Der Tragödie fünfundzwanzigster Teil
Nick stand bereits wartend im Flur und scrollte durch sein Handy. Als er uns bemerkte, sah er auf und schenkte uns ein vorfreudiges Lächeln, nicht ahnend, dass Mae und ich gerade – was hatten wir eigentlich genau gemacht?
Eine leichte Panik überkam mich. Interpretierte ich in das, was eben passiert war, vielleicht einfach viel zu viel rein?
Es hatte sich nur so echt, so wichtig angefühlt.
„Wollen wir dann los?", fragte Nick immer noch lächelnd und ließ sein Smartphone in die Tasche seiner Hose gleiten.
„Klar", Mae nickte kurz und warf mir dann einen flüchtigen Seitenblick zu, als ich keinerlei Antwort gab. Ich schluckte und zwang mich, Nick ebenfalls anzulächeln. „Gerne! Ich freue mich schon total darauf, den See endlich aus der Nähe zu sehen."
„Du wirst es lieben", Nick schien regelrecht aufgeregt zu sein. Er dirigierte uns die Treppe runter und verschwand dann kurz, um noch etwas Proviant aus der Küche zu hohlen, während Mae und ich vor dem Haus auf ihn warteten.
Seit wir das Zimmer verlassen hatten, hatte ich es vermieden, ihr in die Augen zu sehen, doch als wir nun in der Einfahrt des Ferienhauses standen, spürte ich eindeutig ihren Blick auf mir ruhen.
Zögernd hob ich den Kopf. Ich hatte recht gehabt, Mae musterte mich eingehend. Zwischen ihren Augenbrauen zeichnete sich eine schmale Furche ab.
Als sich unsere Blicke trafen, verschwand sie. „Du verhältst dich komisch, Tamms."
Wut, dicht gefolgt von Zweifel, ob ich es nicht doch falsch aufgefasst hatte, überkam mich, wurde dann jedoch gleich von einer zweiten Welle Wut wieder verdrängt.
„Du weißt genau wieso", zischte ich sie verärgert an.
Es entstand eine Pause, während sie mich einfach nur weiter ansah. In ihrem Blick lag etwas Reumütiges.
„Dann also doch", Mae seufzte leise.
„Dann also doch was?", fuhr ich sie lauter an als beabsichtigt. „Was ist das hier?"
Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gedacht, sie würde gleich anfangen zu weinen. Sie streckte ihre rechte Hand nach mir aus und berührte meinen Arm auf die gleiche zaghafte Art wie vorhin oben im Flur.
War das wirklich erst vor ein paar Minuten gewesen? Es fühlte sich an, als seien seitdem Tage vergangen.
Ich hätte gerne in einer coolen Geste ihre Hand weggeschlagen und sie dann dazu gezwungen, mit mir zu reden. Schließlich fehlte uns die Zeit, Nick konnte jeden Moment auf die Auffahrt treten. Doch ich brachte es nicht über mich. Ich wollte nicht, dass sie ihre Hand wegnahm.
„Rede mit mir!", verlangte ich trotzdem. Nun war Mae diejenige, die den Blick gesenkt hielt. „Jetzt!"
Sie schüttelte den Kopf. „Tammy, nein."
„Warum nicht!" Es war weniger eine Frage als vielmehr ein Ausruf der Verzweiflung. Obwohl ich wusste, wie irrational das ganze war, brauchte ich nachdem, was eben passiert war, klare Antworten.
„Heute Abend, okay", zischte sie und warf dabei immer wieder Blicke zur Tür rüber, was mir nur noch weiter vor Augen führte, wie undurchdacht meine Lautstärke war. Der Druck ihrer Hand auf meinen Arm hatte sich vergrößert.
„Versprich es", forderte ich leiser. Mae seufzte. Dann nickte sie. „Ich verspreche dir, dass wir heute Abend darüber reden –", sie zögerte kurz und schien ihre Worte zu überdenken. „Nein, warte, ich verspreche dir, dass ich dir heute Abend deine Fragen beantworten werde, okay?"
Ich verstand nicht hundertprozentig, was sie durch diese Veränderung bezwecken wollte, nickte jedoch.
Hinter uns hörte man, wie die Haustür geöffnet wurde. Ruckartig drehten wir uns um und sahen Nick, der uns mit einem sichtbar gefüllten Rucksack zuwinkte.
Mae drückte kurz meinen Arm.
„Verhalt dich normal, klar?", raunte sie mir zu. Ich zögerte. „Ich versuch's."
