Kapitel 2
Es dauerte keine Stunde, da hielt der Zug auch schon wieder. Sie waren in Sacramento angekommen und nahmen noch ein paar Passagiere mit auf die Reise. Das Abteil, das bis vorhin noch relativ leer gewesen war, füllte sich nun und Robin und Mungo waren bei Abfahrt des Zuges die einzigen Reisenden, die neben sich noch einen leeren Sitz hatten. Irgendetwas bewirkte, dass niemand den beiden zu nahe kommen wollte und dafür mussten sie noch nicht einmal ihre Augen öffnen.
Bei den drei Mädchen saß nun ein kleiner Chinese, der mit besonderer Achtsamkeit sein kleines Gepäckbündel festhielt. Er wirkte nervös und unsicher, sah sich in regelmäßigen Abständen um, als fürchtete er, man könnte ihn wegen der Form seiner Augen der ersten Klasse verweisen.
Die Nacht hatte sich in ihrer ganzen epischen Breite über das Land gelegt. Von der Küste her kroch Nebel über letzten Ausläufer der Zivilisation, ehe der Zug weiter landeinwärts zockelte und sich am Horizont die ersten Ausläufer der Sierra aufbäumten.
Wieder begann es zu regnen, doch das beständige Prasseln auf das Wagondach störte nicht, sondern vermischte sich mit dem gleichmäßigen Schnauben der Lokomotive und den unermüdlichen Bewegungen der Kolben. Das Ruckeln des Zuges gab den Reisenden ein wohliges Gefühl der Geborgenheit. Sie hörten den Wind rauschen, doch all das war da draußen. Hier drin war es warm, trocken und gemütlich.
Mungo nickte ein. Robins Kopf lehnte gegen die Fensterscheibe und sie schien ebenfalls tief zu schlafen. Vermutlich wäre sie auch eingeschlafen, doch sie zwang sich, wach zu bleiben. Es gehörte sich nicht für eine Dame, im Zug zu schlafen. Mit müdem Blick verfolgte Robin die Landschaft, die an ihrem Fenster vorbei zog, beobachtete aber gleichzeitig die Spiegelbilder der Insassen des Abteils, in dem sie saß. Dass die kalte Fensterscheibe immer wieder leicht gegen ihren Kopf schlug, hielt sie wach.
Im Abteil war es ruhig. Dass seit Sacramento alle vormals leeren Sitze mit fremden Personen aufgefüllt waren, störte die ehemalige Intimität der einzelnen Sitzgruppen. Die drei jungen Damen fühlten sich augenscheinlich unwohl in der Gesellschaft des schlitzäugigen Chinesen. Dabei sah er harmlos aus. Immer noch hantierte er an seiner kleinen Reisetasche herum, für die es keinen Platz mehr auf der Gepäckablage gab. Immer noch sah er sich besorgt um.
„Meine Güte, was ist denn mit Ihnen los?", fragte Mungo und öffnete ein Auge einen Spalt breit, um in Richtung des Chinesen zu spähen.
Der kleine Mann zuckte so erschrocken zusammen, dass Lynn, neben der er saß, ebenfalls auf die Szene aufmerksam wurde und dem Chinesen einen abfälligen Blick schenkte.
„Sie sind es also", sage das verhutzelte Schlitzauge. Jeder wusste, dass diese Kerle immer etwas im Schilde führten und dass man ihnen nicht trauen konnte. Deshalb bewegten sich Chinesen in Amerika so unauffällig wie möglich. Sie arbeiteten hart und gründlich, blieben aber immer unter sich und weigerten sich beharrlich, ordentlichen Englisch zu sprechen. Kein Wunder, dass sie in Gesellschaft mit distinguierten Weißen schreckhaft und unsicher waren.
Dass dieser Kerl allerdings lupenreines Englisch sprach und seine Stimme entgegen seiner Außenwirkung besonnen klang, machte ihn nur noch verdächtiger.
Ein Passagier knirschte mit den Zähnen, als der Chinese bewies, dass er einer menschlichen Sprache mächtig war und vermutlich wollte der Zähneknirscher auch einen Kommentar abgeben, jedoch verschlug es ihm die menschliche Sprache, als ein scharfer Augenaufschlag ihn fixierte. Die Dame in Rot, die ausgesehen hatte, als döste sie vor sich hin, die Frau, die barfuß zurück ins Abteil gekommen war, beobachtete ihn und das war kein angenehmes Gefühl.
