Der Tragödie dreiundvierzigster Teil

Juni hielt mir ein enges schwarzes Top unter die Nase. „Probier das mal an!"

Ich musterte das Stück Stoff kritisch. „Ich weiß nicht, ob das ..."

Bevor ich den Satz hatte zu Ende führen können, drückte sie mir das Kleidungsstück auch schon an die Brust und zwang mich dadurch, es entgegenzunehmen.

Naja, zwingen ist eventuell der falsche Ausdruck, schließlich hat sie mir keine Waffe an den Kopf gehalten oder so. Aber da ich ja nicht nur ein Eins-a-Detektiv, sondern auch der zweite Newton bin, hat mein geniales Gehirn die Hypothese aufgestellt, dass eine Gewisse Kraft namens Gravitation auf das Top einwirken und es daraufhin zu Boden sinken könnte. (Konjunktiv absichtlich gewählt.)
Und sagen wir einfach mal, die Kassiererin, die uns die ganze Zeit mit Argusaugen zu beobachten schien, wirkte nicht gerade wie jemand, dem ich nicht zutrauen würde, sich wegen so etwas an mir zu rächen.
Und ich meine nicht rächen im Sinne von „bei ihren Kollegen über mich ablästern" sondern rächen im Sinne von „um Mitternacht neben meinem Bett auftauchen".

Während ich mich in meinen absolut nicht besorgniserregenden Vorurteilen verlor, hatte Juni bereits wieder angefangen, die Gänge des Ladens zu durchstreifen und dabei energisch die Kleiderbügel der Kleiderständer hin und herzuschieben.

Ich hängte das Top unauffällig zurück. Und das lag nur daran, dass es mir vermutlich sowieso nicht gepasst hätte.

Juni war mittlerweile um eine Ecke verschwunden und es würde vermutlich nicht mehr lange dauern, bis sie bemerkt, dass ich nicht mehr hinter ihr war, doch ich war zu beschäftigt damit, das Top anzustarren.

Wenn ich Nick und seine Schwester wirklich hinter mir lassen will, sollte ich dann nicht irgendein Kleidungsstück nicht nicht kaufen, nur weil Mae ein beinahe identisches besitzt?

Wenn ich die beiden hinter mir lassen will, darf ich dann überhaupt über so etwas nachdenken?

,Nein' entschied ich und griff nach dem Top. Darf ich nicht.

Ich drehte mich um, um Juni suchen zu gehen, doch sie stand schon vor mir. Ich zuckte zusammen.

„Was machst du noch hier?", sie sah mich vorwurfsvoll an.

Ich murmelte eine undeutliche Entschuldigung davon, dass ich ein Shirt gesehen hatte, das mir gefiel und das ich angucken wollte. Doch Juni schien mir sowieso nicht zuzuhören, da sie zu sehr damit beschäftigt war, mir einen weiteren Haufen Kleidung auf die Arme zu schaufeln.

„Es ist übrigens ziemlich schlecht für die Umwelt, so viel neue Kleidung einzukaufen", warf ich mit leicht bissigem Unterton ein und hätte mich in der nächsten Sekunde am liebsten schon dafür geohrfeigt.
Umwelt? Den Haarschnitt hatte ich noch auf Juni und Aron schieben können, aber dieser Fehler in meinem Plan, cool und beliebt zu werden, ging eindeutig voll und ganz auf meine Kappe.

Juni schien wirklich etwas betroffen. „Es ist doch nur zum Anprobieren, wir kaufen das natürlich nicht alles."

Ich schwieg, denn ich wusste, dass ich einfach genetisch gesehen nicht dazu im Stande gewesen wäre, etwas zu sagen, das meinen Fehler nicht noch mehr verschlimmert hätte.

Doch Juni schien mein Schweigen als weiteren Vorwurf zu nehmen. „Wirklich!"

Ich spürte, dass mein Gesicht heiß wurde. „Ach so."

Juni sah mich für einige Sekunden an und schien nicht recht zu wissen, was sie tun sollte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Aber du hast recht, das reicht wirklich langsam."

Schweigen meinerseits.

