Kapitel 1

Seit unsere nordamerikanischen Kolonien im Jahr 1775 den Aufstand wagten, den wir erst sieben Jahre später niederschlagen konnten, hatte es immer wieder Unabhängigkeitsbestrebungen seitens der amerikanischen Siedler gegeben. Ihr Zermürbungskrieg fand ihren Höhepunkt und ihr Ende, als das Empire – geschwächt durch den Weltkrieg – ab dem Jahr 1918 zahlreiche Kolonien in die Unabhängigkeit entließ.

Die sogenannten Vereinigten Staaten von Amerika führen seither einen wirtschaftlichen Rache- und Propagandafeldzug gegen ihr ehemaliges Mutterland mit dem Ziel, die Reste des freien und unabhängigen Europas gegen den größeren Feind im Osten aufzureiben und damit die eignen Einflussgebiete zu erweitern.

(Aus: Allgemeine Einführung in die Geheimdienstarbeit – Ein Überblick über die historischen Hintergründe)

*

Als man Ellie hier her gebracht hatte, hatte man sie gefragt, welche Musik sie am liebsten hörte. Weil sie übermüdet, hungrig und zugegebenermaßen auch ein wenig ängstlich gewesen war, verstand sie in diesem Moment nicht, worauf diese Frage abzielte. So hatte sie fahrig zwei oder drei Bands aufgezählt, deren Platten sie früher gerne gehört hatte. Jetzt bereute sie diese Gedankenlosigkeit. Nie wieder würde sie einen Song von Depeche Mode hören können, ohne entsetzliche Schmerzen zu durchleiden.

Seit Stunden wummerten die Synthesizer in ihrem Kopf, in ihrem Bauch und von den Wänden wider wie eine Welle aus Lärm, die über sie schwappte und sie unter sich begrub. Konnte man in Musik ertrinken? Konnte man in Musik ersticken?

Ellie kannte die Prozedur. Die Musik war erst der Anfang, die Vorbereitung. Wenn sie sie weich gekocht hatten, konnte es weiter gehen. Was war schlimmer? Ellie wägte es jedes Mal neu ab. Wie lange würde es dieses Mal dauern, bis sie zu schreien anfangen würde, nur um den Lärm zu übertönen, den Gesang, bei dem sie kein einziges Wort mehr verstand, die Melodien, die keinen Sinn mehr ergaben und den Rhythmus, der sie bei jedem Schlag in den Magen zu boxen schien?

So laut war es, dass sie noch nicht einmal das Lied erkannte, das auf sie einprügelte.

Wie lange noch? Ellie machte ein Spiel daraus. Wie lange konnte sie sich zusammenreißen? Konnte sie ihren eigenen Rekord brechen? Wurde sie mit der Zeit stärker, resistenter gegen die Folter? Oder fiel sie langsam dem Wahnsinn anheim?

Enjoy the Silence...

Es war blanker Hohn!

Und dann –sie konnte am Ende doch nicht sagen, wie lange sie ausgehalten hatte – hörte sie sich selbst schreien. Als sie sich dessen bewusst wurde, erschrak sie. Für einen Augenblick fühlte sie sich, wie, wenn sie aus einem Alptraum erwacht wäre, nur dass sich die Realität als nicht minder alptraumhaft herausstellte.

Ellie schrie und tobte, sodass der letzte zur Selbstreflexion fähige Teil ihres Gehirns annahm, nun langsam aber sicher ein Fall für einen Exorzisten zu werden.

Außer einem ununterbrochenen „Nein! Nein! Nein!" brachte Ellie zwar nichts Sinnvolles zustande, aber selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, sich präziser artikulieren zu können, wäre sie sicher auf taube Ohren gestoßen.

Sie hielten einen vom Denken ab. Das war es, was diese Folter so grausam machte. Ein Körper, der von nichts als Lärm erfüllt ist, der vor lauter Schmerz nichts anderes mehr wahrnimmt, reagiert irgendwann pathologisch, auch wenn ihm keine Verletzungen zugefügt werden.

Es ist wie Schlafmangel - nur komprimiert und in Form gegossen. Wie heißes, flüssiges Metall, das langsam um das Gehirn herum erkaltet.