Robin bewegte ihren Kopf nicht, lediglich ein Augenlid zog sie hinauf und erhaschte einen Blick auf einen korpulenten Mann, dessen graue Locken dünn und strähnig an einem kugelrunden Schädel klebten. Er hielt den Atem an, als wollte er damit Worte zurückhalten. Während er sich noch fragte, ob da für einen kurzen Augenblick ein verschmitztes Lächeln die Lippen der Frau umspielt hatte, hatte Robin der Kerl bereits in all seiner Seichtheit durchschaut. Der helle Anzug wies ihn als geschmacklosen Neureichen aus. Der Hut, der auf der Gepäckablage ruhte, und zu der ganzen Aufmachung gehören musste, sagte: „Ich brauche keinen, aber mit Hut klingen meine abstrusen Abenteuergeschichten viel glaubhafter." Er schwitzte und das ganze, rote Gesichte sah aus wie eine sehr fettige Speckschwarte. Verlegen versuchte er zu überspielen, dass er vorgehabt hatte, etwas Beleidigendes von sich zu geben. Er lächelte und sein Blick huschte zu Robin, um sich zu versichern, dass sie ihm glaubte.
Robin glaubte ihm nicht. Aber im Grunde war es gleichgültig, denn dieser Kerl, der seine aufregendsten Stunden vermutlich in einem Versicherungsbüro oder beim Änderungsschneider verbracht hatte, bildete nur ein störendes Element in einer spannungsgeladenen Szene.
„Wer soll ich sein?", fragte Mungo und drehte langsam den Kopf. Er versuchte, interessiert und nicht bedrohlich zu wirken. Doch sowohl der Chinese, als auch der Rest der lauschenden Reisenden nahmen ihm das nicht ab. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er irgendjemand sein konnte.
„Glauben Sie, ich wüsste nicht, dass man mir irgendwelche abgehalfterten Typen auf den Hals hetzen würde? Ich nehme es Ihnen persönlich gar nicht übel. Man kann dabei ganz gut verdienen, wenn man schlau ist und ihre Herzensdame scheint sich nicht mit billigem Tand abzufinden."
„Sie nehmen sich sehr viel heraus", kommentierte Mungo mit einem Seitenblick zu Robin, sich nun ebenfalls dem Gespräch zugewandt hatte.
Der Chinese senkte den Blick in einer besonderen Form der asiatischen Demut, bei der sich der Mörder vor seiner Tat bei dem Opfer entschuldigt. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen kleinen, uralten Revolver heraus.
Einige Reisende hielten stockend den Atem an. Josianne sog zischend Luft durch die Zähne ein. Alle Augen waren auf die gezückte Waffe gerichtet und plötzlich wünschte sich sogar das weltmännisch auftretende Speckschwartengesicht, in die Polsterung seines Sitzes kriechen zu können. Robin sah sein Gesicht erbleichen und verzog keine Miene, obwohl es sie amüsierte.
„Jetzt geht er ein bisschen weit, was?", fragte Mungo in Robins Richtung.
Die Hand des Chinesen zitterte. Mungo wusste, dass Leute, die schießen wollten, sich nicht mehr verhöhnen ließen. Hier hatte er es also mit einem Anfänger zu tun, einem Anfänger der als einziger in einem engen Raum voller Menschen eine Waffe trug.
„Er ist schon zu weit gegangen, als er mich als deine Herzensdame bezeichnete", sagte Robin langsam.
Mungo sah Robin an und lachte: „Herrgott, ja. Du solltest ihm die Zunge rausschneiden für diese Beleidigung." Dann wandte er sich wieder an den zitternden Jungen: „Mal im Ernst, Freund, leg das verdammte Ding weg. Wenn man nicht damit umgehen kann, wird schnell jemand verletzt, bei dem man es gar nicht beabsichtigt hat. Zum Beispiel du selbst. Und dann erklärst du mir, wer ich sein soll und warum du so nervös bist, verdammt noch mal."
Er nahm den Revolver nicht runter. Also stand Mungo auf.