„Jesus Christus." Ihre Mundwinkel zuckten und auch ich konnte ein kleines Lächeln nicht unterdrücken. Irgendetwas an dieser Situation war so unfassbar banal.
Der Marsch zum See dauerte maximal fünf Minuten und so kamen wir an, während die Sonne noch hoch am Himmel stand und das hellblaue Wasser des Sees in ein Meer aus tanzenden Sternen verwandelte.
„Schön, nicht?", Nick lächelte mich versonnen an.
„Ja", sagte ich, immer noch über die Aussicht, die sich uns bot, staunend.
„Und das Beste ist –", er grinste mich an. „Ich habe Erdbeeren dabei."
„Gut gemacht!", Maes Augen leuchtete auf und sie versuchte, ihrem Bruder den Rucksack zu entreißen, doch er hielt ihn aus ihrer Reichweite. „Benimm dich, Bernie, und sei froh, dass ich dich überhaupt zu dem Date mit meiner Freundin mitgenommen habe."
Seine Worte lösten eine Sturzflut des Unbehagens in mir aus, doch ich wusste, dass ich es mir nicht anmerken lassen durfte. Normal verhalten lautet die Mission.
„Wieso Bernie?", fragte ich stattdessen, um das Thema zu wechseln.
Nick grinste breit. „Oh, ich liebe diese Geschichte!"
„Und trotzdem wirst du sie nicht erzählen", fuhr im Mae ins Wort.
Nick lachte nur und zog dann eine dünne blaue Decke aus seinem Rucksack, die er vor uns ausbreitete.
Wir setzten uns und Nick kramte nach den versprochenen roten Früchten.
Die Atmosphäre war herrlich und würde es mir hoffentlich erleichtern, mich bis heute Abend von jeglichen Spekulationen abzuhalten.
Mit einem leisen Seufzer ließ ich mich auf den Rücken sinken. Die Sonne schien auf mein Gesicht und ich beobachtete die kleinen Punkte, die vor meinen Augen tanzten.
Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass Nick in der Zwischenzeit die Tupperdose mit den Erdbeeren hervorgeholt hatte und sich gerade eine der roten Beeren in den Mund steckte.
„Hier", er hielt mir die Dose hin und ich nahm mir dankend eine der Früchte. Sie war herrlich süß. Mein Blick wanderte zu Mae, und sie grinste mich an, während sie ihre Hände ein Stück hob, die beide prall gefüllt mit Erdbeeren waren.
„Ich liebe es hier, danke", sagte ich. Nick strahlte und griff dann nach meiner Hand. Ich widerstand dem ersten Impuls sie wegzuziehen und lächelte ihn stattdessen an.
„Weißt du, Tammy", fing er an, während er immer noch meine Hand hielt. „Ich habe über das Gespräch vorhin beim Kuchenessen nachgedacht."
Oh Gott, was kam jetzt?
Erneut musste ich dem Drang widerstehen, meine Hand wegzuziehen, diesmal jedoch aus dem Grund, dass ich spürte, wie Schweiß auf die Innenseite trat.
„Und Mae hat recht."
Was? Worüber redete er?
„Es ist echt eine Schande, dass wir uns noch nicht geküsst haben, und ich würde das gerne ändern, wenn du einverstanden bist."
Oh.
Oh fuck.
Panik brach in mir aus und ich suchte hektisch meinen Kopf nach Ideen für einen Ausweg aus dieser Situation ab, doch mir viel nichts ein.
Nick lächelte mich erwartungsvoll an und ich wusste, dass mir die Zeit davonlief.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Mae versteinert neben mir saß. Unsere Blicke trafen sich. Ich hoffte inbrünstig, sie würde verstehen, was ich ihr versuchte zu sagen.
Sie tat es.
„Cringe, Bro", sie trat nach Nicks Bein. „Wer will seinen ersten Kuss bitte schön in Anwesenheit seiner Stiefschwester erleben?"
Nick wurde rot und wandte sich von mir ab. Innerlich überschüttete ich Mae mit Dank.
Nick jedoch schien das ganze mehr als nur peinlich zu sein.
Ich drückte kurz aufmunternd seine Hand, die ich immer noch in meiner hielt, und konnte das kurze Flashback nicht verhindern.
„Ist doch nicht schlimm", ich löste meine Hand aus seiner und legte sie fürsorglich auf seine Schulter. „Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt."
Nick murmelte etwas Unverständliches, doch wenigstens verschwand die Schamesröte aus seinem Gesicht.
Mae hatte mich verstanden. Mae hatte uns davon abgehalten, uns zu küssen.
Meine Erwartungen an heute Abend stiegen ins Unermessliche.
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