Der Tragödie zweiundzwanzigster Teil
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wurden wir bereits von Carolin erwartet.
Zumindest ging ich davon aus, dass sie es sein musste, da sonst weit und breit keine Menschenseele zu sehen war. Der beinahe gespenstisch leere Bahnhof stellte damit einen krassen Kontrast zu dem dar, von dem wir vor rund zweieinhalb Stunden losgefahren waren.
Mein Verdacht bestätigte sich, als die Frau sich in Bewegung setzte, sobald sie uns gesehen hatte, nachdem wir den Zug verlassen hatten.
Wir waren die einzigen, die an dieser Station ausstiegen.
Der Ort musste noch kleiner sein als gedacht.
„Das ist übrigens Caro", Nick deutete auf die freundlich aussehende Frau mit dem hellbraunen Kurzhaarschnitt, die nun auf uns zu kam. Mae verdrehte die Augen. „No shit, Sherlock."
Nick ignorierte den Kommentar seiner Schwester und ließ sich stattdessen von der Frau umarmen.
„Nick, Mae!", begrüßte sie die beiden. „Schön euch endlich mal wiederzusehen!"
Nun umarmte sie auch ihre Nichte. Dann wandte sie sich mir zu. „Und du bist bestimmt Tammy, oder?"
Ich nickte und sie schüttelte meine Hand. „Du kannst mich gerne Caro nennen."
„Danke", sagte ich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich bei solchen Begrüßungsrunden seit ich denken kann schon unwohl fühlte.
Der Zug war in der Zwischenzeit wieder losgefahren und hatte den Bahnhof in einer angenehmen Stille zurückgelassen. Der kleinere Wartebereich auf der uns gegenüberliegenden Seite der Schienen war sichtbar von der Natur zurückerobert worden. Die zwei marode wirkenden Holzbänke waren mit dunkelgrünen Kletterpflanzen überzogen und der Apfelbaum, der hinter dem gläsernen Dach der nach vorne hin offenen Wartehütte stand, hatte seine wuchtigen Äste auf dem offensichtlich ziemlich stabilen Glas abgelegt.
Vermutlich hatte man beschlossen, dass eine Seite als Wartebereichs ausreichen würde, was in Anbetracht der Tatsache, dass wir gerade die einzigen Fahrgäste waren, nicht komplett unbegründet zu sein schien.
Ich entdeckte einen kleinen blau-grauen Vogel, der unter der überwachsenen Bank hervorhüpfte.
„Es ist wirklich schön hier", merkte ich an. Caro nickte und mir fiel auf, dass sie die gleichen Augen hatte wie Mae. Naja, ein bisschen weniger intensiv, aber trotzdem strahlend grün. „Ich weiß. Wenn Paul nicht montags bis freitags in der Kanzlei sein müsste, würden wir direkt herziehen." Sie seufzte leise. „Aber dann kommt erstmal. Ihr müsst bestimmt ganz hungrig von der Fahrt sein."
„Und wie!", stimmte Nick augenblicklich zu.
Caro führte uns zu einem silbernen Ford, der vor dem Gebäude geparkt stand. Dort angekommen öffnete sie den Kofferraum, damit wir unser Gepäck verstauen konnten.
„Weist du, Tammy, ich finde es sehr sympathisch, dass du nicht mit zwei Koffern angereist bist", sagte Caro mit einem kleinen Schmunzeln.
Ich war etwas verwirrt. „Wären zwei Koffer nicht auch ein wenig unrealistisch für ein einzelnes Wochenende?"
„Das dachte ich bis Juni auch noch. Aber dann hat mich Maes Freundin eines Besseren belehrt."
Ich drehte mich zu Mae um und sah, dass diese ihre Tante mit böse ansah. „Das lässt du mich echt nie vergessen, was? Warum wird mir eigentlich alles noch Ewigkeiten nachgetragen?"
Caro lachte, während sie um das Auto herum zur Fahrertür ging.
„Du hast ... eine Freundin?", fragte ich Mae. Sie knirschte mit den Zähnen. „Exfreundin. Nicht meine beste Wahl."
„Oh", war das Einzige, was mir als Antwort einfiel.
