Pläne
Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr nehme ich Fluctin. Als meine Mutter und ich damals beim Arzt saßen, wollte er es erst nicht verschreiben, weil er meinte, ich solle mich nicht daran gewöhnen, zu versuchen, meine Probleme mit Tabletten zu lösen.
Ich sagte: „Wenn diese Tabletten meine Probleme doch aber lösen können?"
Er sagte, dass er gar nicht glaube, dass ich wüsste, was richtige Probleme seien. Und dann sagte ich, dass er vielleicht nicht richtig verstand, was für Probleme die Leute hätten und dass ich es ziemlich anmaßend fand, wie er über die gefühlten Probleme anderer Leute urteilte und dass ich es außerdem lächerlich fand, dass wir mit dem Wort „Probleme" die eigentlichen Tatsachen so umschrieben, als hätten wir Angst vor ihrer konkreten Bezeichnung.
Daraufhin wies er mich zurecht und meine Mutter gleich mit, weil sie anscheinend nicht in der Lage war, ihre Tochter zu erziehen, ohne dass diese bereits im Teenageralter glaubte, eine Existenzkrise zu erleiden. Dass meine Mutter das zum Kochen brachte, bemerkte ich, er aber nicht.
Ich fragte ihn, ob er der Ansicht sei, dass Menschen, denen etwas Gutes widerfuhr – eine Heilung oder eine Verbesserung des Gesundheitszustandes zum Beispiel –, dafür etwas bezahlen, also eine negative Erfahrung als Ausgleich für die gute in Kauf nehmen müssten, und er sagte, alles habe seinen Preis. Alles habe Konsequenzen und Psychopharmaka nun mal Nebenwirkungen. Es sei nicht üblich, Jugendliche auf diese Weise zu behandeln und er wisse auch gar nicht so genau, ob es überhaupt ein Mittel gäbe, das für Menschen unter 18 zugelassen war und wenn, dann habe man keine Erfahrungen damit.
Er schlug vor, ich sollte eine Gesprächstherapie versuchen, aber dafür war ich zu ungeduldig. Ich brauchte diese Tabletten jetzt sofort. Ob ich nicht eine Kur machen wollte? Himmel, Gott, nein! Was ich von Kunsttherapie hielt? Gar nichts.
Ich hatte mich über all das informiert und mich entschieden, sinnlose Beschäftigungen kategorisch abzulehnen. Ich wollte keine Zeit verschwenden, sondern am besten morgen schon wieder funktionieren. Ich hatte auch über Elektroschocks gelesen und Insulintherapie, kam aber zu dem Schluss, dass ich am ehesten von dem Zeug profitieren würde, das genau dort ansetzte, wo das Problem entstanden war: In meinem Gehirn.
Es ist nichts dabei ein krankes Gehirn zu besitzen. Andere Leute haben kranke Nieren oder ein krankes Herz. Niemand findet es schockierend, wenn man dagegen Medikamente nimmt. Ein Gehirn gilt aber aus irgendwelchen Gründen nicht als Organ, sondern als Sitz der Persönlichkeit. Meiner Ansicht nach, ist es vollkommen überbewertet. Oder unterbewertet, weil man nicht glaubt, es heilen zu müssen und sich nicht traut, es nach eindeutigen Kriterien zu bewerten. Das halten sie für unsensibel. Dann aber frage ich mich, wieso dieser sogenannte Experte nicht einfach mir die Bewertung meines eigenen Oberstübchens überließ, sondern mir einreden wollte, alles käme schon wieder von alleine in Ordnung und ich befände mich nur gerade in einer Phase.
Als wir nach diesem ermüdenden Gespräch mit dem meiner Ansicht nach völlig inkompetenten Arzt im Auto saßen, hatte ich trotzdem mein Rezept für Fluctin und meine Mutter eine Riesenwut.
„Wenn einer einen Kurs in Psychologie braucht, dann dieser Kerl!", fand sie, „Wie kann man Psychiater werden, wenn man so wenig von Menschen versteht? Es sieht doch jeder, dass du krank bist!"
Ich sagte nichts.
Sie fuhr fort: „Sowas kann man einem doch nicht abgewöhnen oder abtrainieren!" Sie warf mir einen verstörenden Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Vorwurfsvoll? Mitleidig? Unverständig? Angeekelt? Hilflos? „Da braucht es Medikamente! Wo ist das Problem? Es gibt diese Mittel doch, um solche Dinge zu behandeln. Warum soll man sie dann nicht nutzen?"
„Weil Leiden irgendwie reinigend wirkt", murmelte ich.
„Ach Blödsinn!", sagte meine Mutter.
„Doch!", erwiderte ich, „Ich glaube, das denkt er. Wer sein Leiden annimmt, der bekennt reuig seine Sünden."
„Du meine Güte, das meinst du doch nicht ernst!"
„Nein", bestätigte ich ein wenig niedergeschlagen. Sie verstand meine Argumentationen nie.
„Eine Pfeife!", urteilte meine Mutter weiter.
„Er findet einfach, dass man sich anstrengen muss. Deshalb gibt er nicht einfach so Medikamente raus. Er möchte halt sehen, wie sehr die Patienten danach verlangen", sagte ich, „Das ist schon okay. Am Ende hat er es ja rausgerückt."
„Das ist kein Wettbewerb!", behauptete meine Mutter, aber ich zweifele daran, denn im Grund ist doch alles ein Wettbewerb. Wer bekommt die besten Noten? Wer hat die definierteste Figur? Wer den modischsten Haarschnitt? Wer kennt die neuesten Bands? Wer kann sich die teuersten Klamotten leisten? Wer fährt das dickste Auto? Wer erträgt am meisten Schmerz? Ich denke, da gibt es kaum einen Unterschied, nur dass wir das eine als „krank" bezeichnen und das andere als „strebsam".
„Ohne Hilfe machst du dich irgendwann kaputt!", sagte meine Mutter und ich fand, dass das eigentlich ja auch jeder machte und es deshalb nicht unbedingt erwähnenswert war.
Später erfuhren wir, dass es für Fluctin tatsächlich keine Zulassung für Jugendliche gab. Ich fühlte mich wie ein Versuchskaninchen und das machte mich ein wenig stolz. Es war etwas, womit man angeben konnte.
Aber ich wollte die Tabletten vor allem deshalb, weil ich zwar gut im Rennen um die Frage lag, wer am meisten Schmerz ertrug, ich jedoch bemerkte, wie es an anderer Stelle zu bröckeln begann. Ich konnte mich weniger konzentrieren, schlief schlecht, verlor den Appetit und meine Noten drohten abzufallen.
Schlechte Noten aber kann ich mir nicht leisten. Ich habe Pläne.
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