„Nein! Nein! Nein!"

Ellie schüttelte den Kopf so heftig, als könnte sie so den Lärm loswerden. Ihre Finger verkrampften sich, ihre Hände und Arme. Sie hätte um sich geschlagen, wären sie nicht fixiert gewesen. Ihre Füße aber konnte sie bewegen und so trat sie gegen die Beine ihres Stuhls, stampfte auf den Boden, bis sie drohte umzufallen. Das ließen sie nie zu, wusste Ellie und hoffte darauf, dass Phase zwei endlich eingeleitet würde.

Depeche Mode! Immer nur Depeche Mode! Ob die Band ihre Erlaubnis für eine derartige Verwendung ihrer Musik gegeben hatte?

„Nein!", brüllte Ellie, während ihr Tränen in die Augen stiegen und schließlich ihre Wangen entlang rannen. Sie kitzelten auf ihrem Gesicht und sie schämte sich so, dass sie noch mehr weinte.

Es war Wut auf Dave Gahan und seine Stimme, die einem den Magen umdrehte. Wut auf die Idioten, die sich einen Spaß daraus machten, sie dieser Prozedur zu unterziehen und die sie von irgendeinem Kontrollraum aus beobachteten. Wut auf sich selbst, weil sie spürte, wie ihr die letzte Mahlzeit wieder hochkam.

Das Kopfschütteln und die Bässe. Ellie übergab sich auf ihren Overall und realisierte kaum, wie die Musik mit einem Schlag verstummte. Der Schmerz blieb. Das flaue Gefühl im Magen. Der Schwindel. Das Gefühl zerquetscht zu werden.

Jemand drehte einen Schlüssel in einem Schloss um. Ellie hörte es nicht. Sie ließ den Kopf hängen, halb ohnmächtig, halb resigniert. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass das Licht in diesem Raum sie vielleicht umbringen könnte.

Jemand löste die Fesseln von ihrem Stuhl und legte ihr die üblichen Hand- und Fußketten an.

Glück gehabt, dachte Ellie. Wahrscheinlich bewahrte die Kotze auf ihrem Hemd sie vor den Anzüglichkeiten, die die Aufseher ihr normalerweise entgegenbrachten. Keine blöde Bemerkung, kein Gegrapsche heute!

„Aufstehen! Mitkommen!"

Wieso so förmlich heute?, fragte sich Ellie. Keine peinlichen Kosenamen, keine Beleidigungen... Vielleicht war die Presse mal wieder hier. Oder einer von der Regierung.

Aus irgendeinem Grund hielt man sexuelle Belästigung offiziell für unangebracht, Folter aber für notwendig... Praktiziert wurde beides, aber nur wenn niemand wichtiges hinsah.

Ellie stemmte sich hoch und wankte hinter dem Mann her, den sie an der Stimme nicht erkannt hatte. Hier kamen ständig neue Leute an. Nicht einmal die Autoritätspersonen hielten es hier lange aus!

Das Lager in Iqaluit war nicht nur für die Gefangenen ein trostloser Ort. Die Landschaft war karg, die Möglichkeiten, sich irgendwo zu vergnügen – abseits der weiblichen Gefangenen –, begrenzt und das Wetter meistens schlecht. Es war kalt, der Himmel meist grau. Es schneite bis in die Sommermonate hinein und im Winter lebte man monatelang ohne Sonnenlicht.

Dieser gottverdammte Streifen Erde ging einem an die Psyche. Er machte einen zum Sadisten. Zumindest glaubte Ellie das, wenn sie sich die Kerle betrachtete, die hier das Sagen hatten.

Manchmal überlegte sie sich, dass sie ja eigentlich nur über die Mauer klettern müsste, um auf quasi-heimatlichem Boden zu sein. Bestimmt hätte sie dann irgendwelche Rechte, auf die sie sich berufen konnte. Vielleicht würden sie ihr anderswo andere Platten vorspielen. Die Beatles zum Beispiel...

Iqaluit – oder besser: das Internierungslager, das sich irgendwo in der kanadischen Tundra befand und dessen nächstgelegener Ort Iqaluit darstellte – war eine Kuriosität auf dem Schachbrett, dass die Weltordnung darstellte: Eine US-amerikanische Einrichtung auf kanadischem Boden.

