Kapitel 3
Es kehrte wieder Ruhe ein in das Abteil. Ein Bahnhofsbediensteter pfiff in eine Trillerpfeife zum Zeichen, dass der Zug abfahrbereit war und sich alle Passagiere am Gleis einzufinden hatten.
In der Zeit, in der die Maschinen still gestanden hatten, waren die Wagons noch weiter ausgekühlt. Die Tür hatte außerdem offen gestanden und Schneestaub hereingeweht, der nun zu glitschig-klammen Pfützen schmolz.
Die Lokomotive setzte sich wieder in Bewegung und zog die Wagons unermüdlich mit sich. Weiter hinauf, immer höher, wo der Wind schärfer, der Winter härter und die Landschaft urtümlicher war. Dunkelheit und Stille, sowie das gleichmäßige Geräusch der Kolben sorgten dafür, dass sich in Robins und Mungos Abteil die ersten Passagiere ihrer Müdigkeit ergaben.
Man schwieg und drückte sich fest in seinen Mantel. Die Damen legten sich Decken und Tücher über die Schultern und zwangen sich die Augen offen zu halten.
Die kleinen Petroleumlampen, die den engen Raum erleuchten sollten, brachten nur noch ein schummriges Glimmen zu Stande. Aber das störte niemanden, denn zumindest das flackernde, rötliche Licht suggerierte ein wenig Wärme.
„Mister Carrow, wo kommen Sie her?", fragte Josianne plötzlich leise, weil sie niemanden mit ihrem Gespräch stören wollte.
„St. Louis", sagte Mungo ebenso leise.
„Tatsächlich? Sie sehen gar nicht aus, wie ein Südstaatler", bemerkte Josianne.
„Ist auch 'ne Weile her, dass ich dort war."
„Sie sind also nach Kalifornien gegangen, nicht wahr? Ich wette, Sie haben nach Gold gesucht."
„Sie könnten als Wahrsagerin Karriere machen, Miss", sagte Mungo und tat etwas, das er verlernt zu haben glaubte: Er lächelte, ohne zu grinsen.
„Und? Haben Sie welches gefunden?", wollte Josianne wissen.
Mungo zögerte. Die Wahrheit zu sagen, könnte ihn in die Bredouille bringen. Zu lügen schien ihm in Gegenwart einer jungen Lady unangebracht. Das dachte er, obwohl das selbe Mädchen ihn immer noch mit einem erfundenen Namen ansprach. Also beschloss er, weiter zu lügen: „Nein, kein Stäubchen."
„Das haben die wenigsten", sinnierte Josianne, „Und alle diese Glücksritter landen in San Francisco."
„Sie halten nicht viel von den Männern aus San Francisco", schloss Mungo aus ihrem Tonfall.
„Nein", sagte Josi bestimmt, „Entweder sie betrinken sich und heuern auf einem Schiff an, oder sie versuchen sich in die Gunst einer reichen Familie einzuschleichen."
„Sie haben einschlägige Erfahrung?", fragte Mungo.
„Man muss diesen Tagedieben nur in die Augen sehen. Ihr glasiger Blick verrät alles über ihren Charakter! Es gibt keine ordentlichen Männer in San Francisco."
„Vielleicht gibt es einfach zu viele ordentliche Frauen dort", sagte Mungo und hoffte damit einen Lacher zu erzielen.
Doch Josianne verzog kein Gesicht und brummte nur etwas unverständliches. Also wechselte Mungo das Thema: „Was verrät ein Blick in meine Augen? Immerhin bin ich in ihren Augen auch ein Tagedieb aus Frisco, nur dass mich weder reiche Schwiegerväter, noch die See je gereizt hätten. Was den Alkohol allerdings betrifft...".
„Ihre Augen sind anders, Mister Carrow. Sie haben das Ziel noch nicht aus dem Blick verloren", sagte Josianne, ohne dass sie bemerkte, wie abgedroschen ihre Worte waren.
Mungo erkannte, dass dieses Mädchen die hoffnungsloseste Romantikerin war, die er je kennen gelernt hatte. Es war ein Fehler romantisch veranlagt zu sein, wenn man quer durch Amerika reisen wollte. Aber das Mädchen war noch etwas anderes als romantisch. Sie war scharfsinnig und auch das konnte gefährlich sein. Mit scharfsinnigen Frauen hatte man eigentlich nur Probleme und keinerlei Vergnügen, dachte Mungo.