Selbst in dem affigen Anzug war er eine Erscheinung. Er war groß und drahtig und wenn man ein kleiner, eingeschüchterter Chinese in einem Zug voller Zeugen war, konnte man glauben, dass eine Kugel an diesem Kerl einfach abprallen würde und man sich besser ergab.
Die drei Mädchen, in deren Sitzgruppe der junge Mann saß, rückten, so weit es ging, ab von der Konfrontation. Sie wollten nicht diejenigen sein, denen die unerfahrene Hand eines zitternden Schützen zum Verhängnis wurde. Von allen Insassen des Abteils hatten sie am meisten Angst. Gerade hatten sie es geschafft, aus San Francisco zu entkommen, da gerieten sie in eine Schießerei.
Eine tatsächliche Schießerei würde sehr gefährlich werden, dachte Mungo und entschied sich, einfach weiter zu reden. Offensichtlich funktionierte es, den Jungen damit in Schach zu halten und wenn er seinen eigenen Revolver gezückt hätte, wäre die Situation vermutlich eskaliert. Es waren zivilisierte, unschuldige Menschen anwesend, da gehörte es sich nicht, mit Waffen anzugeben.
Er benutzte seine ruhigste Stimme, die die am wenigsten nach einem bedrohlichen Knurren klang und sagte: „Gib mir den Revolver! Ich versichere dir, dass ich keinerlei üble Absichten gegen dich hege. Gib mir das verdammte Ding. Was glaubst du, was passiert, wenn du hier anfängst rumzuballern? Alle kannst du nicht erledigen. Aber die alle werden dich erledigen und dann hängst zu schneller am nächsten Baum als du nachladen kannst."
Der Chinese schwieg und richtete die Waffe immer noch auf den vermeintlichen Feind vor ihm.
Schließlich wurde es Mungo zu dumm. Er konnte nicht die ganze Fahrt über auf ein schlitzäugiges Nervenbündel aufpassen. Er holte aus und verpasste dem Jungen eine ernüchternde Rechte gegen die Schläfe.
Der Chinese fiel von seinem Sitz und ließ den Revolver fallen. Als er nach der Waffe greifen wollte, diesmal wild entschlossen zu schießen – das konnte man in seinen nun hasserfüllten Augen lesen -, hatte Mungo bereits einen Fuß darauf gestellt. Er bückte sich, griff den Jungen beim Kragen und zog ihn hoch, zurück auf seinen Sitz.
Dessen linke Gesichtshälfte schwoll erstaunlich schnell an. Mungo bückte sich erneut und nahm den Revolver an sich, der daraufhin in der Innentasche seines Jacketts verschwand. Dann kam er dem Chinesen näher, bis er ihm direkt ins Gesicht starrte, was zumeist Panik oder Tobsucht auslöste. Doch der Junge hielt sich gut. Er versuchte noch nicht einmal, Mungo ins Auge zu spucken.
„Und jetzt erklärst du mir, was mit dir los ist, Kleiner!", diesmal knurrte seine Stimme ungleich bedrohlicher.
„Es gibt nichts zu erklären", sagte der Junge, der noch viel jungenhafter aussah, wenn man auf ihn herabblickte.
Mungo seufzte und ließ seinen bohrendsten Blick wirken. Er wurde jedoch jäh unterbrochen von einer rüstigen, älteren Dame, die ihm von hinten auf die Schulter klopfte: „Gut gemacht, Mister!", sagte sie fröhlich, „Ich schätze, wir sind Ihnen alle zu Dank verpflichtet."
Mungo kam nicht dazu, etwas zu antworten, denn sogleich hing ein Mädchen an seinem Hals. Es schickte sich nicht für eine junge Dame, aber dies war eine besondere Situation...
Lynn küsste Mungo auf die Wange und sah ihm kurz darauf mit den blausten Augen, die er je gesehen hatte, direkt in die seinen. Er fürchtete, das unbedarfte Mädchen könnte darin Abgründe erkennen, die nicht zum Erfahrungsspektrum einer jungen Dame gehören sollte und versuchte, dem Blick auszuweichen. Lieber suchte er den Blickkontakt zu dem schießwütigen Chinesen, doch der starrte verlegen auf den Fußboden des Abteils.
