Letzte Worte einer Dynastie
Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten erklangen am Abend des achten Novembers die rundlich-geformten Champagnergläser mit dem golden-beschichteten Rand. An ihren dünnen Stielen aus Glas hielten sich führende Politiker und Politikerinnen des wohl bedeutsamsten Staates seinerzeit fest. Ihre eleganten Finger, die teils Klavierspielerhänden ähnelten, erleuchteten im Licht der Deckenlampen. Die Schönen und Guten waren zusammengekommen, um den Wahlabend gebührend zu feiern. Ein leichter Kampf war es nicht gewesen, den sich die zwei Kontrahenten geliefert hatten. Doch für einen Moment war dies egal gewesen. In diesem einen Moment, wo die Gläser in der Hauptstadt erklangen und freudestrahlende Gesichter gen Himmel blickten, da war alles schön gewesen. Da sah man Männer und Frauen in Anzügen, in roten und blauen Kleidern, in schwarzen Westen und vielem mehr. Es war eine ausgelassene Stimmung zu jenem Zeitpunkt. Keine Gefahr drohte ihnen in diesem Augenblick, die Haustür war offen geblieben. Jeder hätte an dieser Feier teilnehmen können, alles hätte passieren können, alles stand zu diesem Zeitpunkt in den Sternen, als wäre möglich gewesen.
Im Vorfeld der Wahl regierte einst ein Mann den so bedeutsamen Staat, der sowohl aus der Mitte des Volkes stammte, als auch mit kluger Taktik und genossenen Bildung sich in die obersten Etagen seiner Partei gekämpft hatte. Acht Jahre regierte der erste schwarze Präsident des Landes und symbolisierte, und dies alleine durch seine Hautfarbe, einen neuen und aufgeschlosseneren Staat. Dieses bedeutsame Land, das schon weit zuvor in ihrer und der Weltgeschichte als Vorbild fungierte, da es das, was es tat, aus einem demokratischen Prinzip heraus versuchte, bestätigte sich wieder einmal als Vorreiter einer aufgeklärteren Welt, in der alle Menschen, ganz gleich welches Geschlecht, welche Hautfarbe oder welche sexuelle Orientierung sie hatten, gleiches Recht besaßen. Während andere Länder neidisch und mit Abstand auf den Fortschritt in Übersee blickten, die Geschichtsbücher über die so glorreiche Vergangenheit des erwähnten Staates erzählten, war das Land seinen Verbündeten und Feinden, wie es schon immer gewesen war, einen Schritt voraus. Dieser Staat waren schon früh zu einem Land geworden, das maßgeblich an der Ausrichtung der Welt beteiligt gewesen war. Erst ihr Einsatz in den beiden größten Kriegen, die die Menschheit je gesehen hatten, konnte die Welt wieder beruhigen, erst der Börsencrash von 1929 zeigte dem menschlichen Geschöpf die fatalen Auswirkungen des Kapitalismus'. Die ganze Welt blickte auf diesen Staat und seine neue Wahl. Sie würde die Welt verändern.
Doch nun passierte, was viele befürchteten: Der Präsident, der nicht nur diesen Staat so sehr anleite, sondern viel mehr die Welt, war am Ende seiner Amtszeit. Gemäß des zweiundzwanzigsten Zusatzartikels der Verfassung durfte er nicht erneut kandidieren. Doch wie in jedem Tod ein neues Leben steckt, wie aus der Asche der Phönix entsteigt, stand auch dieser Staat vor einer Zeit politischer Neuausrichtung. Viele Möglichkeiten standen nun in den Sternen, in den Augen der Wähler und Wählerinnen, die sich eine neue Welt ausmalen durften. Nun war der Zeitpunkt gekommen, um die Träume, die ganz tief in ihrem Inneren wohnten, laut auszusprechen und zu klären, welche Möglichkeiten bestanden. Die Welt konnte eine andere werden, jeder wollte, dass sie sich veränderte. Alle wollten, dass sie gut werde, viel besser, als sie zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Das, was sie im Inneren fühlten, sollte ihren Staat auch leiten. Wie ihre Gründerväter es schon praktizierten, sollte der Präsident, der vom Volke gewählt wurde, die Mehrheit repräsentieren. Er sollte zeigen, wofür die Menschen standen, was sie wollten, was ihnen wichtig gewesen war. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Staates standen vor einer Entscheidung, die entscheidender nicht sein konnte.