„Ist sie Ihre Schwester?", fragte Josianne plötzlich und deutete auf die scheinbar dösende Robin.
Mungo verstand zunächst nicht und versuchte Zeit zu schinden, indem er aufstand und sich auf den Sitzplatz am Gang neben Robin zu setzen, damit er leiser mit Josianne sprechen konnte. Er lachte ein trockenes und eigentlich schlecht gespieltes „Ha, ha!" und negierte schnell: „Nein. Nein, sie ist meine Verlobte." Das war die abgesprochene Lüge zur Tarnung.
„Sie ist ein komischer Vogel", kommentierte Josianne.
„Ein Rotkehlchen", erwiderte Mungo.
„Wie bitte?"
„Sie heißt Robin. Schlechte Witze sind meine Spezialität."
Josiannes Schweigen konnte man als Bestätigung dieser These auffassen und das ärgerte Mungo ein wenig. Glaubten denn alle Frauen plötzlich, ihn wie einen Idioten dastehen lassen zu müssen?
„Sie hat vorhin gesagt, dass sie nicht Ihre Herzensdame sei", sagte Josianne plötzlich.
„Sie haben Ihre Ohren wirklich überall und noch dazu ein überaus gutes Gedächtnis", lobte Mungo.
„Wie hat sie das gemeint?"
„Sarkastisch, nehme ich an."
„Sie sind ein komischer Vogel", sagte Josianne und beendete damit das Gespräch, indem sie sich in ihren Sitz zurücklehnte und die Hände in ihrem Schultertuch vergrub.
Wieder war es still im Abteil und auch Mungo verspürte den Drang zu gähnen, die Augenlider zu schließen und für einige Augenblicke nicht aufmerksam zu sein. Was war nur aus ihm geworden? Als er noch mit einem Pferd gereist war, konnte er ganze Nächte lang ins dunkle Nichts starren. Er konnte alle seine Sinne fokussieren und trotzdem entging ihm nichts, das sich in seiner Umgebung abspielte. Er war schnell, stark, wach und spitzzüngig gewesen und jetzt fielen ihm die Augen zu, wie einem verweichlichten Geschäftsmann, der sein Leben in Büros und Verhandlungssälen verbrachte.
Gedanken wie diese konnten nicht verhindern, dass er schließlich doch einschlief, traumlos, orientierungslos und hilflos. Er wachte kurzzeitig auf, als er etwas an seinem linken Arm spürte, der immer noch recht empfindlich auf Berührung reagierte, blickte sich um und sah den verschwommenen Umriss von Robins Kopf, der nun auf seiner Schulter ruhte. Sogar Robin gestand sich etwas Schlaf zu. Sie schlief eingequetscht in die verhasste Korsage, den nackten Füßen auf dem klammen Boden und einer Frisur, die Mungo mehr Geld gekostet hatte, als es ihm lieb gewesen war.
Auch er schloss daraufhin wieder die Augen und glitt hinüber in eine leichtere Version des ebigen Schlafes. Und diesmal träumte er etwas. Das Gewicht, das auf seiner Schulter lag und eine angenehme Wärme abgab, erinnerte ihn an seine Zeit in der Wüste, wo eine üble Schussverletzung in ebenjener Schulter von einer weisen, aber ruppigen Navajo-Hexe gepflegt wurde.
Dort hatte er den ganzen Tag nichts anderes getan als zu schwitzen und unwirklichen Visionen nachzuhängen. Und auch jetzt bewegten sich verworrene Bilder vor seinem inneren Auge.
Da war Robin, die in der traditionellen Kleidung der Cheyenne an seiner Seite ritt. Er sah Pferde und einen entwaffnend klaren Himmel mit einer unerbittlichen Sonne. Flirrende Trugbilder, Luftspiegelungen und das einfache und doch unbezahlbare Gefühl der Freiheit. Durst.
Er schreckte auf und mit seinem Zucken weckte er auch Robin. Der Zug hatte angehalten. Die Nacht wich einem zaghaften Morgen, der sich derzeit nur erahnen ließ. Es ging nicht mehr ausschließlich nach oben, und die Schneedecke war verschwunden. Sie hatten die Sierra hinter sich gebracht und die Grenze Kaliforniens überschritten.