Vorsichtig entledigte sich Mungo Lynns Klammergriff und kniete sich hinunter, um auf Augenhöhe mit seinem besiegten Gegner zu sein. Er flüsterte ihm etwas zu, das nur für seine Ohren bestimmt war: „Wenn ich es denen erlaube, werden sie dich auf der Stelle lynchen. Es wäre besser, du steigst beim nächsten Halt aus, Kleiner."
„Sie sind keiner von denen", stellte der Chinese fest, „Sonst hätten sie mich hier und jetzt abgeknallt."
„Und hier eine riesige Sauerei veranstaltet? Nein, danke. Und ehrlich gesagt, hättest du mich doch auch nicht abgeknallt, oder?"
Der Chinese antwortete nicht.
„Na schön. Ich habe gewonnen, also Butter bei die Fische: Wer bist du und für wen hast du mich gehalten?"
Die Antwort war ein Flüstern, ein leiser Hauch und penibel darauf bedacht, von niemand anderem als Mungo gehört zu werden: „Lee ist mein Name."
„Und weiter? Was ist los mit dir?"
„Nichts ist los! Bis jetzt. Aber gleich wird was los sein, wenn wir den Kerl aus dem Zug schmeißen!", meldete sich der dickliche Mann mit den strähnigen Locken, der sich nun auf sicherem Terrain wähnte. Er fing sich einen messerschaften Blick Robins ein, die hinter Mungos Rücken allein mit ihrer Präsenz versuchte, die anderen Reisenden in Schach zu halten.
„Nein", meldete sich Lee, „Ich habe eine bezahlte Fahrkarte. Sie können mich nicht aus dem Zug werfen!"
„Doch sie können", widersprach Mungo, „Aber ich werde sie davon abhalten, wenn du mir endlich die ganze Geschichte erzählst."
„Na schön", seufzte Lee und zuckte mit den Achseln, „Von mir aus. Ist ja kein Geheimnis."
Mungo nickte zufrieden, setzte sich auf den Sitz neben Robin mit den Füßen zum Gang und blickte Lee immer noch ins zum Boden gesenkte Gesicht.
„Da gibt es einen Typen namens Jao in San Francisco. Vielleicht kennen Sie ihn."
„Wen interessiert das Gewäsch?", rief Robins neuer Lieblingsfeind, „Werfen wir ihn raus, solange wir noch fahren!"
„Also mich interessiert das Gewäsch!", warf Josianne ein und schickte einen erstaunlich bösen Blick gegen den Herren mit den opulenten Ausmaßen.
„Lassen Sie den armen Kerl doch erzählen!", sagte die ältere Dame, die immer noch im Gang stand, damit sie auch ja jedes Wort mitbekam.
„Er ist doch fast noch ein Kind", sagte Lynn.
„Ist ja herzzerreißend, wie Sie sich hier alle für einen Typen einsetzen, der Sie bis vor ein paar Minuten noch mit einem Revolver bedroht hat", bemerkte Robin, lehnte sich zurück in ihrem Sitz und legte die nackten Füße auf den leeren Platz ihr gegenüber.
Tatsächlich war es nicht plötzliche Sympathie für den jungen Chinesen, der die Parteinahme für ihn erklärte, eher war es die fortwährende Antipathie, die das Speckschwartengesicht für sich vereinnahmte. Wären er und seine ständige Forderung nach Lynchjustiz nicht gewesen, würde der Junge wohl bereits irgendwo im Kiesbett der Schiene seine Knochen sortieren.
„Jao King?", fragte Mungo, der sich auch in den letzten Monaten des Wohlstandes, was seinen Beruf betraf, weitergebildet hatte, „Tausend Dollar für seinen Kopf, nicht wahr?"
„Tausendfünfhundert", sagte Lee.
„Meinetwegen", erwiderte Mungo, „Du arbeitest für ihn?"
„Aushilfsweise", verteidigte sich der Chinese schnell.
„Und was arbeitest du?"
„Ich... überbringe Lieferungen", druckste Lee.
„Bis wohin geht denn deine ehrlich erworbene Fahrkarte?", fragte Mungo, so freundlich er konnte.
„Reno", lautete die Antwort.
