Lügen
Wenn das Leben dazu da ist, um es zu einem Denkmal seiner selbst zu gestalten, dann ist die Welt nichts weiter als ein unendlich großes Museum verlorener Träume und verpasster Chancen. Man gräbt sich durch Unmengen von bedeutungsloser Scheiße, um etwas zu finden, von dem man glaubt, dass es einen Wert hat, bis man feststellt, dass man aller Begeisterung irgendwann entwächst und selbst ein Klumpen Gold nicht nützlicher ist als ein Klumpen Scheiße.
Ich glaubte mal, die Jugend zeichnet sich durch Radikalität und Pioniergeist aus, in Wirklichkeit stellt sie eine Phase der Orientierungslosigkeit und der Hemmung dar, die man nur verlassen kann, indem man Erkenntnisse zu ignorieren beginnt, wie diese, dass die Zukunft unbestimmbar ist und nur wir selbst sie beeinflussen.
Da ist diese Angst, Fehler zu machen, Dummheiten zu begehen, später irgendwann all das zu bereuen. Da ist diese Angst, sich zu blamieren, dass einem auf ewig ein Makel anhängt, dass die Leute sich nur an dein Scheitern erinnern und sich über deine idiotischen Überzeugungen kaputtlachen.
Ich besitze eine geradezu zärtliche Zuneigung zum Konzept der Lüge, seit mir aufgefallen war, dass alles, was ich sagte – egal, ob ich es wirklich so meinte oder nicht – sich früher oder später als Lüge entpuppte. Das macht es mir leichter, überhaupt zu reden. Denn zu wissen, dass man lügt, gibt einem ein Gefühl von Befreiung. Trotzdem bin ich manchmal selbst überrascht von mir, dass ich so oft meine Meinung ändere, meine Ansichten ausdehne oder relativiere, bis ich sie völlig über den Haufen werfe und durch etwas Neues, Interessanteres ersetze.
Ich bin wankelmütig und unentschlossen. Ich habe keine Überzeugung, weil es – wie ich damals bereits zu wissen glaubte – keine Wahrheiten gibt, oder weil ich, wenn es sie doch gibt, diese nicht kenne.
Wenn man jung ist, tappt man im Dunkeln und das ändert sich niemals, wenn man es darauf anlegt, integer zu bleiben. Das Problem ist jedoch, dass eben diese Integrität heftig in Frage gestellt werden muss, wenn man bedenkt, wie oft ich meine Meinungen ändere.
Es macht mich fertig, wenn ich glaube, etwas verstanden zu haben, um mich dann daran zu erinnern, dass ich noch zwei Monate zuvor vom Gegenteil überzeugt gewesen bin und es dafür sicher auch gute Gründe gegeben hat.
Die Aufrichtigen sind zu zimperlich, deshalb werden sie übervorteilt von den Einfältigen, dachte ich. Das sind die Leute in den hohen Positionen, die sagen wo es lang gehen soll. Denen ist es egal, ob sie Unrecht haben oder sich ihre Entscheidungen als Murks entpuppen, sie machen einfach und sehen, was passiert.
Wenn aber alles Lüge ist, wem oder was kann man dann noch vertrauen? Man tappt nicht nur im Dunkeln, der Boden ist auch noch mit einem Film Schmierseife überzogen und rechts und links wartet ein Abgrund darauf, dass man eine Kurve nicht richtig erwischt.
Einen hell erleuchteten Sommertag lang war ich zum Beispiel vollständig davon überzeugt, dass Planwirtschaft das sinnvollste Konzept der Weltgeschichte darstellte, aber nur, weil die Schulstunde endete, bevor wir all die Nachteile und Unzulänglichkeiten dieser Wirtschaftsform durchnehmen konnten. Diese Lektion folgte dann am nächsten Tag und ich schämte mich für meine Kurzsichtigkeit und es dauerte zwei weitere Tage, bis ich mich zu fragen begann, welche Agenda meine Sozialkundelehrerin eigentlich verfolgte. Wie selbstlos sind die Leute, die einen belehren wollen? Welche Absichten hegen sie?
Ich denke an den Superhelden, der ich nicht sein will, an Ideale, die ich nicht besitze, daran, dass der letzte aufrichtige Mensch, sich erschossen hat und daran, dass es jetzt nur noch bergab gehen kann mit der Gesellschaft, weil es nie die aufrichtigen Menschen sind, die einen belehren wollen. Aufrichtige Menschen wissen, dass Belehrung Manipulation ist.
Was kann man schon sein? Held, Schurke, Statist. Anerkennung, Ablehnung, Mittelmaß. Es läuft immer auf eines der drei hinaus.
„Es wird Zeit, dass du mal hier raus kommst", sagt mein Therapeut. „Dieses Gedankenkreisen ist nicht gut."
Ich frage mich, ob man sowas im Medizinstudium lernt: Dinge als „nicht gut" zu erkennen und zu beschreiben. Heilen... na ja, das muss der Patient schon selbst übernehmen.
Meine Mutter und ich können es uns nicht leisten, in Urlaub zu fahren. Deshalb fügt mein Therapeut hinzu: „Du solltest dich wirklich von dem ganzen Trott mal erholen. Du hast es verdient, weißt du."
„Meine Noten sind gut genug", sage ich.
„Leistung zahlt sich eben aus." Er grinst.
Ich unterdrücke ein Gähnen. Leistung macht müde, das ist alles.
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