Prolog


Wer hätte gedacht, dass es jemals wieder sonnige Juni-Tage geben würde? Wer hätte gedacht, dass eines Tages ein Spaziergang über und durch die Trümmer der Stadt möglich sein würde, ohne sich in akute Lebensgefahr zu begeben? Wer hätte gedacht, dass London am Ende dieses Krieges noch stehen würde, dass seine Bürger aushalten und hier bleiben würden, dass sie überleben würden? Es ist ihnen wieder möglich, hinaus auf die Straße zu treten, draußen zu stehen, sich zu unterhalten, ohne einen Luftangriff befürchten, ohne um das Leben eines Sohnes oder des Ehemannes irgendwo auf dem Kontinent fürchten zu müssen, ohne schlechte Nachrichten Tag für Tag. Wer hätte gedacht, dass nach all diesen Jahren der Angst ich hier stehen und leben kann? Leben werde.

Die Lebensmittel sind rationiert, die Gebäude und Straßen sind zerstört und viele unserer Lieben sind getötet worden. Wir lösen uns nur langsam aus der Schockstarre dieses Krieges. Wir bewegen uns langsam und vorsichtig. Wir schauen uns um und trauen unseren Augen kaum. So als wäre endlich eine lange, finstere und schreckliche Nacht zu Ende. Als wäre der Sturm fort gezogen. Als löse sich der Alptraum langsam auf.

Und wir taumeln zwischen Rationalität und Wahnsinn, können nicht begreifen, wie uns geschieht und was geschehen ist. Funktionieren wir noch? Funktionieren wir wieder? Und die Welt? Ist sie stehen geblieben? Oder setzt sie sich jetzt gerade wieder in Bewegung?

Wir taumeln zwischen Unglauben und Schrecken. Die Lawine aus Erinnerungen, aus verdrängten Ängsten, Schuldgefühlen und Trauer löst sich irgendwo in der Ferne oder der Tiefe unserer Herzen. Ein Ort, den wir lange nicht mehr aufgesucht haben. Ein schwacher, wankelmütiger Ort, eingehüllt in den Nebel der Lethargie. Der Wall aus purem Trotz, der uns am Leben gehalten hat, bröckelt, schmilzt, regnet auf uns herab, wäscht ihn hinfort. Den Nebel.

Was wir nun sehen, ist die Zerstörung, das ganze Ausmaß dieses Krieges, eines Wahnsinns, dem so oft so viele Menschen verfallen. Das bleibt übrig von all dem Größenwahn, der Wut, dem Hass und dem falschen Stolz: Zerstörung, Trauer und Tod.

Die Lethargie hat uns blind gemacht. Die Lethargie hat uns stark gemacht. Schwindet die Blindheit, schwindet auch die Stärke. Wir stehen da – allein und hilflos wie Kinder. Am Rande des Untergangs. Er ist abgewendet, heißt es. Die Trümmer bezeugen etwas anderes.

Wie viel ist ein Leben wert nach dem Krieg?

Die Menschen schlafwandeln durch die Straßen, versuchen einen Alltag zu simulieren. Doch in Wirklichkeit sind sie überwältigt von dem ungewohnten Gefühl, das der Geist des Friedens in all unseren Herzen aufkeimen lässt. Vielleicht ist es Erleichterung. Vielleicht ist es die Einsicht, dass es das alles nicht wert gewesen ist. Wer ein Familienmitglied verloren hat, vermisst oder selbst verletzt oder verkrüppelt in einem Pflegeheim oder einem Lazarett liegt, empfindet eine besondere Form der Hilflosigkeit, ein ambivalentes Gefühl zwischen Beruhigung und Verzweiflung. Das Grauen endet nicht abrupt, es wirkt nach. Manchmal endet es nie. Manche Menschen verfolgt es ein Leben lang in Träumen, in Zeiten der Einsamkeit. Und es kann jeder Zeit wieder angreifen. Sie tragen den Krieg in sich, als hätte er sich in ihre Seelen hineingefressen und dort eingenistet, um zu brüten. In unseren Erinnerungen lebt er weiter. Wir werden niemals vergessen können.