„Nein, tut mir leid", sagte Mungo, „Bis nach Reno kann ich den freundlichen Herrn da hinten nicht von deiner Gurgel fern halten."
Der Chinese schluckte, sagte jedoch nichts.
„Die nächste Station ist deine, meine Freund", erklärte Mungo, für den Fall, dass Lee ihn nicht verstanden hatte.
Aber Lee nickte bereits heftig, als er seinem Gegenüber nur in die Augen sah.
Der Zug fuhr unterdessen unbeeindruckt weiter durch die Nacht. Hinter Sacramento ließ die Geschwindigkeit deutlich nach. Die Sierra Nevada stellte den bequem Reisenden ihre Ausläufer in den Weg und eine Lokomotive musste auf diesem Teilabschnitt der Strecke Höchstleistungen vollbringen.
Vorne im Führerhaus schaufelten junge, rußgeschwärzte Burschen eine Schaufel Kohle nach der andern in den Brennofen, während die Kolben weiter voran ächzten. Hinauf in eine Welt, in der der Winter nicht aus glitschigen Straßen und Dauerregen bestand. In der Ferne waren bereits die ersten schneebedeckten Berggipfel auszumachen und auch an den Fenstern erstarrten nun die Regentropfen zu bizarren Eisgebilden.
Es zog durch undichte Ritzen. Der Innenraum des Abteils kühlte sich ab. Glasscheiben beschlugen. Sogar in der vornehmen ersten Klasse wurde es langsam ungemütlich.
Robin rieb die behandschuhten Hände aneinander und kämpfte mit sich, Mungo nicht zu bitten, in ihrem Gepäck nach einem Paar Schuhen zu suchen.
Mungo ließ Lee nicht aus den Augen, obwohl dieser es nicht wagte, sich noch zu rühren. Ohne seine Waffe fühlte er sich schutzlos und er würde froh sein, diesen Zug bei nächster Gelegenheit verlassen zu können.
Ein- oder zweimal versuchte das Speckschwartengesicht noch, zu einer Grundsatzrede anzusetzen, wurde jedoch von einem scharfen Blick aus Robins Richtung zum Schweigen gebracht. Mehr als „Um noch einmal darauf zurück zu kommen, dass..." oder „Ein hübscher Held ist das, der..." brachte er nicht über die Lippen. Einmal glaubte Robin verstanden zu haben, wie er etwas gemurmelt hatte, das klang wie „Keinen Mumm in den Knochen".
Es dauerte jedoch nicht lange, da bremste der Zug ab und alle Beschwerden über Mungos Chinesenpolitik verloren ihre Existenzberechtigung. Truckee rückte näher und mit ihr eine Verschnaufpause für Maschinen und Fahrgäste.
Die Stadt war einzig für und wegen der Eisenbahn gegründet worden. Sie lag unmittelbar an der Grenze zwischen Kalifornien und dem Territorium von Nevada, also zwischen Zivilisation und Wildnis. Truckee stellte eine winzige Siedlung mit einigen, verschlafenen Holzhütten unter einer unberührten Schneedecke dar. Die Stadt schlief. Der Bahnhof schlief. Lediglich eine Notbesetzung betätigte die unumgänglichen Handgriffe.
Irgendwo vorne benötigte die Lokomotive frisches Wasser und Kohlennachschub. Für die immerwache Besatzung des Zuges gab es eine kleine Mahlzeit und die Passagiere hatten etwas Zeit sich die Füße zu vertreten, wenn sie dies denn mitten in der Nacht in der winterlichen Einöde tun wollten.
Irgendwo hinten öffnete sich die Tür eines Abteils. Lee und Mungo waren gleichzeitig aufgestanden. Lee wäre freiwillig gegangen, er wäre gerannt. Nur weg von diesem unangenehmem Kerl! Mungo bestand jedoch darauf den Chinesen zur Tür zu begleiten, beobachtete ihn, wie er hastig aus dem Wagon sprang, und über den Bahnsteig stolperte. Dann kehrte Mungo ins Abteil zurück und wurde mit anerkennendem Beifall betraut.