Langsam und gelassen setzte sich die Kandidatin der „Party of the Progressives" auf ihre beige Ledercouch. Ihr rotes Kleid, dass sich ab der Hüfte breit im Raum verteilte, legte sie um und über ihre Beine, in der Hand hielt sie ihr Sektglas und für einen kurzen Moment schloss sie die Augen: „Was, wenn das wirklich passiert?", fragte sie sich und lächelte. Ihr Gesicht, das von einem anstrengenden Leben mit einigen Falten gezeichnet war, entspannte sich in diesem Moment, der nicht lange anhielt. „Du wirst die Wahl sicherlich gewinnen", kam Roy McCaughty auf sie zu. „Ich hoffe", sagte sie dann und lächelte. Ference musste immer lächeln, wenn sie aufgeregt war. Und das war sie in diesem Moment ganz gewiss. Ihr Herz raste wie wild, schon den ganzen Abend. Heute würde sich zeigen, ob sich alle Anstrengungen gelohnt hatten. „Die Leute werden das Richtige wählen. Sie wählen das, was sie wollen", sagte er, als er ging. Sie hatte sich mit ihm schon seit Monaten getroffen, sie hatten die nächsten Schritte besprochen, Ference war das Gesicht, hinter dem viele Männer standen, die diese Kampagne leiteten und unterstützen. Stets wenn sie zusammen kamen, stießen sie mit Champagner an, einahe wirkte es so, als würden sie darin baden. Nach gelungener Besprechung aßen sie zusammen in teuren Restaurants und sahen sich die neusten Umfragewerte auf den exklusiven Bildschirmen vor ihnen an. Sie mussten diese Wahl gewinnen. Daran hing alles. Sie hatten viel Geld gehabt und in die Kampagne gesteckt. Ihr Kontrahent tat es auch. Er hatte das Geld besessen, noch viel mehr Leute zu engagieren, um eine viel größere Kampagne zu starten. Es war die größte und beste Kampagne, die der Staat jemals gesehen hatte. Er ließ Mützen bedrucken und verteilen. Es stand „MAGA" in großen, weißen Buchstaben auf der höllenroten Kopfbedeckung. Auch er war ein Kapitalist gewesen, der sich mit dem Geld, welches er erwirtschaftete, die beste Kampagne leisten konnte, die es jemals gegeben hatte. Er war überzeugt, der beste Kandidat zu sein.
Am entscheidenden Abend, einer Woche vor der Wahl, standen sich Ference und ihr Kontrahent, Donald, gegenüber. Für einen Moment blickten sie sich tief in die Augen und atmeten ruhig und gelassen, um den jeweiligen Gegenüber zu verunsichern. Es war nur eine Sekunde gewesen, da holte man die beiden vor die Kamera und platzierte sie an zwei verschiedene Tische. Im Hintergrund standen die Wörter ihrer Verfassung handschriftlich und vergrößert auf einer blauen Tafel. Schließlich mussten sich die beiden aussichtsreichsten Kandidaten, es gab schließlich noch mehr, die jedoch in den Wahlumfragen keine zehn Prozent erreichten, den wichtigsten Fragen ihrer Zeit hingeben. Zwei Modelle standen in diesem Moment vor der Linse von Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Zwei ideale präsentierten ihre Ausrichtung, ihre Ideen, ihre Wünsche und ihre Träume einer besseren Welt. Vor der Kamera stand eine personifizierte Wahl. Wie so oft hatte der Mensch die Wahl gehabt. Wie so oft musste er sich zwischen der richtigen und der leichten Wahl entscheiden. Schwarz und Weiß stand in diesem Moment im Zentrum des Weltgeschehens. Ference, die so sehr Wert auf einen logischen und rationalen Standpunkt legte, die mit ruhigen Worten und einer bedachten Argumentation vor den Zusehenden stand, ging beinahe mit der lautstarken Argumentation ihres Kontrahenten unter. „Raus mit den Ausländern", brüllte er in die Kamera, als es Fragen zum Sozialstaat gab.