„Du hättest es an den zwei Koffern merken können", flötete Caro. „Das war eindeutig eine Red Flag."
Mae verdrehte die Augen, konnte ein kleines Grinsen jedoch nicht unterdrücken.
Sie hat keine Freundin! Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken und die kleine Stimme, die sich in meinem Kopf wie wild freute, dazu zu bringen, zu verschwinden. Es machte schließlich keinen Unterschied für mich. Ich sollte im Gegenteil eher enttäuscht darüber sein, da es mir bestimmt leichter gefallen wäre, über sie hinwegzukommen, wenn ich gewusst hätte, dass sie bereits vergeben war.
Wir stiegen in das geräumige Auto und Caro startete den Motor.
„Ist es weit von hier bis zu euerm Haus?", erkundigte ich mich, um mich von den fiesen Gedanken in meinem Kopf abzulenken.
„Höchstens eine Viertelstunde", versprach Caro. Wir fuhren eine idyllische Landstraße entlang, die rechts und links von Einfamilienhäusern und hin und wieder einem Café oder einem kleinen Laden gesäumt wurde.
„Wenn du auf der linken Seite zwischen die Häuser guckst, kannst du den See erkennen", Nick deutete aus dem Fenster neben sich. Ich beugte mich ein Stück vor und konnte tatsächlich das hellblaue Wasser sehen.
Durch die Frontscheibe erkannte ich einige, von grün überzogenen Berge. Sie waren nicht überirdisch hoch, aber dennoch hoch genug, dass ich mir nicht zutrauen würde, sportlich genug zu sein, um einen von ihnen zu erklimmen.
Nach einigen weiteren Ecken wurde das Auto langsamer und Caro bog auf eine der Auffahrten ein. „Da wären wir."
Ich betrachtete das Haus. Es lag am Rand des Dorfes, nur ein paar Hundert Meter entfernt vom Fuße des ersten Berges.
Als wir ausstiegen, überraschte mich die Intensität der Luft. Hier auf dem Land war sie wesentlich frischer und sauerstoffreicher als bei uns zu Hause.
Da die Stadt, in der wir wohnten, nicht allzu groß war, hatte ich nicht damit gerechnet, einen so starken Kontrast zu spüren.
Noch während wir auf der Einfahrt standen, öffnete sich die Haustür und sogleich schoss ein kleiner, schwarz-brauner Hund auf uns zu. Dank Ats Vernarrtheit in Hunde hatte ich unzählige Male mit ihm ein Kartenspiel über verschiedene Rassen spielen müssen, und erkannte den kleinen Hund, der aufgeregt bellend um uns herumsprang, als Deutschen Pinscher.
Nick beugte sich runter und kraulte ihn hinter den Ohren. „Hey, Bella."
Bella legte den Kopf in den Nacken und genoss die Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, während der Rest der Familie ebenfalls aus der Tür trat.
Paul war ein schlanker, schwarzhaariger Mann mit warmen, dunklen Augen und einem freundlichen Lächeln. Er trug ein ausgewaschenes graues T-Shirt und zerrissene Jeans und sah damit ganz und gar nicht aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, nachdem ich erfahren hatte, dass er Anwalt ist.
Auf seinem Arm trug er einen kleinen Jungen mit braunen Locken und den grünen Augen seiner Mutter. Aus irgendeinem Grund schien sich dieses Gen in Maes Familie durchzusetzen.
„Hi", er nickte uns zu und das Kind auf seinem Arm beobachtete mich neugierig.
„Hey, ich bin Tammy." Ich winkte Nils zu und der vierjährige Junge winkte nach kurzem Zögern schüchtern zurück. Wir holten unsere Taschen aus dem Kofferraum, während Paul versuchte, Bella wieder ins Haus zu scheuchen.
„Nils und ich habe Erdbeerkuchen gebacken, während Caro euch abgeholt hat. Oder wollt ihr erst euer Zeug auf eure Zimmer bringen?"
„Nein!", rief Nick schnell. „Kuchen klingt super!"
Mae musste lachen und ihre wunderschönen Augen leuchteten im hellen Licht der Sonne.
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