Das Ende eines so großen und gewaltigen Krieges muss ein neues Zeitalter einläuten, so sagen die Leute, deren unbeugsame Hoffnung man bewundern und beneiden muss. Die Freiheit habe gesiegt, die Gerechtigkeit und die Demokratie. Ich frage, ob es das wert gewesen ist, dieses Spiel von Aggression und Rache, von Macht und Unterdrückung, von Lüge und blindem Vertrauen. Ich frage, ob Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie nicht immer die ersten Opfer eines Krieges sind.

Sollte ich je einem General begegnen oder einem anderen Kriegstreiber, der den Wert eines Menschenlebens kalkuliert wie eine Ware, so werde ich ihn fragen, wie viele Trümmer er nach Kriegsende beseitigt hat, wie viele Versehrte er pflegt und an wie vielen Gräbern er steht, um aufrichtig zu trauern.

Ich frage die Deutschen, ob es das wert war. Ich frage sie offen, wie sie nur glauben konnten, dass dieser Krieg irgendetwas wert gewesen sein könnte.

Jetzt hat sich der Staub abgesetzt, der Rauch ist verschwunden. Das ganze Ausmaß der Katastrophe ist nun sichtbar. Einem Volk, das gerade dabei war, erleichtert aufzuatmen, stockt der Atem. Die Sonne scheint auf dieses postapokalyptische Panorama von London. Sie scheint über der ganzen Insel. Sie scheint auf den Kontinent, bringt Licht in die Löcher und Ecken, über die der Krieg seine Schatten gelegt hatte, hält uns Bilder unfassbarer Grausamkeit vor Augen und wir alle wissen: All das ist zu unseren Lebzeiten passiert und wir konnten es nicht verhindern. Wir konnten es nur bekämpfen und bestrafen. Es ist dennoch nur ein schwacher Trost für die Kriegerwitwe, dass ihr Mann für die siegreiche Seite gefallen ist und es ist ein schwacher Trost für mich, der ich gleich zwei geliebte Menschen verlor.

Wer hätte gedacht, dass ein sonniger Juni-Tag in Friedenszeiten je solch ein zynisches Szenario beleuchten würde? Sonnige Juni-Tage haben für immer ihre Unschuld verloren.

Ich traf Victoria Ogilvie am Aushang für vermisste Personen vor dem Büro des Tracing Department des Roten Kreuzes am St. James's Palace. Warum ich hergekommen bin, kann ich rational nicht erklären. Genauso wenig konnte es Victoria. Sie wusste gesichert, dass ihr Mann tot war, so wie ich wusste, dass Siobhan und Benjamin es waren. Dennoch führte das Schicksal oder das seltsam schwere Gefühl dieses sonnigen Juni-Tages uns beide zur gleichen Zeit hier her.

Für mich war es nur einen Katzensprung, denn ich wohnte seit einigen Monaten in einer Notunterkunft ganz in der Nähe. Um ehrlich zu sein, kam ich beinahe jeden zweiten Tag hierher. Es war also in Wirklichkeit nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ich Victoria begegnet wäre. Denn sie kam selbst aus reiner Gewohnheit beinahe täglich, um sich die Fotos und Plakate anzusehen und um vielleicht eine Erfolgsgeschichte zu hören, von einer Familie, die sich wiedergefunden hatte oder einer für tot gehaltenen Person, die wieder irgendwo aufgetaucht war.

Oh, es gab diese Geschichten. Man las sie in den Zeitungen und an den Aushängen. Die Menschen wussten darüber Bescheid und verbreiteten sie. Es war immer eine englische Tugend gewesen, durchzuhalten und weder die Hoffnung, noch die Haltung zu verlieren. Niemals. Egal wie unrealistisch es war.

Meine persönliche Hoffnung hingegen war mehr als unrealistisch. Sie war unmöglich, denn ich hatte die Leichen von Siobhan und Benjamin selbst aus den Trümmern geborgen in jener Nacht vor nicht ganz einem Jahr. Ich kam im Grunde auch nicht hierher, um mir falsche Hoffnung zu machen, sondern um an der Hoffnung anderer teilzuhaben. Wer nichts mehr hat, der eignet sich einen parasitären Lebensstil an...

Auch Victoria Ogilvie zehrte von der Hoffnung anderer Menschen, denn man hatte ihr mit staatsmännischer Anteilnahme versichert, ihr Mann Sebastian hätte eindeutig identifiziert werden können und irgendwo in Frankreich gäbe es einen Grabstein, der seinen Namen trüge. Das, so erklärte man ihr, sei immerhin mehr, als vielen anderen Soldaten zuteil geworden war. Ein zynischer, schwacher Trost, fand Victoria, wie sie mir an jenem Tag anvertraute.