Mit Geld kannst du dir alles kaufen, dachte Ellie, sogar ein Stück Land im Gebiet des Feindes, um dort deine Feinde, also die Leute, die eigentlich dort zu Hause sind, wohin du sie verschleppst, außerhalb des eigenen Rechtsstaat nach allen Regeln der Kunst mürbe zu bekommen.

Natürlich wusste man in London Bescheid über die Vorgänge in Iqaluit, aber anders als die Russen, die sich um ihre Agenten kümmerten – wie Ellie immer wieder bitter feststellte – sah ihre eigene Regierung offensichtlich keinen Grund, sie auszutauschen oder freizukaufen. Andererseits: Was konnte Ellie von ihren Leuten erwarten? Glaubte sie, die würden sie besser behandeln? Auf die Dauer würden einem die Beatles sicher auch auf die Nerven gehen...

Ellie wurde in einen Raum geführt, der von gleißendem Neonlicht erfüllt war. Es gab keine Fenster, aber das Licht wurde von den weißen Wänden reflektiert, sodass es in Ellies Augen brannte und sie kurzzeitig blendete. Auch das war eine übliche Taktik. Es gab einem das Gefühl, orientierungslos zu sein, hilflos, verloren.

Aber Ellie kannte den beengten, quadratischen Raum bereits und das einzige, was ihr Sorgen bereitete, war ihr Magen, der anscheinend durch die durch das Licht bedingten, stechenden Kopfschmerzen inspiriert, wieder zu rebellieren begann.

Sie war noch allein mit dem Tisch und den beiden Stühlen. Sie setzte sich auf einen, während ihr Führer den Raum wieder verließ und die schwere Metalltür hinter sich schloss und absperrte. Wozu?, dachte Ellie, mit diesen Dingern – und damit meinte sie die Ketten – komme ich doch sowieso keine 50 Meter weit, ganz zu schweigen von der Frage, ob ich überhaupt stark genug bin, um diese Tür zu öffnen. Und wie um alles in der Welt soll ich mit bloßen Händen all diese bewaffneten Soldaten umbringen?

Ein Glas Wasser stand vor ihr. Sie nahm es und trank es gierig aus, um den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden. Es schmeckte ein wenig modrig und salzig, aber so war das Wasser hier in der Tundra nun mal.

Ellie richtete sich darauf ein, lange zu warten. Wenn man ihr schon eine Annehmlichkeit wie Wasser in einem Glas gewährt, dann musste es irgendeine andere Schikane geben. Sie versuchte, an irgendetwas zu denken und sich von dem üblen Geruch ihrer dreckigen Kleidung abzulenken. Sie hoffte, dass man ihr später einen sauberen Overall in die Zelle bringen würde.

Denken. Das war Luxus in Iqaluit. Meistens versuchten sie, einen davon abzuhalten. Man sollte keine Pläne machen, sondern langsam abstumpfen, sich ergeben und schließlich bereit erklären, alles zu offenbaren, was man wusste.

Der Trick war es, das Denken nicht aufzugeben, egal wie eng und trostlos die Räume waren. Egal, wie viel Angst man hatte. Egal, wie sehr man sich wünschte, tot zu sein. Über die Mauer, dachte Ellie. Über die Mauer, durch dir Tundra, nach Hause. Egal, was sie mit mir dort anstellen! Nach Hause!

Wer denkt, wer die Hoffnung nicht verliert, wer sich nicht entmenschlichen lässt, der wird am Ende gewinnen – was auch immer das bedeutete. Darüber konnte sie nachdenken...

Die Tür öffnete sich und Ellie schreckte auf. Sie war eingeschlafen und hatte nun jedes Zeitgefühl verloren. War etwas in diesem Wasser gewesen? Wie lange hatte sie hier gesessen? Ihr Rücken tat einigermaßen weh, also musste es eine nicht unerhebliche Zeitspanne gewesen sein.

Auch das war ein Trick. Wer unsanft geweckt wird, ist nicht Herr seiner vollen geistigen Kräfte. Die Müdigkeit machte einen trunken, machte einen redselig und unvorsichtig.

