Verluste

Mein Psychiater vertritt die Ansicht, dass meine Probleme in direktem Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters stehen. Ich weiß nicht, woraus er das schließt. Wahrscheinlich, weil es so naheliegend ist. Ich persönlich glaube jedoch, dass die ganze Sache etwas komplexer ist, als dass man es auf ein einfaches Trauma zurückführen kann.

Mein Vater starb exakt an meinem vierzehnten Geburtstag, was es mir unmöglich macht, dieses Datum je wieder zu vergessen und mir eine Jugend bescherte, die ich zu einem weit größeren Teil auf dem Friedhof verbrachte, als es gut für mich gewesen wäre. Aber sein Tod stellte lediglich das Ende eines Prozesses dar und ich verglich ihn gerne mit dem Auflösen eines Knotens.

Drei Jahre zuvor – im Alter von gerade vierzig Jahren – war bei ihm ein Pankreaskarzinom im Frühstadium entdeckt worden. Man dachte: Früh genug. Tatsächlich aber handelte es sich um eine ziemlich hartnäckige Krankheit, die sich einfach nicht wegtherapieren ließ. Drei Jahre lang erlebten wir ein Tauziehen zwischen moderner Medizin und barbarischer Wucherung. Mal punkteten die einen, dann schlug die andere zurück.

In dieser Zeit entwickelte ich ambivalente Gefühle gegenüber Ärzten. Ich war nicht sicher, ob es sich bei ihnen um eine Bande von Scharlatanen oder um das Bindeglied zwischen wissenschaftlicher Elite und Menschlichkeit handelte. Ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen sollte, oder ob sie Menschen mit unheilbaren Krankheiten nicht doch eher als Versuchskaninchen betrachteten.

Meiner Mutter versicherten sie, dass Vater einen absoluten Ausnahmefall darstellte, der sein Überleben nur dem medizinischen Fortschritt verdankte und meine Mutter glaubte das. Sie sagte noch nach seinem Tod: „Wir hätten nicht mehr so viel Zeit mit ihm gehabt, wenn wir diese ganzen Therapien nicht gemacht hätten."

Wahrscheinlich hat sie Recht, jedoch bedeutet diese Tatsache, dass die letzten Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, Bilder sind, in denen er sich von einem Tag zum nächsten quält – ein Todeskampf, der künstlich in die Länge gezogen wurde. Drei Jahre lang Verfall. Ich begann, mich zu fragen, wo die Trennungslinie zwischen Barmherzigkeit und Sadismus verlief.

Mein Psychiater meint, mein Problem sei der Verlust. Ich käme nicht damit klar, verlassen zu werden und müsste lernen, selbst Verantwortung für mein Leben zu übernehmen.

Ich finde das zynisch. Ich habe meinen Vater nicht mit dreizehn verloren, sondern bereits drei Jahre davor. Ich war nicht reif oder zumindest heranwachsend oder jugendlich und ich befand mich ganz sicher nicht in der Lage, Verantwortung für mich zu übernehmen, als ich zehn war. Die Probleme liegen nicht im Verlust, sondern darin, dass ich nicht genießen kann, wenn ich weiß, dass der Genuss irgendwann zu Ende sein wird.

Drei Jahre habe ich Zeit gehabt, um mit meinem Vater zu leben und in diesen drei Jahren dachte ich an nichts weiter als daran, dass er sterben und dass es dann auch egal sein würde, ob ich hier und heute mit ihm glücklich gewesen war, denn wenn er erstmal tot war, stellte vergangenes Glück im besten Fall einen Beweis für meine Naivität dar. In meinem Magen ballte sich außerdem das Gefühl zusammen, dass es geradezu obszön wirken würde, wenn man sich in Zeiten der Trauer bewusst an bessere Zeiten zurückerinnert. Es gehört sich einfach nicht, es ist unangemessen, dumm und wird der eigenen Betroffenheit nicht gerecht.

Ich sage Betroffenheit, weil das Wort „Schuld" hier nicht passt, aber im Grunde habe ich Trauer immer als eine Form von Schuld wahrgenommen und ich grübelte mehr als eine Nacht darüber nach, ob Krankheit und Verlust nicht Strafen für dumme Gedanken oder Fehler darstellen. Habe ich irgendwann und irgendwo vielleicht eine Konsequenz nicht richtig bedacht? Ist das Leben wirklich eine einzige riesige, komplex verschachtelte Kettenreaktion?

Mit den Jahren verblassten die Erinnerungsbilder, die mir von meinem Vater geblieben sind und alles, was von ihm noch in mir haftet, sind Sätze, die er mal gesagt hat. Mit 16 habe ich sein Gesicht schon fast vergessen. Auf Fotos blickt mich ein Fremder aus einer fremden Welt an. Ich bin ein Teenager und hatte das Gefühl, uralt zu sein.

Mein Problem ist nicht das Verlassen-werden. Es ist die Veränderung und die Stagnation. Ich ertrage beides nicht. Ich bin Neuigkeiten gegenüber unaufgeschlossen, aber das Althergebrachte nervt mich beinahe noch mehr.

„Es ist wie mit dem Hören", erklärte ich meinem Psychiater einmal. „Eine zu laute Umgebung löst Stress aus, aber komplette Stille treibt einen in den Wahnsinn."

Ich brauche immer etwas, das mich stimuliert, sonst verfalle ich in einen katatonischen Zustand. Bekomme ich aber zu viele Stimuli, brennt irgendwo in mir eine Sicherung durch.

„Vielleicht tut dir ja eine Luftveränderung ganz gut", meinte mein Psychiater hoffnungsvoll, „Mal was anderes sehen, neue Leute kennen lernen, weg von zu Hause."

„Ja, vielleicht", sagte ich und glaubte, eine kleine Stichelei gegen meine Mutter aus seinem Satz herausgehört zu haben, was mir missfiel, denn ich spielte in ihrem Team, nicht in seinem.

„Mal nicht so viel nachdenken, sondern einfach mal was erleben", sagte er weiter, aber da hörte ich ihm schon gar nicht mehr zu und nickte nur noch.

Ich dachte schon wieder. Das ist auch so eines meiner Probleme: Während andere Leute Dinge einfach machen, denke ich so lange darüber nach, welche Möglichkeiten ich habe, bis es zu spät ist. Vielleicht lege ich es drauf an, mich nicht zu einer Entscheidung durchringen zu müssen. Vielleicht habe ich Angst davor, verantwortlich für die Konsequenzen zu sein.

Ich denke alles Mögliche. Tagträume, Theorien, Argumentationen, die ich niemals jemandem unterbreite, Gedankenexperimente... Alles, um mich davon abzulenken, wenn sich die so mühsam und mutwillig zerknüllten und verblassten Bilder wieder entfalten, an Farbe gewinnen und plastisch werden. Aus dem gleichen Grund, weigere ich mich, mit meinem Psychiater über meine Nachtträume zu sprechen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top