Sie blickte gespannt in den gefüllten Saal. Dort standen sie. Alle ihre Unterstützer und Unterstützerinnen, viele Männer in Anzügen. Im Wintergarten tranken sie aus ihren Sektgläsern und Ference war ihnen dankbar gewesen, dass sie alle das hatten möglich gemacht. Einige lachten während ihren Gesprächen. Dann viel „Donald" und wieder schepperte es Gelächter. Ein Mann äffte eine Ente nach, jemand anderes zeigte einen Vogel. Die Freunde von Ference kamen, um ihr Beistand zu leisten. Niemand konnte wissen, wie das Ergebnis sein würde - und doch hofften alle darauf, dass es das Richtige werden würde.
Ference könnte die erste Frau sein, die diesen Staat regiert hätte. In ihr lag die Hoffnung. Sie wünschte sich, dass sie es schaffen würde. Ference wollte gewinnen. Die Männer, die all das möglich gemacht hatten, standen hinter ihr und wollten das auch. Für sie war es ein Spiel, ein billiges Kartengedeck lag offen auf dem Pokertisch. Die Männer setzten viel, aber nicht alles, sie wägten ihr Vermögen ab. Für Ference stand eine ganze Welt auf dem Spiel. Es war eine Männerwelt gewesen. In einer starken Führung sah man einen Mann. Ein starker Führer war das, was die Leute wollten, wenn sie nicht nachdachten. Ference musste etwas Neues schaffen.
„Wir brauchen eine Mauer!", sagte er, als es um die Innenpolitik ging. „Für eine Sicherheit müssen wir alle, die unsere Sicherheit gefährden, des Landes verweisen." Ference hatte selten solche Aussagen gehört und war froh gewesen, dass dies nicht zu ihrem Repertoire gehörte. Klug legte sie dar, wie ein neues Sicherheitskonzept, mit neuen Möglichkeiten und Wegen, mehr Sicherheit ihrem Staat verschaffen könnte. „Wir haben lange genug geplant. Es ist Zeit, zu handeln", rief Donald dann wieder und unterbrach sie. „Weg mit den Diplomaten aus der Hauptstadt! Weg mit den reichen Schnöseln! Wir brauchen jemanden, der das Volk versteht", sagte er. „Wenn wir wollen, können wir unseren Staat so sehr verbessern, dass wir gemeinsam in eine neue Zukunft gehen. WIr können eine Welt errichten, die für alle fairer und gerechter sein wird. Wenn wir wollen, können wir Wegbereiter für die Zukunft werden!", waren ihre letzten Worte, bevor der Moderator das Gespräch beendete. Ference und Donald sprachen nicht mehr miteinander. Beide gingen sie von dannen. Es war eine Woche gewesen, in der sich alles entscheiden sollte.
Kurz vor einundzwanzig Uhr betrat Ference die kleine Bünde, die kaum höher als der Untergrund gewesen war und klopfte sacht mit einem Teelöffel an ihre Champagnerflöte. „Wenn ich ganz kurz, ja", sagte sie zu einer Dame, die neben ihr stand, „Ich möchte diesen Moment nutzen, um Ihnen und euch allen zu danken!", schon da bekam sie Applaus. „Ich möchte allen danken, vom ganz Herzen, so wie es meine Natur ist, dass sie sich für mich eingesetzt haben, im Wahlkampf Flyer verteilt und Gespräche geführt haben. Ich möchte mich an meine Freunde und Freundinnen richten, die mir zur Seite standen. Egal, wie es heute ausgehen mag. Wir kämpfen gemeinsam. Gemeinsam für eine bessere Welt!", rief sie dann und es erschallte: „Für eine bessere Welt!" zurück.