Das da draußen musste Reno, Nevada sein: Ein verschlafenes Örtchen, das lediglich vom Durchgangsverkehr lebte. Eine richtige Stadt war es erst, seit die Eisenbahngesellschaft beschlossen hatte, den alten Siedlerpfad mit Schienen auszubauen. Die Stadt sah aus, wie alle Ortschaften, die - statt mit ordentlichem Material - mit unbeugsamem Pioniergeist aus dem Boden gestampft wurden. Holzhütten, Sandstraßen, und in der Mitte des Ganzen: Der neue Bahnhof mit dem Wasserdepot.
Mungo streckte die eingerosteten Glieder. Ein verstohlener Blick nach rechts verriet ihm, dass auch die drei jungen Damen aus San Francisco es nicht ausgehalten hatten, wach zu bleiben. Als er sich genauer umsah, bemerkte er, dass so gut wie alle Passagiere eingenickt waren oder dösten. Soviel zu den ehernen Vorgaben der Etikette, dachte Mungo. Schlafen, Essen und Vögeln müssen wir doch alle irgendwann.
„Ich könnte was zu essen vertragen", sagte Robin leise und mit verschlafener Stimme.
„Und ich was zu trinken", erwiderte Mungo, „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und in den Speisewagen gehen. Da gibt es sicher schon Frühstück."
Robin saß Mungo gegenüber an einem am Boden festgeschraubten Tisch. Sie hatte ihre Haare leidlich richten können, doch die nächsten Stunden würde die Frisur nicht mehr halten. Weder Mungo noch Robin legten Wert darauf. Das wichtigste in ihrer Welt war derzeit die ziemlich schmal bemessene Portion Rührei mit Speck auf ihren Tellern. Mungo schlürfte Kaffee, Robin warme Milch, einen Luxus, den sie sich gönnte und auf den sie hatte verzichten müssen, während sie bei den Cheyenne aufgewachsen war.
Vorsichtig schob sich das Tageslicht über den Horizont und gab den Blick aus dem Fenster frei auf die ersten Zuckungen des Stadtlebens an diesem neuen Tag – oder die letzten vom vergangenen.
Sie hörten einen besonders frühen Hahn krähen, woraufhin eine blecherne Kirchenglocke zu läuten begann.
„Musste diese Heldennummer eigentlich sein?", fragte Robin, den Mund voll Rührei.
„Ich hab ihn provoziert. Wer hätte ahnen können, dass er so reagiert. Und dieser Kerl hätte den Jungen ganz sicher gelyncht."
„Versuchst du mir gerade zu erklären, was deine Bürgerpflichten sind?", fragte Robin, die Mungo gerne von seinem hohen Ross herunter zerrte, wenn er zu philosophieren begann.
„Und ich hatte bis gerade eben das Gefühl, du hättest mich dazu angestiftet, mich des Jungen anzunehmen", erwiderte Mungo und schob sich eine Scheibe Brot in den Mund, biss ab und kaute genüsslich, während er auf eine Antwort wartete.
„Da war die Sache schon am eskalieren", meinte Robin kühl, „Dieses Mädel hat jedenfalls einen Narren an dir gefressen."
„Wenn die nur hier um Zug sitzen, um ihre Großeltern zu besuchen, fresse ich einen Besen!"
„Es sollte dir egal sein, Mister Carrow!", zischte Robin, „Es war übrigens ziemlich dämlich von dir, dieser Josianne meinen richtigen Namen zu nennen. Aber vermutlich hatte dein Gehirn da einfach wieder einen Aussetzer."
„Was ist denn los mit dir? Es gibt tausende junge Frauen, die Robin heißen!", verteidigte sich Mungo.
„Aber nicht in San Francisco und keine von denen hatte eine Phantomzeichnung auf einem Steckbrief."
„Wir werden diese Leute nie wieder sehen", versuchte Mungo die Wogen zu glätten, was natürlich nicht gelang, denn Robin war verbissen wie ein Terrier, wenn es um solche Sachen ging.
Solche Sachen... Was für Sachen eigentlich?, fragte sich Mungo.
