Fixpunkte

Ich glaube, es gibt Fixpunkte in der Weltgeschichte, Ereignisse, die eine Wende markieren und an die man sich ewig erinnern wird. In der Generation meiner Eltern weiß jeder, was er am 22. November 1963 gemacht hat. In meiner hingegen wird man sich für immer an den 08. April 1994 erinnern.

Ein Freitag. Viele Leute, die ich kenne, erzählen davon, dass sie bereits Tage zuvor düstere Vorahnungen gehabt hätten und diese ganze Aprilwoche unter einem schlechten Stern gestanden habe. Dunkler sei es gewesen, die Atmosphäre geradezu apokalyptisch. Meine Erinnerungen an den 08. April 1994 sind dabei eher profaner Natur und ich habe mir nie die Mühe gemacht, sie auszuschmücken. Für mich hat der Tag sogar eher ein glückliches Ereignis bereitgehalten: Ich saß im Sekretariat unserer Schule und wartete.

Die Flure lagen leer, dunkel, kalt und brach vor mir, als ich eintrat, denn es waren noch Osterferien. Keine Lehrer, keine Schüler, keine Schulglocke, die den Morgen erbarmungslos in kleine Zeitabschnitte zerteilte und uns wie eine Herde Schafe herum scheuchte von Klassenraum zu Klassenraum. Das ganze Gebäude hätte genauso gut ein Mausoleum sein können. Doch als ich diesen klotzigen Hohlraum betreten hatte, fühlte ich mich trotzdem irgendwie erhaben. Meine Schritte hallten von den Wänden wider, was ihnen den Ruch von Bedeutung gab. Ich dachte: Was einen Menschen wirklich heraushebt aus der Masse, ist, wenn er ein Echo verursacht.

Nur im Sekretariat brannte Licht und eine übelgelaunte Sekretärin suchte in einem Unterlagenstapel nach dem richtigen Formular. War sie etwa heute extra nur für mich aufgestanden und hierher gefahren? Konnte schon sein, ich traute mich aber nicht, sie zu fragen.

Ich brauchte nur einen Stempel auf meinem Antrag und im nächsten Jahr würden sie mich los sein. Nicht, dass sie mich gerne loswerden wollten, aber ich hatte das Gefühl, dass es mir guttun würde, wenn ich sie eine Zeitlang nicht sah.

Dass ich heute zur Schule kommen musste und die Sache nicht bis Montag warten konnte, lag daran, dass irgendjemand irgendeinen Termin verschlafen hatte – höchstwahrscheinlich die Sekretärin, denn sie hatte mich angerufen und hergebeten.

Ich bekam schließlich meinen Wisch, sowie den Kommentar: „Ein bisschen Eigeninitiative wäre wünschenswert, wenn man sich schon für sowas bewirbt!" Ich überhörte das geflissentlich, brachte das Formular selbständig zur Post und marschierte leichten Herzens nach Hause. Das nächste Schuljahr werde ich in Donegal, im Norden der Republik Irland verbringen.

Die schrecklichen Nachrichten des Tages hörte ich erst, als ich mich im Wohnzimmer auf die Couch warf und MTV einschaltete. Immer, wenn einem etwas Gutes widerfährt, muss man dafür etwas Schlechtes ertragen. Das war es zwar nicht, was Kurt Loder sagte, aber ich bin sicher, es wissen bereits alle, worum es geht.

Meine Mutter mag es nicht, dass ich so viel vor dem Fernseher sitzt. Ich sagte zu ihr, es sei gut für mein Englisch, wenn ich möglichst viel englisches Fernsehen schaue. Sie findet, dass man von diesem Slang-Sender doch eigentlich nichts lernen kann, außer wie man flucht oder sich Drogen beschafft. In ihren Ohren klingt jede Fremdsprache irgendwie kriminell.

MTV aber bildet für mich ein Fenster zur Welt. Und ja, mein Englisch hat sich dadurch verbessert! Es ist so gut, dass man mich ein ganzes Jahr auf der Insel verbringen lässt. Nicht in England – da wollte ich nicht hin. Ich wollte nach Irland, weil mir ein Satz meines Vaters im Gedächtnis hängen geblieben ist.

Es gibt diese Sätze, die man hört und nie wieder vergisst, die Fix- und Wendepunkte im Leben eines Menschen. Mein Vater sagte: „Die Engländer haben einen Sinn für Trübsinn. Die Iren haben ein Gespür für Magie."

Er hat es nur einmal so dahin geplappert und wahrscheinlich sofort danach selbst wieder vergessen. Wahrscheinlich hat er es sogar gar nicht ernst gemeint, aber es brachte in mir eine Saite zum Klingen.

Ich will nicht in ein Land, wo man den Trübsinn zelebriert. Trübsinn kenne ich zur Genüge. Ich will in ein Land, dem positives Denken sozusagen in Mark und Bein übergegangen ist, wo man Fröhlichkeit schon im Grundwasser nachweisen kann, dessen Geschichte einen Triumph darstellt und keine Aneinanderreihung von Bestialitäten. Ich will ein Land besuchen, das ein Gegenbeispiel zu der These vorzuweisen hat, dass die Menschheit, ihre Entwicklung und Zivilisation in Wahrheit eine Plage darstellen. Ich spüre, dass ich eine solche Erfahrung brauche, um nicht vollends dem Ekel gegen alles und jeden zu verfallen.

Wenn man 16 ist und keinen Idealismus besitzt, ist man eigentlich schon tot. Ich weigere mich, mir die letzten Reste meiner Hoffnung auf ein positives Menschenbild in den langweiligen, wohlbekannten, bis zum Irrsinn ausgetrampelten Straßen meiner Heimatstadt zerstören lassen. Mürrische Gesichter, wohin man blickt. Leere Seelen, abgestumpfte Ansichten, verschlissene Freundschaften. Hier passiert einfach nie etwas.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top