Der Mann, der eintrat, war neu. Man sah in seinen Augen noch das Leuchten der Karrieregeilheit und sein Haarschnitt verriet eine Form der Pedanterie, die hier, in diesem abgelegenen Winkel der Welt, keine Überlebenschancen besaß. Die Uniform sah gebügelt aus, der Hemdkragen gestärkt. Auszeichnungen und Rangabzeichen waren poliert. Ellie verdrehte die Augen. Auch das noch, dachte sie, ein Schnösel!

Schnösel zeichneten sich oft durch besondere Grausamkeit und Unnachgiebigkeit aus. Es war ein besonderer Menschenschlag, der seine eigene Frustration an anderen ausließ. Die eigene Unzufriedenheit brachte einen Schnösel schneller zur Raserei als eine Frechheit, die man ihm entgegenbrachte. Und Iqaluit war die Lager gewordene Unzufriedenheit.

Strafversetzung, schoss es ihr durch den Kopf. Das waren die Schlimmsten!

Ellie überdachte ihre taktischen Möglichkeiten: Sie konnte ihn bespucken, aber das würde ihr kaum etwas einbringen. Sie konnte blocken, aber dann würde man ihr womöglich noch eine Runde Depeche Mode zumuten. Sie konnte lügen, aber das merkten sie immer. Sie konnte unverschämt werden, aber bei einem Neuen war das riskant. Flirten? Nicht mit so einem! Also entschied sie sich dafür, freundlich zu sein und den Schnösel damit eventuell auflaufen zu lassen.

Er grüßte nicht, als er sich Ellie gegenüber auf den anderen Stuhl setzte. Alles an diesem Mann wirkte streng, korrekt, langweilig und auf irritierende Art und Weise gefährlich. Dieser Kerl war unbestechlich: Keinen Extra-Nachtisch für einen Blowjob. Keine Zigaretten im Tausch für einen Extra-Nachtisch. Nicht mit ihm.

Wortlos schob er Ellie über den Tisch ein Foto zu. Ellie betrachtete es und wartete auf eine Frage.

„Joziah de Zosa. Schon mal was von ihm gehört?"

„Nein", behauptete Ellie.

„Joe de Zosa?"

„Nope."

„Joe, der Grashüpfer?"

„Nein."

„Sehen Sie sich das Foto an!", forderte der Mann Ellie genervt auf.

Ellie tat wie geheißen und blieb dabei: „Nie gesehen."

Das Bild zeigte einen jungen Mann mit Zahnlücke, die man sehen konnte, weil er in die Kamera lächelte. Ein gewinnendes Lächeln. Ein freundliches, unschuldiges Lächeln.

„Sind Sie sich sicher?"

„Ja", sagte Ellie und besah sich das Foto noch einmal.

Er hat sich die Haare wachsen lassen, dachte Ellie, und der Bart steht ihm gut. Jetzt sieht er nicht mehr aus wie ein Pubertierender...

„Dann haben Sie vielleicht eine Zwillingsschwester?", fragte der Schnösel und zog ein zweites Foto aus seiner Brusttasche, um es Ellie hinzuschieben. Es zeigte denselben jungen Mann, nur mit kürzeren, gepflegteren Haaren und ohne Bart. Das Lächeln aber war dasselbe und die Zahnlücke ebenfalls. Er, also Joziah de Zosa, war auf dem Bild etwa Ende 20, sah aber aus wie maximal 17. Sein T-Shirt war ihm viel zu groß, die zerschlissene Hose drohte, jeden Augenblick herunter zu rutschen und die Turnschuhe, die er trug, waren so alt, dass die Sohlen sich bereits gelöst hatten und er deshalb eine etwas seltsame Pose einnahm, während er vor einem Brunnen stand und sich mit einer Frau unterhielt, die am Rand des Brunnens saß und eine Zigarette rauchte.

Ellie sagte nichts.

Als das Schweigen ihrem Gegenüber zu peinlich oder zu aggressiv wurde, fragte er: „Das sind doch Sie, oder nicht?"

Ellie antwortete nicht. Dieses Foto sah sie zum ersten Mal. Man hatte sie schon oft zu Joziah befragt, aber immer konnte sie halbwegs glaubhaft leugnen, ihn kennen. Jetzt hatte sie ein Problem...