Ich weiß nicht, wie, woran und warum sie mich erkannt hatte, doch sie war es, die mich ansprach, obwohl ich sie bereits von Weitem erkannt hatte. Ich wagte es nicht, ihr zuerst ins Gesicht zu blickten, immerhin konnte ich nicht sicher sein, ob der Groll, der zwischen den Geschwister bestanden hatte, nicht über den Tod Siobhans fortdauerte. Doch es kam ganz anders.

Der große Krieg, die schreckliche Nähe und ständige Gefahr des Todes, die allgegenwärtige Angst, der Terror und die einschüchternde Dunkelheit ließen die kindischen Streitigkeiten verblassen, die Teil einer anderen Zeit, eines anderen Jahrhunderts gewesen waren, als das Leben leicht und der Frieden langweilig erschienen war, als Streitigkeiten als willkommene Abwechslung vom allzu harmonischen Familienleben betrachtet wurden, als die Familie eine Welt für sich allein war und man sich einem Volk nur dann zugehörig fühlte, wenn es um einen politischen oder wirtschaftlichen Vorteil ging. Dies war die Victoria des neuen Zeitalters, gealtert, gebeugt und abgemagert. Einsam, verlassen und... sanftmütig.

„Du bist Oliver, nicht? Siobhans Junge?", rief sie mir zu, als ich mich gerade abwenden wollte. Ihre Stimme klang trocken und brüchig. In ihrer Jungend soll sie eine gute Sängerin gewesen sein. Davon war jetzt nichts mehr zu hören. Aber sie nannte mich „Siobhans Junge" und machte das nicht all die Ressentiments wett?

In den Augen der Familie war ich zu keiner Zeit jemals „Siobhans Junge" gewesen. Ich war weniger als ein Bastard, weniger als ein Findelkind und doch kannte sie meinen Namen. Und sie nannte meinen Namen, rief nach mir und sprach mich an. Vielleicht war es Siobhans vollständiger Ablehnung ihrer Familie und vor allem Victoria gegenüber geschuldet, dass ich ausschließlich Schlechtes von letzterer dachte und vielleicht war es an der Zeit, mich von den Einflüssen meiner manchmal sehr radikal denkenden Ziehmutter zu lösen, um meine eigenen Erfahrung mit „der Familie" zu machen. Es war wahrscheinlich meine letzte Möglichkeit, denn Victoria war die letzte, die einzige, die überlebt hatte.

Victoria lud mich zu sich nach Hause ein. Ihr vornehmes Stadthaus stand von den Bombenangriffen unversehrt wie durch ein Wunder. Doch es war dunkel, kalt und leer. Mir wurde schnell klar, wie tief sich hier Angst und Einsamkeit eingenistet hatten. Sie lauerten zwischen den antiken Möbeln, hinter den wertvollen Gemälden, in der Bibliothek, der verwaisten Küche und vor allem im brachliegenden Ehebett.

Victoria zeigte mir das ganze Haus vom Dachboden bis zum Keller, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass Siobhan kaum jemals von ihrem Leben hier gesprochen hatte.

„Es tut gut, mit jemandem zu sprechen", sagte Victoria im Plauderton, der ihre Unsicherheit nicht überdecken konnte, „Die Dienstboten sind alle fort. Sie müssen sich natürlich um ihre eigenen Familien kümmern und viele haben die Stadt verlassen. Mir ist kein Freund und kein Verwandter geblieben. London liegt in Schutt und Asche, nur mein Haus steht noch. Dafür habe ich alles andere verloren.".

Victoria weinte nicht, als sie das sagte. Man merkte ihrer Stimme nicht die kleinste Rührung an. Vielleicht hatte sie alle Emotion, zu der sie je fähig gewesen war, aufgebraucht. Vielleicht hielt sie sie aber auch in ihrem Inneren zurück, wie es ebenfalls alte, vornehme, englische Tradition war. Vielleicht war es das, was ihresgleichen unter „Haltung" verstand.

„Ich schlafe in der Bibliothek", erklärte Victoria weiter, „Oben im Schlafzimmer war es während der Bombardements zu laut und zu gefährlich. Von der Bibliothek aus kommt man schneller nach draußen. Aber das ist jetzt vermutlich nicht mehr notwendig..."

