Kapitel 2
Die Beziehung zwischen Mungo und Spotted Elk war trotz aller Meinungsübereinstimmungen kompliziert, was vor allem wohl daran lag, dass Spotted Elk Mungo grundsätzlich nicht mochte. Das hatte weniger etwas mit seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft zu tun, sondern mit einer alten Geschichte, an der Mungo seinen Anteil an Schuld nicht tragen wollte.
Spotted Elk war jedoch Realist genug, um seine negativen Gefühle für sich zu behalten, Mungo zu tolerieren und seine Fähigkeiten zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen. Spotted Elk regierte nicht wie ein König, aber auf sein Wort nicht zu hören wäre dennoch töricht gewesen. Nicht, weil man Strafe zu befürchten hatte, sondern weil Spotted Elk in den allermeisten Fällen schlicht Recht behielt, mit dem, was er vorschlug. Das konnte nerven und das entlockte den Häuptling nicht selten ein mildes, aber verschmitztes Lächeln.
Mungo schaute zumeist weg, wenn sich dieses Lächeln zeigte, denn es schien immer irgendwie auf ihn abzuzielen und ihm sagen zu wollen: „Du hättest sie retten können und das weißt du auch!" Das war nicht als Vorwurf gemeint. Spotted Elk machte nie Vorwürfe, weil er wusste, dass sie zu nichts führten. Er wollte lediglich erreichen, dass Mungo sich mit einer Tatsache auseinandersetzte, die ihn auch nach langen, ereignisreichen Jahren noch belastete. Mungo hingehen wollte sie vergessen, vergraben und nie wieder daran erinnert werden.
Andererseits herrschte zwischen den beiden Männern die kühle Atmosphäre des gegenseitigen Respekts, der nicht mit Freundschaft verwechselt werden durfte. Spotted Elk war fast 25 Jahre älter als Mungo, trotzdem beklagte er sich nie über Schmerzen oder die Unzulänglichkeiten seines Körpers, die mit dem Alter einsetzten. Manchmal hatte Mungo den Eindruck, dass seine Gebrechlichkeit Spotted Elk Anlass zur Enttäuschung gab. Warum sonst hielt er ihm immer Geschichten aus der Vergangenheit vor, als Mungo noch ein junger, voll belastbarer Mann gewesen war? Dahin konnte er nicht zurück, das musste ihm doch bewusst sein!
Spotted Elk zu kritisieren war jedoch so gut wie unmöglich. Alles, was er sagte oder tat, war sorgfältig abgewogen worden und außerdem gehörte es sich nicht, die Aussagen eines alten Mannes in Frage zu stellen. Immerhin war Spotted Elk ein Held, dessen Namen jedes Kind kannte.
Nachdem sie vom Tode Sitting Bulls erfahren hatten, hatte Spotted Elk entschieden, dass er seine Gruppe in Sicherheit bringen musste und zu Red Cloud ins Reservat ziehen würde, auch wenn er Red Cloud, den Anführer der Oglala-Lakota, verachtete, da er auf Verträge und Vereinbarungen mit den Weißen eingegangen war.
„Alle Menschen haben zwei Gesichter", sagte Spotted Elk, als Mungo an jenem Abend seine Lagerstatt betrat. Er wirkte angeschlagen, kränklich. Seine Stimme klang schwach und rau.
„Mindestens", antwortete Mungo und setzte sich.
Da war es, das Lächeln! Mungo suchte nach einem Vorwand um wegzusehen.
„Du kennst die Weißen und du kennst die Sioux. Deshalb ist dein Rat mir wichtig."
Wenn Spotted Elk das sagte, dann meinte er es auch so. Er sagte solche Dinge nicht, um jemandem zu schmeicheln. Und wenn Spotted Elk jemanden um eine Einschätzung bat, dann tat man gut daran, sich wohl zu überlegen, was man sagte. Er wollte die Wahrheit, keine Beschönigungen und keine Wunschvorstellungen.
„Ich bin nie gut mit den Weißen ausgekommen", sagte Mungo.
„Die kommen mit sich selbst auch kaum gut aus, wie mir scheint", meinte Spotted Elk bestimmt nicht ohne Hintergedanken, „Und ich sehe, dass nun auch unter dem roten Volk Uneinigkeit einkehrt."
Diese Einschätzung verwunderte Mungo, denn seiner Ansicht nach hielten die Stämme derzeit fester zusammen denn je. Die Geistertanzbewegung schweißte sie zusammen, gab ihnen etwas, mit dem sie sich identifizieren konnten als ein großes Volk, das über seine internen, kleinen Streitigkeiten hinauswachsen musste.
„Die Geistertanzbewegung droht die Sioux zu spalten", sagte Spotted Elk und zerstörte damit Mungos sorgfältig überlegte Einschätzung der Lage.
„Aber ich dachte...", begann Mungo.
„Ich bin der letzte, der übrig ist und ich bin alt. Ich kann nicht mehr in den Krieg ziehen." Spotted Elk hustete, als wollte er seine Aussage damit bekräftigen.
Oh doch, das kann er, dachte Mungo. Er kann es noch, aber er will nicht! Das jedoch war eine Wunschvorstellung und deshalb sprach Mungo sie nicht aus
Spotted Elk wusste, was Mungo dachte, brachte ihn jedoch nicht in die Verlegenheit es aussprechen zu müssen: „Und ich will es auch nicht mehr", sagte er und klang plötzlich sehr erschöpft, „Ein Glaube kann heilen oder zerstören, genau wie ein Mensch schöpfen oder vernichten kann."
Mungo nickte, ohne etwas zu sagen.