Die ganze Welt schaute in diesem Moment auf den Staat in Übersee. Es waren nur noch wenige Minuten gewesen, in denen sich entscheiden sollte, ob weiterhin die „Party of the Progressives" die Führung des Landes innehaben und die wichtigsten Fragen der Weltpolitik klären sollte, oder ob es die „MAGA - Party" war, die nun das Zepter übernahm. Die Progressives standen weiterhin, und so waren sie auch in den Wahlkampf gestartet, für neue Positionen in der Klimapolitik, für ein starkes Bündnis der Nationen, „Gemeinsam statt einsam", war ihr Motto gewesen. Sie waren progressive. Sie wollten neue Möglichkeiten ausprobieren. Würde Ference gewinnen, wäre sie die erste Frau gewesen, die diesen Staat kontrollieren würde. „Erst ein Schwarzer, dann eine Frau. Durchbrechen wir das gläserne Dach einer Kultur, die sich jahrelang für weiße Männer eingesetzt hat", sprach sie auf einer ihrer Kundgebungen. Ference war gespannt gewesen. Die „MAGA-Party", die man anfangs unterschätzt hatte, hatte sich aus den verstoßenen weißen Männern gebildet, die dachten, Schuld an der Vergangenheit zu haben. Sie identifizierten sich schon seitJahren nicht mit einem Bild einer immer offener werdenden Gesellschaft. „Neue Menschen bringen nur neue Probleme", dachten sie sich, wenn in den Zeitungen stand, dass es neue Regelungen zum Übertritt in den Staat gab. Die Menschen waren es leid, vertröstet zu werden, dass die Pläne wieder einmal nicht funktionierten. Sie wollten, dass endlich mal was geschieht. Sie wollten Handlungen sehen. Sie wollten eine Welt sehen, die sie verstanden. Sie wollten einen Mann als Präsidenten sehen, der sich über Behinderte lustig macht. Denn wer behindert war, über den musste und sollte man lachen dürfen. Männer waren stark, Frauen waren schwach. Frauen handelten nur nach ihren Gefühlen. Diesen Gipfel des Mainstream durften sie nicht zulassen. Die Wähler und Wählerinnen mussten mit der Stimme, die sie erhielten, so umgehen, dass sie später darauf stolz sein würden. Der Stolz war ihnen wichtig, wenn sie in ihrem Lokal saßen, mit dem Strohhut auf dem Kopf und auf einem Gerstenhalm kauten. Mit Donald käme der erste Präsident an die Spitze des Staates, der sich für seine eigenen Bürger interessierte. Ihm war kein Staatenbund mehr wichtig gewesen, sondern nur der Versuch, dass es denen besser gehen würde, zumindest von denen, bei denen er es wollte, die in seinem Staate lebten. Ference gehörte nicht dazu.
„Was wäre, wenn sie eine von geworden wäre?", sagte eine Wählerin der „MAGA-Party", die direkt in die Kamera blickte, nur mit T-Shirt und kurzer Hose bekleidet war. Es war warm gewesen und im nächsten Moment schubste sie die Kamera weg und man sah nur noch, wie sie zum Auto eilte. „Ference muss gehen!" stand auf den Schildern der Demonstranten. Ference schaltete den Fernseher aus und dachte an ihren Mann. Auch er war schon Präsident des Staates gewesen, es war nicht allzu lange her. „Präsident Rodham", dachte sie.
„Das Problem liegt im Inneren", sagte eine Freundin kurz vor neun. Ference hatte sich in die Küche gestellt und wollte ein Glas Wasser gegen die Aufregung trinken. Ihr Herz schlug verrückt. Besagte Freundin stand vor einem Kugelfisch, den sie zubereiten wollte. „Das Problem liegt innen", sagte sie wieder und zeigte auf ein kleines Bläschen, das mit Gift gefüllt war. „Kommt davon etwas ins Fleisch, das traditionell roh gegessen wird, stirbst du. Es gibt kein Gegengift. Du wirst keine Wahl haben. Du wirst einfach verlieren. Egal, was du tust, du hast verloren. Du wirst diesen Kampf nicht gewinnen können. Wenn du einmal davon gekostet hast, weil es vielleicht so gut und einfach aussah, wirst du dem Erliegen, was du gewollt hast." Da nickte die Person, die ihr gegenüberstand und wurde schließlich ganz ehrfürchtig. „Man stelle sich vor, es gebe die Kugelfische ohne Gift in sich. Wie einfach hätten es die Menschen, die sich nicht vor dem Tod ängstigen. Sie könnten in den Fisch beißen und alle neuen Geschmäcker wahrnehmen, die er bietet. Aber sie trauen sich nicht, weil sie nicht vertrauen können." Da musste Ference gehen. Sie wollte sich, so wenige Sekunden vor der Entscheidung, nicht noch mit einem Fisch beschäftigen. Sie würde alle Fische dieser Welt essen, wenn sie gewählt werden würde. Sie würde hemmungslos in den Kugelfisch beißen, ohne Rücksicht auf Verluste, wenn sie versichert worden wäre, dass ihr Land, dass sie so unendlich liebte, eine Führung bekam, die es verdiente.
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