Ein Bediensteter der Eisenbahngesellschaft kam auf Mungo und Robin zu, um ihnen zu erklären, dass der Zug in wenigen Augenblicken abfahren würde. Wenn sie nicht den nächsten Teil der Reise im Speisewagon verbringen wollten, mussten sie sich also zurück auf ihre Plätze in ihrem Abteil begeben.
Robin wischte sich den Mund mit einer Serviette ab, Mungo nahm seinen Ärmel, was ihm einen schiefen Blick des dienstbaren Geistes einbrachte.
Robin hatte das erstaunliches Talent, Schweigen so unangenehm wie möglich zu gestalten. Und dabei hatte sie noch nicht einmal eine schöne Stimme. Sie besaß, um genau zu sein, einen leicht schnarrenden Unterton und manchmal – wenn sie beide allein waren - wirkte sie leicht hysterisch. Dennoch hielt Mungo es kaum aus, wenn Robin ihn mit ihrem Schweigen zu zermürben versuchte.
Es waren die Stadt und die vielen Leute überall, dachte Robin. Die Farben, die Lautstärke, das dumme Geschwätz, der ganze Dreck überforderten Robins Auffassungsvermögen. Seit sie in San Francisco angekommen waren, war sie nervös, konnte nicht gut schlafen und fühlte sie wie ein Kätzchen, das man auf ein Wolfsrudel losgelassen hatte, nur dass Kätzchen von Natur aus mit Stresssituationen besser umgehen konnten und eher das Wolfsrudel in Angst und Schrecken versetzt hätten als umgekehrt.
Wieso konnte sie Mungo nicht einfach tun lassen, was er für richtig hielt? Er kannte diesen Menschenschlag besser. Er wusste, wie man mit ihnen umgehen musste. Wieso vertraute sie ihm nicht?
Sie trottet ihm hinter her, stapfte die Trittleiter zum Wagon hinauf und betrat das Abteil. Sie sah zu ihren Füßen hinab. Inzwischen waren sie fast schwarz und eiskalt. Robin atmete ein, hob den Kopf und stolzierte zu ihrem Sitzplatz zurück. Dies schien die goldene Regel der weißen Frauen zu sein: Wenn es dir dreckig geht, stolziere! So viel anders als indianische Frauen waren sie gar nicht.
Als Mungo und Robin an ihren Plätzen angekommen waren, stellten sie fest, dass sich zwei Personen zu ihnen gesellt hatten und die beiden Plätze mit Sicht in Fahrtrichtung besetzten. Also setzten Mungo und Robin sich wieder entgegen der Fahrtrichtung nebeneinander und starrten die beiden Kerle einen Moment lang an.
Da sie nicht grüßten, grüßten auch Mungo und Robin nicht. Einer von ihnen nahm beinahe dem Platz der beiden Sitze in Anspruch. Zum Glück war der andere eher klein und schmächtig und es machte ihm offenbar nichts aus, gegen das Zugfenster gequetscht zu werden.
Sie trugen schwarze Jacken und Hosen, doch darunter blitzten weiße Hemden auf. Bei zwei so unterschiedlichen Kerlen, wirkte der Partnerlook eher lächerlich.
Der größere Mann, der neben seinen Muskeln auch eine Menge Fett mit sich herumschleppte, trug einen Bart, der aussah, als sei er mit dem Lineal gezogen worden. Sonst hatte er kein einiges Haar auf seinem Kopf und Glatzen waren eher unüblich für Leute seines Schlages. Mungo beäugte ihn argwöhnisch deswegen.
Der kleinere Kerl, der Robin gegenüber saß, trug hingegen den traditionellen, schwarzen Pferdeschwanz und keinen Bart. Während bei dem Großen keinerlei Waffen am Gürtel sichtbar waren, trug er einen Colt bei sich. Offenbar war das auch der Grund, warum sich Robins spezieller Freund auf der anderen Seite des Abteils so still verhielt. Denn die beiden Männer waren Chinesen.
Die Anspannung im Abteil war mit Händen zu greifen. Alle Passagiere dachten das gleiche. Diese Typen bedeuteten noch mehr Ärger als der kleine Junge vorhin. Nun lag kein gemütlich, dösiges Schweigen mehr über den zusammengepferchten Reisenden, sondern ein angsterfülltest, unheilschwangeres.
