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Geliebter Harry,
Gestern ist nicht mehr viel passiert. Ich habe noch einmal bei der Polizei angerufen, dass du nicht aufgetaucht bist, aber so wie die Frau geantwortet hat, werden sie wahrscheinlich kaum viel unternehmen. Ich glaube, sie ist der Meinung, du bist nur ein weiterer dieser 'ungezogenen Jungs', die von zuhause weglaufen.
Ich finde es grausam, dass sie nicht einmal nachfragt, dass sie es nicht einmal in Überlegung zieht, dass du vielleicht wirklich verschwunden sein könntest.
Heute früh hat meine Mum einen halben Auszucker gehabt. Sie wollte mit mir reden - soll heißen, sie hat mich durchlöchert, ob ich depressiv bin und eine Therapie brauche. Dabei weiß sie doch genau, dass mit so etwas nicht zu spaßen ist. Aber vielleicht hat sie es ernst gemeint und ich weiß nicht, was schlimmer ist - der Gedanke, dass sie tatsächlich glauben könnte, dass ich depressiv bin oder die Möglichkeit, dass ich es wirklich bin.
Wenn ich das so aufschreibe, klingt es völlig dumm - nein, ich bin nicht depressiv. Nur weil ich trauere, heißt es nicht, dass ich depressiv bin! Aber ich würde echt gerne wissen, wo da die Grenze ist? Was ist denn jetzt schon depressiv und was ist einfach nur trauern und 'negative Stimmung' haben? Wie lange darf man trauern, ohne dass man komisch angeschaut wird?
Ich weiß es einfach nicht. Eigentlich weiß ich gar nichts.
Es ist schlimm nichts zu wissen. Es ist auch anstrengend, an den Kräften zehrend.
Weißt du, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du wieder da bist. Dann müsste ich mir nicht so viele Gedanken machen. Ich müsste nicht über so ernste, manchmal schlimme Dinge wie Tod, Depressivität und andere negative Gefühle nachdenken. Ich müsste mir nicht jeden Tag gut zureden, mir nicht jeden Tag wieder Hoffnung machen, du könntest vielleicht wieder auftauchen. Und ich müsste auch nicht jeden Tag mit dem Schmerz und der Verletztheit, der zerstörten Hoffnung dielen. Ich müsste nicht jeden Tag gegen die Tränen ankämpfen.
Es tut mir leid. Das sollte kein so negativer Brief werden. Eigentlich wollte ich nur ganz sachlich erzählen, was passiert ist, aber ich schaff es einfach nicht. Du bist mir zu wichtig, als dass ich meine Emotionen ausblenden könnte.
Und noch was: Du hast mir doch immer gesagt, ich solle dir alles erzählen. Du würdest immer zuhorchen und für mich da sein. . . Ich habe Angst. Schreckliche Angst.
Ich habe nicht nur Angst vor dem Ungewissen. Nein, ich habe Angst vor den einfachsten Dingen. Ohne dich ist alles viel schrecklicher als sonst.
Ich habe Angst, dass du eines Tages zurück kommst und ein ganz anderer Mensch bist. Ich habe aber auch Angst, dass du gar nicht mehr zurück kommst. Und ich habe Angst aus dem Haus zu gehen und etwas zu entdecken, was darauf hindeuten könnte, dass es dir nicht gut geht. Und ich habe Angst vor dem Schlafen.
Träume sind gefährlich und du weißt, dass ich noch nie sonderlich gut geschlafen habe. Aber früher warst du da und jetzt bin ich alleine. Ich habe Angst, dass die Alpträume zurückkommen könnten und dann keiner da ist, der mir hilft, sie abzuschütteln.
Ich muss aufhören mit diesen negativen Gedanken - sie treiben mir mal wieder Tränen in die Augen. Ich werde versuchen, die Schrift nicht zu verwischen, aber es tut mir leid, falls es doch geschieht . . .
. . . Was rede ich da überhaupt, es ist ja nicht so, als könntest du diese Briefe lesen.
Egal, jedenfalls habe ich im letzten Brief ja geschrieben, dass ich ein neues Versteck für die Briefe finden will und ich glaube, ich werde sie in die Hütte bringen. Mum weiß zwar, dass es sie gibt, aber sie hat keine Ahnung, wo sie ist und das wird auch so bleiben.
Ich werde mich gleich auf den Weg machen, also . . . ciao, schätze ich mal. Wahrscheinlich bis morgen!
Hab dich unendlich lieb,
-Lou xx
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