Eventuell war es gar keine so schlechte Idee, einfach nur noch zu schweigen und dadurch beliebt zu werden.
Wobei, das haben die Frauen im neunzehnten Jahrhundert vermutlich auch gedacht. Also vielleicht doch nicht die beste Idee.

„Umkleiden?", fragte ich und klopfte mir innerlich dafür auf die Schulter, dass ich wusste, dass es beim Shoppen noch einen Schritt zwischen den Regalen und der Kasse gab.
Juni nickte zustimmend.


„Beeil dich mal!", hörte ich die Stimme meiner besten Freundin von der anderen Seite des Vorhangs.

„Ja, warte kurz."

Doch Warten war wohl nicht Junis größte Stärke.
Mit einem kurzen Rascheln zog sie den Stoff des Vorhangs en winziges Stück zur Seite und zwängte sich zu mir in die Kabine.

Reflexartig griff ich nach einem der Shirts ganz oben auf dem Kleiderhaufen und hielt es vor mich. Mit vor Schock geweiteten Augen starrte ich sie an.

Layla Rieckmann denkt also, ich würde Leute in öffentlichen Umkleiden bespannen, während ich demonstrativ auf die Wände starre, aber für straighte Mädchen war es okay, in die Umkleidekabinen anderer zu stürmen?

Juni hob eine Augenbraue und irgendwie traf es mich ziemlich unerwartet, dass sie das auch konnte.

„Alles okay?", sie musste grinsen. Für sie schien es das normalste der Welt zu sein in anderer Menschen Privatsphäre einzudringen.

Sie nahm mir das Shirt aus der Hand und legte es zurück zu dem Haufen aus hellrosa und beigefarbenen Oversized-Pullovern und dem restlichen Zeug, von dem ich vor kurzer Zeit noch überzeugt gewesen wäre, es niemals für etwas anderes gebrauchen wollen zu würden als als Putzlappen.

Man sollte fairnesshalber vermutlich erwähnen, dass ich vollbekleidet war als Juni meine Kabine betreten hatte. Aber ich meine, sie hätte das schließlich nicht wissen können, also ...

Sie stellte sich so hinter mich, dass wir gemeinsam mein Spiegelbild in dem monströsen Wandspiegel betrachten konnten.

„Damn", sagte sie und ich hätte lügen müssen, wenn ich gesagt hätte, dass mir das silberweiße Sommerkleid, das Juni mir ausgesucht hatte, nicht auch irgendwie ein bisschen gefiel. Es passte ziemlich gut zu meinen Haaren.
Zu der Farbe meiner Haare wohlbemerkt, den Schnitt bereute ich immer noch.

Aber die Harmonie zwischen Kleid und meinen weißblonden Haaren war wohl doch nicht ganz das, was Juni gemeint hatte.

„Damn", wiederholte sie noch einmal. „Du hast ja wirklich keine Brüste."

Ich verschluckte mich vor Überraschung.
„Was?", keuchte ich, während ich hustend versuchte, nicht zu ersticken.

Juni klopfte mir mütterlich auf den Rücken, doch sie konnte ein kleines Lächeln nicht ganz verstecken. „Das ist zwar echt niedlich, aber du musst wirklich aufhören, so schnell verstört zu sein."

Ich antwortete nicht, da ich immer noch damit beschäftigt war, meinen Körper langsam zurück in die Routine des gleichmäßigen Atmens zu führen.

„Ich meinte ja nur, dass ich irgendwie gedacht hätte, du würdest einfach nur immer die falschen Sachen anziehen. Aber du hast wirklich einfach nur keine Brüste."

Okay, es lag eindeutig nicht an mir. Niemand konnte mir erzählen, dass solche Gespräche unter anderen Mädchen normal sind.

„Eh", machte ich und steuerte damit wie gewohnt meinen Beitrag zur menschlichen Sammlung intelligenter Aussagen bei.

Juni seufzte und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Hey, sorry, ich wollte dich echt nicht verunsichern. Wir kriegen das hin, versprochen!"

Ich bezweifelte zwar, dass sie damit meinen Masterplan meinte, da sie schließlich nichts davon wusste, aber ich beschloss trotzdem, dass sie es tat.
Ein bisschen Optimismus konnte schließlich nie schaden. Halbvolle Gläser und so.

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