Wann war das Bild gemacht worden? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war zu lange her. Meine Güte, dachte sie, Kingston! Es kommt mir vor, als wäre das in einem vollkommen anderen Leben und als wäre das eine vollkommen andere Person.

„Das bin ich nicht", sagte sie darauf hin.

Der Mann nahm das Foto wieder an sich und tat so, als betrachtete und verglich er die Person auf dem Bild mit der Person, die vor ihm saß.

„Die Haarfarbe ist herausgewachsen", stellte er fest, „Ihre Haut ist bleicher."

Kein Wunder, dachte Ellie.

„Aber das sind Sie, Miss."

Ellie zuckte mit den Schultern.

„Was hatten Sie mit ihm zu besprechen?"

„Ich habe keine Ahnung, wer dieser Mann ist. Ich kenne ihn nicht und ich hatte sicher nichts Wichtiges mit ihm zu besprechen, sonst könnte ich mich sicher daran erinnern."

„Sie wollen also behaupten, das sei nur ein zufälliger Schnappschuss? Sie hätten dem Mann nur Guten Tag gesagt und ihn danach nie wieder gesehen?"

„Das nehme ich an."

„Sie nehmen es an, dass Sie das behaupten wollen?"

„Meine Güte!", versetzte Ellie, „Na schön, ich will Ihnen helfen. Wann ist das Foto aufgenommen worden?"

Der Mann drehte das Foto um und las das Datum vor, das dort stand: „15. Mai diesen Jahres."

Ellie musste lachen: „Ja, so sieht es aus!"

„Was?"

„Der letzte Tag in Freiheit. Am 16. haben Ihre Leute mich geschnappt. Vielleicht ist der Junge einer dieser Straßenhändler. Er wollte mir eine gefälschte Armbanduhr verkaufen. Sitze ich deshalb hier? Weil ich eine verdammte Armbanduhr gekauft habe?"

„Haben Sie denn eine gekauft?"

Ellie schnaubte.

Der Mann verzog den dünnlippigen Mund zu einem schiefen und gequälten Grinsen: „Der Name de Zosa sagt Ihnen also überhaupt nichts?"

„Wie oft muss ich es Ihnen noch sagen, bis Sie es glauben? Wissen Sie, Sie sind nicht der erste, der mir mit diesem de Zosa auf die Nerven geht. Was wollen Sie von ihm? Und wieso glauben Sie, dass ich Ihnen da weiterhelfen kann?"

„Weil es Sie umso verdächtiger macht, je mehr Sie leugnen, ihn zu kennen", sagte der Mann kühl und schob das Foto zurück über den Tisch zu Ellie.

„Es ist ein Allerweltsname", beharrte Ellie.

„Hüpft durch die Karibik wie ein Grashüpfer."

„Wenn Sie so ein großes Interesse an ihm haben, sollten Sie ihn vielleicht dort suchen, wo ihn angeblich jeder kennt, und nicht hier in der beschissenen Tundra!"

Der Schnösel ließ sich nicht beirren: „Es ist sicherlich schon längst nicht mehr auf Jamaika. Vermutlich ist er nicht einmal mehr in der Karibik."

„Da wissen Sie mehr als ich."

„Wir wissen, dass er über Puerto Rico in die USA eingereist ist."

„Na, dann ist er ja direkt bei Ihnen vor der Haustür. Woran liegt es also? Ihre Geheimdienste sind doch sonst so gut...", jetzt verzog Ellie ihr Gesicht zu einem gequälten Grinsen.

„Wir glauben, dass er Hilfe hatte."

„Um in die USA einzureisen?"

„Um uns zu entwischen!"

Ellie zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück, als würde es sie nicht interessieren.

„Und sie glauben, dass wir..."

„Ihr Verein? Bestimmt nicht!"

In Ellies Ohren klang der Tonfall verächtlich und sie fühlte sich beleidigt. Sie war vielleicht nicht immer verlässlich gewesen, aber deshalb musste man nicht ihrer gesamten Organisation Unfähigkeit unterstellen.

„Wenn Sie es gewesen wären, wäre de Zosa jetzt tot.", sagte der Mann in etwas versöhnlicherem Ton.