Mungo wartete, bis der Zug losgefahren war. Er blickte dem Großen in die verkniffenen Schlitzaugen und fragte ruhig: „Ihr habt euren Freund nicht gefunden, was?"
„Was?", spie der große Chinese aus.
„Na, euren Freund. 'N Schlitzauge wie ihr. 'N kleiner Junge. Ziemlich flink mit der Hand bei der Kanone. Ansonsten war er eher ein Hosenscheißer."
„Was geht das dich an?", zischte der Kleine dazwischen. Er hatte eine Stimme wie eine Schrotsäge, die durch weiches Holz glitt.
„Ich hab den Kleinen rausgeworfen. Wir wollen hier keinen Ärger haben", sagte Mungo noch immer gelassen.
„Du lügst!", knurrte der Dicke.
„Wieso sollte ich?"
„Weil du uns so vom Hals bekommen willst, Mister", erklärte der Kleine.
Mungo verzog sein Gesicht: „Hätte ich einen Grund, euch vom Hals haben zu wollen?"
Jetzt grinste der kleine Chinese ein Lächeln, das man so eher von einer Ratte als von einem Menschen erwartet hätte: „Du hältst dich für verdammt schlau, was?"
„Nein, eigentlich nicht", antwortete Mungo wahrheitsgemäß.
„Also, rück das Zeug raus!", bellte der Große plötzlich.
„Was für ein Zeug?"
„Das, das du dem Jungen abgenommen hast! Du siehst nicht aus, als seist du schwer von Begriff, also spiel hier keine Spielchen, wir meinen es ernst! Für ein paar Momente hast du dich vielleicht wie ein großer Mann gefühlt, weil du einem Grünschnabel eine kleine Tasche gestohlen hast, aber jetzt hast du es mit den großen Jungs zu tun!", quiekte der Kleine. Ja, es war ein Quieken, wie das einen hyperventilierenden Schweines.
„Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen, Sir", sagte Mungo, „Ich hab ihn aus dem Zug geworfen. Ich nehme an, er ist tot. Wenn ihr die Gleise entlang wandert, findet ihr vermutlich seine Leiche mit samt der Tasche, die ihr sucht."
„Wie heißt du?", knurrte der Kleine, dessen Hand sich bedächtig dem Halfter seines Revolvers näherte.
„Carrow."
„Und die Schnepfe da? Deine?"
Mungo nickte: „Eigentlich ist sie weniger eine Schnepfe als ein Rotk...". Er brach den schlechten Witz ab, als plötzlich eine Waffe auf Robin gerichtet wurde.
Man konnte formlich hören, wie die übrigen Passagiere die Luft anhielten. Nur Robin atmete aus und hätte ihrem Begleiter am liebsten das vorlaute Maul gestopft.
„Na schön", lenkte Mungo ein, „Wenn ihr hier jemanden abknallt, dann keine unbewaffneten Frauen!"
„Wen denn dann, Mister Carrow?", fragte der Kleine mit dem Revolver unschuldig.
Mungo griff in die Innentasche seiner Jacke, zog den Revolver von Lee heraus und richtete ihn auf den Großen, der ihm immer noch schweigend gegenüber saß.
„Glaubst du, mich interessiert, ob du die Fettbacke da abknallst?", rief der kleine Chinese lachend.
Fettbacke wand sich um und blickte seinen Begleiter schockiert an. Er sagte etwas auf Chinesisch und bekam eine Zischen als Antwort.
„Jeder ist sich selbst der Nächste, was?", fragte Mungo.
Die Waffe des Chinesen klickte, als er sie entsicherte und Robins Blick verlor sich in der Unendlichkeit eines Pistolenlaufes. Was machte der Mistkerl da? Er riskierte ihr Leben für einen lässigen Spruch!
Robin erwartete jede Sekunde von einer Kugel zwischen die Augen getroffen zu werden und eine höchst unschöne Leiche abzugeben. Und Sekunden konnten in solchen Situationen verdammt lang sein. Sie verhielt sich ruhig, versteifte sich und zwang sich nicht zu schreien, hysterisch zu werden oder in Ohnmacht zu fallen. Stattdessen begann sie zu schwitzen und im Zusammenhang mit der immer noch vorherrschenden Kälte zitterte sie. Ihr Puls erhöhte sich merklich, als wollte ihr Herz damit demonstrieren, dass es noch nicht bereit war den Dienst zu quittieren. Sie wagte es noch nicht einmal, den Blick auf Mungo zu richten, sie starrte einfach nur in den Lauf des Revolvers und die verdammten, grinsenden Schlitzaugen dieses Mafiosos.
