Kapitel 2
Vor mir stand mein Vater. Er hatte ein Hemd an. Kariert. Blau und weiß. Eine Hose. Schwarz. Schuhe. Schwarz. Seinen Aktenkoffer unter dem Arm. Schwarz. Seine dunkelblonden Haare waren kurz geschnitten. Seine grauen Augen blitzten mir liebevoll entgegen. "Ich gehe jetzt. Bis heute Abend." Mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete er sich. Ich fragte mich, was er heute machen würde. Er würde zur Arbeit fahren und seine Sachen erledigen. Emails beantworten. Vielleicht noch mit dem ein oder anderen telefonieren. Dann würde er früher Schluss machen und noch zu seiner Freundin fahren. Und ich? Ich würde den Tag in der Schule sein. Eigentlich. Aber ich war krank geschrieben. Schon seit drei Tagen. Seit dem Gerichtsprozess. Ich war nicht wirklich krank. Ich wollte nur nicht raus. Raus in die Öffentlichkeit. Also sagte ich, mir ginge es nicht gut. Um hier zu bleiben. Zu Hause. Aber kann ich das wirklich noch so nenne? Zu Hause? Ist es das überhaupt noch?
"Mache dich bereit. Es bleibt nicht mehr viel Zeit." Ein Hauch nur die Stimme des Engels. Von einem lauen Sommerwind daher getragen. Ich schlug die Decke beiseite und angelte mir aus meinem Bettkasten meinen großen Rucksack und eine große Reisetasche. Ich legte die Tasche auf mein Bett und begann Kleidung hinein zu werfen. Nur praktische. Kleidung, die ruhig schmutzig werden oder kaputt gehen konnte. Dann noch eine Bürste mit Haargummis und ein paar Hygieneartikel. In den Rucksack stopfte ich Papier. Viel Papier. Zeichenpapier. Schriebpapier. Blöckeweise. Päckchen voller Umschläge. Viele Stifte. Kugelschreiber. Bleistifte. Buntstifte. Stabilos. Fineliner. Spitzer. Radiergummi. Fotos. Fotos von meiner Familie und meinen Freunden. Ein paar Bücher. Ich legte mir meine Uhr um, die ich von meinem Vater zum 15 Geburtstag bekam. Das war ein halbes Jahr her.
Ich ging nach unten. Prägte mir auf dem Weg alles genau ein. Das Loch in der Wand im Treppenhaus,.von dem mein Vater behauptet, es sei nicht da. Das alte Geländer und die Risse im Holz. Der alte Teppich. Ein einziger Dreckmagnet. Die Küche mit ihrem quitschenden Boden, seit Papa mal mit nassen Kartoffeln nach seiner Freundin geworfen hatte. Aus Spaß natürlich. Die Bilder im Flur, die längst vergangene Zeiten zeigten. Die alte Tür zum Wohnzimmer. Die neue Einrichtung. Ich nahm mir einen Joghurt aus dem Kühlschrank und aß ihn schnell. Dann legte ich mein Handy auf den Tisch und fing an. Ich schrieb. Schrieb einen Brief.
Liebe Familie,
wenn ihr das hier lest, bin ich schon längst weg. Ihr braucht nicht nach mir zu suchen. Ihr werdet mich eh nicht finden. Ich bin in einer anderen Welt. Ich weiß noch nicht, wie ich dahin gelangen werde, aber irgendwie werde ich es schaffen. Und wenn ich einmal dort bin, kann und werde ich nicht zurückkehren. Das heißt also, wir werden uns niemals wiedersehen. Ich gehe dorthin, um Menschen zu retten. Um Menschen zu helfen. Wir können weiterhin in Kontakt bleiben. Alles was ihr tun müsst, ist einen Brief zu schreiben und auf den Umschlag meinen vollständigen Namen zu schreiben. Ich vermisse und liebe euch und hoffe, dass ihr mir schreibt. Trauert nicht um mich. Wir haben immer noch die Briefe.
In Liebe
Eure Angel
Ich legte den Stift weg und platzierte den Brief gut sichtbar auf dem Esstisch im Wohnzimmer. Dann nahm ich meine Tasche. Ich steckte noch eine dicke und eine dünne Jacke ein. Handschuhe. Mütze. Ein paar Stiefel. Ich zog meine Turnschuhe an und trat aus der Tür. Hinter mir zog ich zu. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich drehte mich nicht um. Blickte nicht zurück. Als ich durch die Straßen ging. Ich traf niemanden. Alle waren arbeiten oder in der Schule. Meine Beine liefen wie von selbst. Ich war ferngesteiert.
Es ging in einen abgelegenen Wald. Immer tiefer und tiefer. Bis ich vor einem großen Baum zum Stehen kam. Seine Wurzeln bildeten ein Tor. Für mich. Nur für mich. Nun drehte mich mich doch um. Einmal im Kreis. Sah mir die Bäume an. Dann wandte ich mich wieder dem Tor zu. "Komm. Sie warten auf dich." Die Stimme mit einem kühlen Wind durch das Tor getragen. Ich atmete tief durch. Dann machte ich einen Schritt. Und noch einen. Und noch einen. Langsam verschwand ich in der Dunkelheit des Ganges. Doch ich hatte keine Angst. Immer weiter lief ich. Es wurde kälter. Dann wieder wärmer. Ich erkannte ein Licht. Ein Licht am Ende des Tunnels. Nur noch fünf Schritte. Vier. Drei. Zwei. Eins. Und ich war draußen. Helles Licht blendete mich und ich hörte das Meer in der Ferne rauschen. Dann hatten sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt und ich erkannte, was sich vor mir befand.
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