschern, ein angenehmes Prickeln. Ich fühle mich um tausende Male besser als an jedem glücklichen Tag meines Lebens.

Nun bist auch du gegangen und ich beneide dich. Nicht um das Leben, das du nicht leben konntest, sondern um den Tod, den du leben darfst. Ich habe mir den Himmel oft vorgestellt, aber ich glaube, der Ort, an dem du dich befindest, übertrifft meine Erwartungen maßlos.

Wieder sehe ich auf. Nun ja, ich bin hier allein auf dieser Wiese mit dem Brunnen. Und drum herum ist dieses bunte, gleißende Licht, das mich umfasst hat, als ich starb. Das Licht, das mich über die Treppe gleiten ließ. Ob das Josephine's Erwartungen sind?

Andere Leute fürchten sich davor, aber dafür gibt es keinen Grund. Für mich aber gibt es einen Grund zur Furcht. Alle, die ich liebe, verlassen mich. Ich darf nie verlassen, ich werde immer bloß verlassen.

So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber sie hat Recht.

Deswegen genieße deine Zeit und achte auf deine Freundin. Sie wird deinen Tod am schlechtesten verkraften.

Darunter ist ein blutrotes Siegel und der Brief ist zuende.

Lea. Ich soll Lea beschützen. Von hier aus? Ich erhebe mich und verstaue den Brief im Umschlag. Beides löst sich innerhalb von Sekunden in hunderte, glitzernde Staubkörner auf, die um mich herumwirbeln und in dem Licht aufblitzen. Ich genieße den Moment, doch dann will ich weg. Weg von dieser Wiese und von diesem Brunnen.

Komm her du tapf'rer Kämpfer, und trete durch das Licht,
Komm her du müder Wand'rer, und fürchte dich nicht.

Ich weiß nicht, woher der Gesang auf einmal gekommen ist, aber er ist so leicht und so weich, dass ich fast glaube, dass es der Wind selbst ist, der da singt.  Ich gehorche den Worten und gehe auf das Licht zu. Möglich, dass es dahinter besser ist. Möglich, dass eine Schlucht auf mich wartet. Doch ich habe nichts zu verlieren, denn ich bin bereits gestorben.

Der Gesang fährt fort:

Und wenn du das Licht durchschritten hast, oh, wenn's ist hinter dir,
so sei dem Herr ein frommer Gast, der dir ist dein Wirt.

Die Melodie erfüllt jede einzelne Pore meines Körpers mit Wärme und ich gleite zielstrebig über das taunasse Gras.

Gott ist gnädig, Gott ist fein, liebt dich wie du bist, denn Gott ist selig, Gott ist rein, nimmt dich auf als Christ.

Gott ist gut. Der Gesang hüllt mich komplett ein, ich vertraue ihm blind. Das Licht ist mein Ziel, denn dort wartet Gott. Und die Welt hinter dieser Wiese mit dem Brunnen. Ich weiß den Text des Liedes, er ist in meinem Kopf, und so singe ich die nächste Strophe mit geschlossenen Augen mit, während meine Füße unentwegt durch das Gras streifen.

Und bald du wohl gekommen bist, ist's auch dein fein Reich, und bald du gut geneset bist, so fliegst'auch bald hinein

Meine Kehle ist frei, kein Husten, keine Atemnot, nur meine kräftige, gesunde Stimme.

Wenige Zentimeter trennen mich von dem wirbelnden, hellen Licht. Mit Schwung setze ich zur letzten Strophe an.

Gott schuf die Welt, oh, Gott schuf die Welt,
so sollst auch nie für immer sie verlassen, oh, Gott schuf die Welt!

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Nun... ich weiß, es ist gewöhnungsbedürftig, aber mir war danach, das Kapitel so zu schreiben, ein wenig 'altbacken'. :D Wie ihr es findet, sehe ich ja hoffentlich in den Kommis! :) :-*

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