Der Dicke stellte nun kein Problem mehr dar, dachte Mungo. Er hatte gerade gehört, was sein Leben in den Augen seines Begleiters wert war. Auch er starrte in den Lauf eines Revolvers und entdeckte plötzliche Sympathien für die Frau schräg gegenüber.
Mungo schätzte seine Chancen ein. Vermutlich würde er einen Schwinger der Fettbacke überleben, jedoch wäre Robin dann auf sich allein gestellt.
Der kleine Giftzwerg war von allen der gefährlichste, wusste Mungo – von ihm selbst einmal abgesehen. Er war unberechenbar. Alle Chinesen waren unberechenbar, weil sie ihr eigenes Leben für eine größere Sache zu geben bereit waren. Verdammte Patrioten, dachte Mungo. Was wäre die Welt ohne sie für ein friedlicher Ort! Dies waren moderne Zeiten. Helden und Märtyrer konnte niemand mehr gebrauchen. Jeder war auf sich allein gestellt.
Mungo schoss, drehte den Revolver jedoch ein Stück nach links und erwischte die Schläfe den bewaffneten Chinesen. Der gab ebenfalls einen unkoordinierten Schuss in die Wagondecke ab.
Robin schnellte nach vorne, griff nach der Waffe ihres Gegenübers und richtete sie auf Fettbacke, der in der letzten Viertelsekunde ein Gefühl der Genugtuung genossen hatte. Ihm waren seltsame Gedanken durch den Kopf geschossen: Wenn sein Begleiter tot war, konnte er die Lorbeeren ganz allein einheimsen. Er musste nur... Und dann blickte er in gleich zwei Pistolenläufe, verwarf seinen Plan und lehnte sich zurück auf seinem Sitz.
„Aufstehen!", befahl Robin, „Und nimm deinen Freund mit. Ich habe keine Lust, dass er hier zu stinken beginnt."
Der glatzköpfige Koloss blickte fragend zu Mungo, doch der nickte nur.
Also richtete er sich auf, warf sich die Leiche seines Begleiters über die Schulter und wartete darauf, dass man ihn dafür belobigte. Er war so groß, dass er den Kopf unter den Gepäckhalterungen einziehen musste und überragte so sogar Mungo.
„Magst du Piraten?", fragte Robin, wartete jedoch keine Antwort ab, „Ich nicht. Bin keine Wasserratte. Aber die hatten eine ganz nette Tradition."
Mungo folgte Robin, die dem Chinesen den Weg durch den Gang wies. Man konnte sich nie sicher sein, ob so ein Kerl sich nicht doch umdrehte und zuschlug. Dann musste er seiner Begleiterin Deckung geben.
„Weißt du, was es bedeutet, jemanden über die Planke zu schicken?", fragte Robin.
Fettbacke nickte.
„Sehr gut. Mach die Tür auf!"
Mit seiner linken Hand – denn mit der rechten trug er einen toten Kollegen – öffnete er irgendwie die Tür des Wagons und trat hinaus auf die kleine Plattform. Robin blieb in der Tür stehen, um einen gewissen Sicherheitsabstand einzuhalten.
„Das Gitter auf!", befahl sie und der Chinese arbeitete an einer kleinen Kette herum, bis sie sich löste und sich eine Tür öffnete. Der Fahrtwind schlug ihm ins Gesicht, als er dastand und auf weiterer Anweisungen wartete.
„Der Zug ist nicht besonders schnell. Wenn du es schlau anstellst, kommst du ohne Knochenbrüche davon", sagte Robin und schoss in die Luft, „Hopp!"
Der Chinese sprang, so weit er konnte, und rollte eine kleine Böschung hinunter.
Robin trat zurück in das Abteil und schloss die Tür hinter sich. Mungo blickte ihr missmutig entgegen: „Der Kleine hätte bestimmt ein paar Dollar gebracht."
„Soll er sie einheimsen und sich ein neues Leben aufbauen", sagte Robin und zuckte mit den Achseln.
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