„Nein", sagte ich und kopierte ihren sachlichen Tonfall, so gut ich konnte. Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich umzusehen. Ich war noch nie hier gewesen, hatte das alles noch nie gesehen und davon gehört hatte ich nur in Siobhans Schmähreden. Ich wusste aber dennoch, dass der Grund, warum Victoria nicht längst wieder in ihrem Bett schlief, ein anderer sein musste. Zu groß, zu kalt, zu leer, zu einsam. Zu viel Angst, zu viel gestorbene Hoffnung zwischen den Decken und Kissen.

„Wenn du möchtest, kann ich dir Siobhans altes Zimmer herrichten", sagte Victoria.

Ich schwieg.

„Du kannst es beziehen. Es ist als Zimmer für ein Kind des Hauses konzipiert."

Nach einer Weile sagte ich: „Ich wohne in einer Notunterkunft." Es war mehr als viele Menschen in diesen Tagen von sich behaupten konnten.

„Ich biete dir an, hier zu wohnen, wenn du es möchtest", ich merkte, wie sie sich beim nächsten Satz überwinden musste: „Ich meine das nicht nur übergangsweise."

Die anklagende und aggressive Art Siobhans, die Spuren in meinem Charakter hinterlassen hatte, ließ mich folgendes denken: „Und als was? Als dein Dienstbote? Als Beruhigung für dein schlechtes Gewissen, dass du in einer Stadt voller Obdachloser allein in einem Herrenhaus wohnst?"

Ich sagte: „Ich weiß nicht...".

Und nun stehe ich hier in Mitten einer Bibliothek aus Akten, Briefen, Tagebüchern und Memoiren.

Victoria hat es mir zur Aufgabe gemacht, dies alles in Ordnung zu bringen. So hat sie sich ausgedrückt. Ich solle es in Ordnung bringen.

Sie ließ mich Siobhans und Benjamins Unterlagen, die kläglichen und lückenhaften Überreste zweier Leben, die ich aus dem Keller und den Trümmern des zerstörten Hauses in Bethnal Green retten konnte, herbei schaffen. Sie sollten dazu gehören und dort aufbewahrt werden, wo auch die Akten der übrigen Familienmitglieder gesammelt wurden. Vielleicht war es nur ein Zugeständnis Victorias, eine großzügige Geste, um mich an sie zu binden, doch ich willigte ein, um selbst einen guten Willen zu beweisen.

Im ersten Augenblick dachte ich an Siobhan, die sagte: „Victoria tut nichts ohne Hintergedanken. Wenn sie dir etwas Gutes tut, dann nur, weil sie etwas von dir erwartet, das zehnmal so gütig ist, wie das, was sie dir getan hat." Doch inzwischen weiß ich, was Victoria gemeint hat. Das Aufräumen und Sortieren der Dokumente bildete nur den ersten Teil meiner Aufgabe. „Bring es in Ordnung" bedeutete „Werte es aus". Es bedeutete, dass sie wollte, dass die Geschichte erzählt würde, dass sie nicht verloren ging, wenn Victoria sterben würde und niemanden hinterließ. Es bedeutete: „Du sollst der Verwalter dieser Geschichte und dieser Familie sein!"

„Kümmere dich um den Haufen Schutt und Asche! Setz die Trümmer wieder zusammen! Bau es wieder auf!"

Und so liegt sie vor mir wie ein Haufen Scherben, wie ein Puzzle. Ein großes Rätsel. Doch was einmal zerbrochen ist, kann nicht wieder zusammengesetzt werden, ohne dass man sieht, wo die Bruchstücke zusammengekittet wurden. Ihre Zerstörung ist ein Teil der Geschichte selbst. Die Brüche zeichnen sie aus. Ohne sie wäre die Geschichte eine andere. Es handelt sich nicht um eine gradlinige, einfache Abfolge von Ereignissen, die ich zusammentragen soll, sondern um einen Knoten, der entwirrt werden muss, Fäden, die zerrissen sind, Fäden, die neu verwoben wurden, Muster, die verloren gingen, verblassten.

Die Geschichte liegt also in meiner Hand und es macht mich zum Teil dieser Dynastie. Es macht mich zu „Siobhans Jungen", einem legitimen Mitglied der Familie Cartwright, deren Namen ich dennoch niemals tragen werde.

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