Die Mädchen applaudierten am lautesten, die alte Dame am überschwänglichsten und Schwartengesicht am sarkastischsten. Robin klatschte nicht, nahm allerdings anerkennend die Füße vom ihr gegenüber gelegenen Sitzplatz und überließ ihn wieder Mungo, den der Beifall beinahe peinlich berührte. Irgendwie fühlte er sich genötigt, etwas zu sagen, doch er war kein großer Redner und so beließ er es dabei.
Robins Blick war noch immer auf das glänzende Gesicht, des Möchtegern-Cowboys gerichtet, der als erster zu Klatschen aufhörte. Sie nickte ihm zu, was ihn dazu veranlasste verdächtig zusammenzuzucken. Robin zuckte mit dem Mundwinkel, was der Kerl als Grinsen interpretieren sollte.
Schließlich endete dieser stumme Augenkampf mit einer klaren Niederlage des Mannes im hellen Anzug. Er sagte, als erster der überhaupt seine Stimme erhob, nachdem der Chinese hinaus gebeten worden war: „Und Sie halten sich jetzt also für einen Helden, was? Solches Gesinde sollte man nicht laufen lassen. Diese Schlitzaugen sind alle Verbrechen!"
„Und was für ein Held sind Sie?", fragte Robin, „Ihnen verschlägt es schon die Sprache, wenn ein unbewaffnetes Mädchen Sie böse ansieht."
Verhaltenes Gekicher ertönte und verstummte wieder, als Schwarte sich verteidigte, den Kopf so rot wie eine überreife Tomate: „Ich bin ebenfalls unbewaffnet, mein Fräulein. Und ich möchte mich ungern in die Angelegenheiten Ihres Begleiters einmischen, auch wenn er noch so großen Unsinn treibt." Er warf einen Seitenblick auf Mungo, was dieser jedoch nicht bemerkte, da er in eine andere Richtung schaute und der Kerl schräg hinter ihm saß.
„Ach, hören Sie doch auf!", mischte sich Josianne ein, „Wir haben Mister Carrow vielleicht unser Leben zu verdanken!"
„Richtig! Man sollte ihm dankbar sein!", sagte eine vornehme Frau, die neben einem eingefallenen, kränklichen Mann saß und sich bisher nicht zu Wort gemeldet hatte.
„Ich sage ja auch nicht, dass er nicht geistesgegenwärtig gehandelt hat", sagte Schwarte und machte es damit nicht besser, „Ich sagte nur, dass es falsch war, den Kerl laufen zu lassen! Er hat ja selbst zugegeben, dass er was mit einer Verbrecherbande zu schaffen hat."
„Nachdem er sein Ziel, Reno, nicht erreicht hat, wird er wohl kaum noch zur Bande gehören", sagte Mungo gelangweilt, „Der arme Teufel hat sie jetzt alle auf den Fersen, seine Freunde und seine Feinde. In seiner Situation gibt es da keinen Unterschied mehr."
„Mister Carrow, woher können Sie so gut...", begann Lynn, doch ihr fiel das letzte Wort nicht ein.
Robin half ihr aus: „Hochstapeln?"
„Kämpfen", verbesserte Lynn, „Wo haben Sie gelernt, so mit Strolchen umzugehen? Die Männer, die ich kenne, hätten sich entweder verkrochen oder eine Schießerei provoziert."
Mungo schwieg. Kämpfen? Er hatte sich nie als Kämpfer gesehen. Als Verteidiger vielleicht oder als unfairen Spielkameraden. Aber die Bezeichnung „Kämpfer" hatte so etwas Soldatenhaftes, das ihm nicht gefiel. Er war keine Kampfmaschine, kein blinder Raufbold oder schlitzohriger Stratege. Er überlebte nur irgendwie. Und wenn es seine Feigheit war, die ihn rettete, dann war er eben ein Feigling. In diesem Fall war es jedoch wohl eher seine Besonnenheit gewesen und die Tatsache, dass der Junge sich hatte vollkommen einschüchtern lassen. Ihn zu töten oder auszuliefern, wäre wahrhaftig ein Verbrechen gegen die Moral gewesen. Selbst wenn Lee mandelförmige Augen besaß und in seiner Tasche vermutlich genug Opium versteckt hatte, um ein ganzes Lazarett damit zu versorgen.
„Er hätte nicht geschossen", sagte Mungo schließlich und schwieg wieder. Mehr fiel ihm nicht ein.
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