Tragödien

Was sind die drei größten Tragödien im Leben eines Egoisten? Anerkennung, Schmähung und Mittelmäßigkeit.

Es ist einsam an der Spitze und Bewunderung ist bei Weitem nicht so nahrhaft wie Freundschaft. Erfolg ist eine betrügerische Braut und wer versucht, sein Leben nach ihr auszurichten, der wird erfahren, wie oberflächlich Liebe sein kann.

Schmähung hingegen ist ehrlich, dafür zerstörerisch. Wer die Erfahrung der Ablehnung macht, der gleitet ab in Selbstzweifel oder Wahn. Beides vergeudet Ressourcen. Beides lähmt.

Meine persönliche Tragödie aber ist weder das Zerbrechen an zu viel noch das Zugrundegehen an zu wenig Ruhm. Ich bin gefangen in der dumpfen Einöde der Mittemäßigkeit – ein Ort, an dem alles schon mal gesagt oder gedacht worden ist, ein Ort, an dem niemand Interesse an etwas Neuem aufbringt und ein Ort, an dem man vor lauter Gedränge seinen Platz nicht finden kann.

Dass ich eine Egoistin bin, weiß ich, seit ich einmal einen Klassenkameraden bei einer Lehrerin verpfeifen wollte, nachdem er in einer Schularbeit zu spicken versucht hatte. Ich tat es so, dass niemand es mitbekam und ich nicht als Petze dastand. Nach der Stunde suchte ich die Lehrerin auf und erbat mir ihre Diskretion. Dann erzählte ich ihr alles und sie hatte daraufhin nichts Besseres zu tun, als mich einer Strafpredigt über unkollegiales Verhalten und Denunziation zu unterziehen. Ich ließ es über mich ergehen, stimmte ihr jedoch nicht zu.

Der springende Punkt ist jedoch, dass ich meinen Klassenkameraden nicht verpfiffen habe, weil ich ein übertriebenes Gerechtigkeitsgefühl besitze, sondern weil dieser Kerl mir meine Position als Klassenbeste streitig machte und mich womöglich überholt hätte, wenn er erfolgreicher spickte, als ich lernen konnte. Es ging mir nicht um einen gerechten Wettbewerb. Es ging mir einzig und allein um meinen Vorteil und wenn er falsch spielte, dann konnte ich das schon lange.

Im Endeffekt verspielte ich meine Position mit meiner Aktion und meinem damals immer instabiler werdenden Zustand. Ich hatte meinem Bild, das jene Lehrerin von mir besaß, nachhaltig geschadet und ich erfuhr so etwas wie Ekel, den sie mir mit einem Mal entgegenbrachte. Ich überlegte, ob sie vielleicht Angst vor mir hatte, ob sie mich für unberechenbar hielt und fand ihr Verhalten so lächerlich, dass ich sie für den Rest den Schuljahres nicht mehr ernst nehmen konnte.

Jedenfalls lernte ich über mich, dass ich eine Egoistin bin und dass ich dagegen wahrscheinlich nichts werde tun können.

Man muss damit umgehen, wenn man etwas an sich nicht leiden kann. Man muss versuchen, es zu ändern und sich zu optimieren. Das Problem ist nur: Ich mag meinen Egoismus. Ich kann mit Anerkennung genauso gut leben wie mit Ablehnung. Das hatte ich gerade erfahren. Was ich verlassen will und womit ich kein bisschen klar komme, ist die Mittelmäßigkeit, die ich immer noch an den Tag lege, wenn ich meine Arbeiten mit denen meiner Vorbilder vergleiche.

Ich will das Extrem. Sie sollen mich entweder anbeten oder verdammen. Ich will entweder Hass oder Liebe. Unbestimmte Sympathie ist keine Option. Sie ist verlogen, sie kostet keine Überwindung, provoziert keine Entscheidung. Ich will, dass die Leute über mich nachdenken und zu einer Schlussfolgerung kommen. Sie sollen urteilen. Ich will es, weil ich ihnen dann überlegen wäre. Wenn die anderen Position beziehen, glaube ich, fällt es mir leichter, eine Gegenposition einzunehmen. Vielleicht werde ich dann endlich wissen, wohin ich gehöre. Vielleicht finde ich dann endlich einen Platz, an den ich mich anpassen, eine Aufgabe, irgendwas, an dem ich mich festhalten kann.

Es fällt mir schwer, mich selbst zu definieren, ohne meinen Standpunkt im Rahmen eines Spektrums betrachten zu können, deshalb muss ich ausloten, in welcher Beziehung ich zu anderen stehe. Ich brauche ihre Ansichten, um meine eignen daran zu reiben. Ich brauche irgendwas, um mich daran zu reiben.

Man muss entweder ganz unten oder ganz oben sein, glaube ich, sonst ist das Leben sinnlos. Man muss etwas zu sagen haben und die Leute müssen entweder zuhören und begeistert sein, oder weghören, sodass man sie als Ignoranten beschimpfen kann. Die Geschichte gibt den Dissidenten Recht, die Gegenwart der schweigenden Mehrheit, die sich vor Veränderung mehr fürchtet als vor der eigenen Knechtschaft.

Die Gegenwart interessiert mich kein Bisschen. In der Gegenwart leben nur Idioten. Die Gegenwart zeichnet sich vor allem durch eines aus: Beklommenheit der Zukunft gegenüber.

Wie anstrengend ich diese Angst empfinde! Wie lähmend diesen Zustand der Stagnation um jeden Preis! Alle Bemühungen gelten nur dem Erhalt, egal wie fehlerhaft das System ist.

Wenn man in die Zukunft blicken will, muss man in die Vergangenheit schauen, sage ich mir. Was schon mal gewesen ist, kann sich wiederholen. Ist es das, wovor alle Angst haben und weshalb sie alles totschweigen, das irgendwie progressiv klingt? Aber ist es nicht fahrlässig, offensichtliche Gefahren zu ignorieren? Machen Erfahrung einen mit der Zeit stumpfsinnig? Liegt darin das eigentliche Trauma der Menschheit? Warum lassen sie dann die Jungen nicht entscheiden? Weil Macht korrumpiert und weil es den Alten in ihren Positionen gefällt? Weil sie sich nicht wieder in die Abhängigkeit begeben wollen, die sie selbst als Kinder erfahren haben, deren Systematik sie jedoch nicht aufzugeben bereit sind?

Ich frage mich, ob es ein unabwendbares Schicksal ist, dass man als Erwachsener resigniert und am Ende so wird wie die, die man einst gehasst hat.

Wenn ich so darüber nachdenke, komme ich zu dem Entschluss, dass ich unter keinen Umständen jemals „ganz oben" sein will und die Welt lieber von „ganz unten" zu verändern versuchen sollte. Von oben kommen nie Veränderungen, glaube ich. Von oben kommen immer nur Belehrungen und Befehle. Von unten aber kommen die Hilferufe und die wahrhaftigsten Erkenntnisse der Realität. Man muss sich an die Verschmähten halten! Man muss auf die Abtrünnigen hören!

Ich tue viel dafür, selbst als Abtrünnige wahrgenommen zu werden. Leider genügt es nie und ich hänge fest im klebrigen Spinnennetz des Durchschnitts, der stumm zum Konsumieren verdammt ist, dem niemand etwas abseits der Indoktrinierung zutraut und der gebraucht wird – nicht als konstruktiven Teil der Gesellschaft, sondern als Statist in einer Inszenierung von „Schöne Neue Welt".

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