Der Tragödie sechsunddreißigster Teil

Ächzend lehnte ich mich an den Stamm einer alten Eiche, die den Wegrand säumte. „Mae, ich sterbe gleich."

Sie verdrehte die Augen. „Du stellst dich echt an. Komm, es ist nicht mehr weit."
Absolut rücksichtslos lief sie einfach weiter und ließ mir damit keine andere Wahl als ihr zu folgen, da ich den Weg nicht kannte und nicht vorhatte, von nun an einen auf Dschungelbuch zu machen und im Wald zu leben.

Mae hatte die Wahrheit gesagt, es war wirklich nicht mehr weit.
Als wir um die nächste Ecke bogen, waren die Sträucher und Bäume schlagartig verschwunden und der Wanderweg endete auf dem breiten Gipfel des Berges.

Vor uns erstreckte sich die grüne Hügelkette, umringt von Wäldern und dem See. Soweit das Auge reicht, sah man unberührte Natur.

„Es ist wunderschön", flüsterte ich. Mae nickte. „Ich weiß."

Sie zog eine dunkelblau-karierte Decke aus ihrem Rucksack und breitete sie vor uns auf dem felsigen Boden aus. „Ich sag doch, dass es den Weg wert ist."

Ich nickte nur stumm, während ich meine Augen nicht von der atemberaubenden Landschaft losreißen konnte.

Mae streckte sich auf der Decke aus, mit dem Gesicht zum Himmel und nach kurzem Zögern legte ich mich neben sie.

Obwohl wir die einzigen zwei Menschen auf der ganzen Welt zu sein schienen, war die Luft um uns herum von allerlei Geräuschen erfüllt.

Es wehte eine leichte Brise, die durch die Blätter der niedrigen Büsche, die den Fels umgaben, fuhr, und wenn ich darauf achtete, konnte ich leise neben mir Maes Atem hören.

„Stört es dich eigentlich, dass ich dich Tamms nenne?", durchbrach sie das Schweigen.

„Nein, wieso sollte es?"

Wieder entstand eine kurze Pause, bevor sie antwortete. Ich liebte es, dass sie so häufig nachdachte, anstatt einfach direkt zu antworten.
„Manche Leute mögen keine Kurzformen und wollen lieber mit ihrem vollen Namen angesprochen werden. Darum wollte ich nachgefragt haben."

„Naja, aber Tammy ist ja auch nur ein Spitzname."

Mae drehte sich auf die Seite und ich tat es ihr gleich, sodass wir uns nun ansahen.

„Das wusste ich gar nicht. Wovon ist es denn die Abkürzung?"

„Themis."

Schweigen. Erneut.

„Ich mag den Namen. Wie die Titanin."

Ich sah sie verblüfft an. „Du kennst dich mit griechischer Mythologie aus?"

Mae lächelte schüchtern. „Ich schätze schon."

„Das ist ...", fing ich an. „Es ist einfach so, dass noch nie jemand gewusst hat, dass ich nach einer Titanin benannt worden bin."

„Ich wünschte, meine Eltern hätten mir so einen coolen Namen gegeben."

„Ich finde Mae ziemlich cool. Klingt Amerikanisch."

„Mae ist auch nur ein Spitzname."

Das überraschte mich irgendwie.

„Echt?" Ich sah sie neugierig an. „Was ist denn dein richtiger Name."

Sie grinste. „Vergiss es, den nehme ich mit ins Grab."

Ich stupste sie mit dem Schuh an. „Ach komm schon, so schlimm kann es doch gar nicht sein."

„Doch", sagte sie. „Ist es."

„Maike?", riet ich. Sie schüttelte den Kopf. „Der ist doch gar nicht schlimm."

„Margot?" Erneutes Kopfschütteln.

„Mabel?" „Ich mag den irgendwie."

„Myrte?" „Schlimmer."

„Schlimmer als Myrte?" „Jup."

„Melanie?" „Du errätst das nicht."

„Medusa?" Sie lachte.

„Mathilde?" „Ich komme mir gerade echt vor wie Rumpelstilzchen."

„Mara, Maria, Marie, Marlene, Michaela, Mildred?", rief ich und schüttelte dabei ihre Schultern. Sie lachte noch mehr. „Komm runter, Tamms. Ich sag es dir ja schon."

„Endlich!"

„Aber du musst versprechen, nicht zu lachen."

„Ich verspreche es."

„Mein voller Name ist –", sie atmete tief durch, „– Magdalena Gretel Schulte."

Ich lachte doch und Mae schlug mir spielerisch gegen die Schulter. „Ey, du hast versprochen, nicht zu lachen!"

„Es tut mir – tut mir leid", japste ich immer noch lachend.

„Ich wurde nach meinen Großmüttern benannt, okay?" Auch sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.

Es war komisch, wie gut es funktionierte, das ganze „Einfach nur Freunde sein".
Ich rollte mich wieder auf den Rücken. Was war romantische Attraktion eigentlich überhaupt? Wie unterschied sie sich von rein platonischer?

Ich dachte nach, klar, ich wollte Mae tief in meinem Inneren immer noch küssen und diese ganze Romcom-Kacke abziehen, aber da alles dagegensprach, da ich Nick sonst nie wieder unter die Augen treten könnte und sie partout darauf besteht, dass ich sie nicht mit irgendwelchen Ideen für Lösungen belästige, würde es dann nicht auch so gehen?

In diesem Augenblick schien ihr Wunsch, einfach nur eine gute Zeit zu haben, absolut akzeptabel für mich.
Hatte ich gestern überreagiert?

Ich wollte wirklich nicht einer dieser liebestollen Typen in den Filmen sein, die sich wie komplette Stalker verhalten und alle es nur romantisch fanden, weil sie gutaussehend sind.

Mae zog ihr Handy aus der Tasche und fotografierte die Aussicht, die wir über die ganze Umgebung hatten.

„Soll ich dich unter dem Bild erwähnen?", fragte sie, ohne dabei aufzuschauen. „Wie heißt du auf Instagram?"

Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Account."

Sie sah mich an, als wäre ich ein Außerirdischer mit grüner Haut und Sieben Augen auf der Stirn. „Du hast kein Instagram?"

Zögerlich schüttelte ich ein zweites Mal den Kopf.

„Warum nicht?"

„Ehrlich gesagt, keine Ahnung. Hatte einfach nie einen Grund, mir ein Profil zu erstellen."

Sie runzelte die Stirn. „Dann bin ich jetzt dein Grund."

Ich lachte. „Wieso ist es dir wichtig, dass ich einen Account habe?"

Sie dachte nach, bevor sie antwortete. „Jemand muss dich doch in die Gesellschaft integrieren."

Das brachte mich noch mehr zum Lachen. „Mae, ich bin kein Hinterwälder, der in einer Höhle im Wald wohnt. Ich habe einfach nur keinen Instagram-Account."

Sie streckte mir die Hand entgegen. „Gib mir dein Handy, wir erstellen dir einen."

Ich verdrehte die Augen. „Lass mich die Aussicht genießen. Wenn du unbedingt willst, kannst du mir einen einrichten, wenn wir wieder unten in der Hütte sind. Außerdem haben wir hier eh kein WLAN."

Sie schmollte. „Versprich es."

„Ich verspreche es."

„Gut."

Wir bleiben noch eine Weile und sprachen über Gott und die Welt, doch irgendwann überredete Mae mich, den Heimweg anzutreten.
Etwas, das sie nur schaffte, indem sie mir versprach, dass der Abstieg wesentlich leichter sein würde als das Erklimmen des Berges.

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