Ellie blickte ihn unverständig an. Tot? Wozu? Das ergab keinen Sinnen.

„Wir wissen, dass Sie mit ihm in Kontakt standen", versuchte er es daraufhin wieder.

Jetzt wurde es Ellie zu viel und sie blaffte den Schnösel an: „Was denn nun? Wollten wir mit ihm in Kontakt treten oder wollten wir ihn umbringen?"

„Sie", sagte der Mann, „Ich rede von Ihnen persönlich. Sie hatten Kontakt zu ihm."

„Und ich wollte ihn umbringen?", fragte Ellie sarkastisch.

„Ich denke nicht, dass Sie das wollten."

„Nein, wieso auch? Ich kenne ihn ja gar nicht!"

„Hören Sie", sagte der Mann resigniert und zum ersten Mal hörte sich seine Stimme dabei nicht überheblich und arrogant an, „Wir wissen es. Sie hatten Kontakt zu ihm. Wir wissen es von ihm selbst."

Ellie verdrehte die Augen, sagte aber nichts. Es konnte ein Trick sein. Es konnte ein Versuch sein, sie zu verunsichern und zu verwirren. Wenn sie jetzt redete, gab es keinen Grund mehr für die, sie am Leben zu halten. De Zosa war ihre Lebensversicherung. Den Scheiß-Amis traute sie alles zu. Die würden sie, ohne zu zögern, an die Wand stellen, wenn sie ihnen nichts mehr nützen würde.

Eine Weile schwiegen sich die beiden an und warteten darauf, dass der jeweils andere weich wurde. Ellie persönlich hoffte auf ein Wunder, eine spontane Selbstentzündung oder einen Anruf, der mitteilte, ein Atomschlag hätte Washington getroffen und die ganze Scheiße sei jetzt vollkommen unnötig.

„Miss Sullivan, Sie sind lange genug hier, um zu wissen, dass wir hier verschiedene Methoden der Wahrheitsfindung anwenden können."

„Die Beatles?", flüsterte Ellie hoffnungsvoll.

„Was?"

„Naja... vielleicht könnten Sie mal die Platte wechseln, dachte ich. Die Beatles wären nett. Kennen Sie die?"

„Leider ist es uns verboten, all diese Methoden auch bei Frauen anzuwenden."

Ellie prustete. Leider? Hatte er gerade wirklich „leider" gesagt? Hatte er das ernst gemeint? Und vor allem: Wer in diesem gottverdammten Lager hielt sich an Verbote? Vermutlich niemand außer diesem Schnösel! Er war bestimmt die Lachnummer unter seinen Kameraden.

„Und Sie haben sich als äußerst resistent erwiesen."

Und das? Was das ein Kompliment? Es klang weniger anerkennend als resigniert, aber Ellie verbuchte es als Erfolg.

„Wir haben nun die Erlaubnis erhalten, Ihnen einen Vorschlag zu unterbreiten."

Ellie hielt sich mit Reaktionen zurück. Sie kannte diese Deals, wusste aber nicht, wie sie dazu stehen sollte. Um einen Deal angeboten zu bekommen, musste man erst beweisen, dass man nicht anderweitig weich zu kochen war. Das hieß: Man musste die Folter über sich ergehen lassen, bis ihnen nichts mehr einfiel. Ellie fand das nicht nur grausam, sondern auch dumm, denn welcher aufrichtige Mensch würde auf einen Deal mit Leuten eingehen, die er zuvor aufrichtig zu hassen gelernt hatte?

„Sie kennen unsere Politik, Miss Sullivan?", fragte der Mann.

„Ihre Politik, Ihr System und Ihre Methoden, ja", sagte Ellie und fragte sich, für wie wichtig die sie eigentlich hielten.

„Die Vereinigten Staaten von Amerika bieten jedem Individuum eine faire Chance, sich für unser Land zu engagieren. Im Gegenzug erhält es Rechte."

Menschenrechte gegen Arbeitsleistung, dachte Ellie, sagte aber nichts.

„Diese Rechte beinhalten die vollen Bürgerrechte, die Staatsbürgerschaft und den besten Schutz, den wir unseren Bürgern bieten können. Im Gegenzug erwarten wir..."

„Verrat", sagte Ellie.

„Loyalität", präzisierte der Schnösel.

Ellie grinste in sich hinein. Loyalität... Noch nie hatte jemand so etwas von ihr erwartet.

„Die Vereinbarung sieht vor, dass..."

„Vergessen Sie es!", versetzte Ellie plötzlich wieder ernst, „Vergessen Sie es einfach. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich darauf eingehe, mich von Ihnen versklaven zu lassen? Sehen Sie, ich persönlich habe absolut nichts gegen Ihr komisches Land und Ihre Unabhängigkeit und auf was auch immer Sie so stolz sind, aber diese Sklavensache... Da mache ich nicht mit!"

„Sie sind ein Opfer der Propaganda Ihrer Regierung", sagte der Schnösel plötzlich freundlich, „Wir verwenden das Wort „Sklaven" schon seit Jahrzehnten nicht mehr."

„Und doch hat sich an der Methodik nichts geändert."

„Da es auf Freiwilligkeit basiert, kann von Sklaverei keine Rede sein", erwiderte er.

„Welche Alternative habe ich?", fragte Ellie und blickte dem Mann dabei in die blassblauen Augen.

Er antwortete nicht darauf und erklärte stattdessen: „Ihre Leistungen werden anerkannt werden und nach dem Ende Ihrer Mission werden Sie als vollwertiges Mitglied unserer freiheitlichen Gesellschaft integriert werden und wer weiß: Vielleicht wird man sie auch als Heldin feiern?"

„Ich verzichte."

„Sie könnten das Lager verlassen."

„Ich bleibe."

„Ihre Aufgabe ist sehr leicht. Liefern Sie uns de Zosa. Wir wissen, dass er Ihnen vertraut und..."

„Haben Sie was an den Ohren? Ich habe gesagt, ich mache da nicht mit!"

Der Mann seufzte: „Es ist sehr dumm von Ihnen, nicht darauf einzugehen. Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?"

„Wenn ich hätte überlaufen wollen, hätte ich Ihnen mein Angebot schon vor Monaten gemacht, meinen Sie nicht?"

„Eine Patriotin, wer hätte das gedacht? Ich dachte, bei Ihnen auf der Insel heißt es inzwischen auch „Sieg Heil to the Queen"...Worauf hoffen Sie also? Dass man Sie freikauft?"

„Haben Sie denn ein Angebot erhalten oder gestellt?", fragte Ellie und bekam keine Antwort.

„Für uns zu arbeiten, ist keine Schande. Sie müssen sich von der Vorstellung lösen, dass es in diesem Spiel „Gute" und „Böse" gibt."

„Das ist ein Spruch, den zumeist die Bösen verwenden, wissen Sie das?"

Der Mann grunzte, was wohl seine Art zu lachen darstellte.

„Ihre verkappte Sklavenwirtschaft ist der Grund, warum..."

„Glauben Sie das wirklich?", jetzt grunzte er noch lauter, „Meinen Sie nicht eher, dass Sie es hier mit verletztem Stolz zu tun haben? Ihre Majestät hat es noch nicht verwunden, dass wir uns von ihr losgesagt haben, das ist alles! Sie führen einen Krieg, den Sie nicht gewinnen können und nicht gewinnen werden und wir geben Ihnen... Ihnen persönlich die Chance, sich den Siegern anzuschließen. Europa ist schwach, verstehen Sie? Es hat bald nichts mehr zu melden! Dritte Welt, wenn's hoch kommt! Denken Sie an die Zukunft! Ihre Zukunft!"

So deutlich hatte es ihr noch niemand zuvor jemals dargelegt. Das Wort „Krieg" hatten alle beteiligten bisher vermieden.

„Hat man in Ihrem System denn eine Zukunft?", fragte Ellie.

„Sie sollten lieber fragen, ob Sie hier eine Zukunft haben", die Art, wie er das sagte, hatte in all ihrer Gelassenheit etwas Bedrohliches, so als stünde das Ende von Ellies Zukunft bereits auf irgendeinem Stück Papier geschrieben - gleich unter den Ankreuzkästchen mit „Willst du mit mir gehen? Ja. Nein. Vielleicht."

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