„Woran glauben die Weißen?", fragte Spotted Elk. Es war eine rhetorische Frage, die keiner Antwort bedurfte, denn natürlich wusste Spotted Elk, woran die Weißen eigentlich glauben sollten. Die Missionare, die immer wieder in das Land der Sioux entsandt wurden, verkündeten ihre zynische Botschaft, während Skalpjäger für jeden toten Indianer eine Prämie ausgezahlt bekamen. „Ich meine, woran glauben sie wirklich? Ihre Handlungen sind nicht vereinbar mit ihrer Religion und ich fürchte, dass sich einige unserer Krieger zu dieser Art der Religionsausübung hingezogen fühlen könnten."
„Und du glaubst jetzt, ich könnte dir Einzelheiten über das Selbstverständnis der Weißen erklären?", sagte Mungo mit einem Mal barsch. Die Eigenart, dass die Sioux immer um den heißen Brei herumredeten, machte ihn noch immer nervös.
„Ich möchte, dass du mir erklärst, wieso die Weißen es nicht hinnehmen können, wenn sich ein neuer Glaube entwickelt. Steht nicht die Religionsfreiheit in der Verfassung?"
„Oh, es ist nicht der Glaube, den sie bekämpfen", sagte Mungo und Spotted Elk nickte verstehend, „Es ist die Hoffnung, die sie als Gefahr ansehen. Wenn ein unterdrücktes Volk zu hoffen anfängt, wird es irgendwann unbequem werden."
„In einem Verhältnis der Unterdrückung wird es niemals Frieden geben", sagte Spotted Elk, „Sie sagen uns, dass sie unsere Interessen verstehen und umsetzen wollen, aber stattdessen überwachen sie uns in dem schlechten Land, in das sie uns zusammenpferchen."
„Sie haben Angst vor Überfällen. Die Sioux sind ein kriegerisches Volk", sagte Mungo und erntete einen abschätzigen Blick.
„Die Sioux sind nicht kriegerisch. Sie sind selbstbewusst", warf Spotted Elk ein, „Wenn sie ihr Selbstbewusstsein verlieren, verlieren sie ihre Identität. Ich sehe, dass viele Sioux sich den Weißen zuwenden und ihnen die Hand reichen wollen. Und ich sehe viele, die sich abwenden und den Geistertanz tanzen. Diese Leute wollen den Krieg und sie vergiften sich gegenseitig die Gedanken. Was ist zu tun, frage ich? Den Weißen die Hand zu reichen, bedeutet die eigene Identität aufzugeben. Einen Krieg zu beginnen, bedeutet die Existenz unseres Volkes zu verlieren. Ich sehe keine Möglichkeit, einen solchen Krieg zu gewinnen."
„Wir haben ihn schon einmal gewonnen", erinnerte Mungo.
„Wir haben eine Schlacht gewonnen, Mungo, nicht den Krieg. Die jungen Männer, die mit uns leben und diejenigen, die in den letzten Tagen von Sitting Bulls Gruppe zu uns gekommen sind, kennen nichts anderes als Krieg, Tod und Leid. Sie sind verwirrt, wenn sie Geschichten darüber hören, dass sie stolz auf ihr Erbe sein können. Und natürlich hört es sich attraktiv an, wenn man ihnen verspricht, dass sie wieder stark sein werden, dass sie es selbst erleben werden. Sie brennen darauf, anzugreifen. Sie wollen, dass ich sie anführe, aber ich kann es nicht tun. Ich will in Ruhe mein Leben beenden und wenn ich dafür in ein Reservat gehen muss, so werde ich es tun."
„Du willst also den Geistertanz verbieten?", fragte Mungo.
„So ein Vorschlag kann nur von einem Weißen kommen!", kam es von Spotted Elk ärgerlich und Mungo fühlte sich tatsächlich angegriffen. „Entschuldige", sagte der Häuptling sofort, „Siehst du, es passiert sogar mir. Es ist sehr viel Zorn in der Welt."
„Wie stehst du also zu der Sache?", wollte Mungo endlich wissen.
„Ich kann den Menschen ihre Gedanken nicht verbieten. Ich kann nur an ihre Vernunft appellieren und ich hielte es für besser, wenn die Sioux eine Einheit bilden und sich nicht so zerstreiten würden, dass sie sich selbst zerstören. Sieh dir die Sioux an! Die meisten von ihnen sind Frauen, die ihre Männer verloren haben. Dann gibt es noch Männer, die sich verstecken müssen, die sich seit Kindesbeinen an auf der Flucht befinden. Sie tanzen den Geistertanz bis zur Besinnungslosigkeit, weil es das einzige ist, das ihnen Hoffnung gibt", Spotted Elk hustete erneut und es schien Mungo, dass er mit jedem Atemzug größere Probleme bekam.
„Was willst du also tun? Ich hoffe, dir ist klar, dass uns die Zeit davon läuft. Sie haben Sitting Bull getötet und ich bin sicher, dass sie auch dich gerne unter Kontrolle bringen würden", sagte Mungo, „Ich bin überzeugt, dass sie nicht mehr lange auf sich warten lassen."
„Ich weiß", sagte Spotted Elk, „Sie werden mich vermutlich gefangen nehmen. Die Weißen lassen niemanden laufen, der sie einmal vorgeführt hat. Sie kennen keine Gnade mit ihren Feinden, selbst wenn sie alt und schwach geworden sind. Es ist zu spät, um Ruhe in die Gemeinschaft zu bringen. Es ist zu spät, um die kommenden Ereignisse noch zu beeinflussen. Was geschehen soll, wird geschehen. Es ist das wahre Zeichen von Schwäche. Deshalb ziehen wir ins Reservat, um aller Welt zu beweisen, dass die Minneconjou klein bei geben."
Fast hatte Mungo Mitleid mit dem alten Mann, aber im Grunde endeten alles Leben auf tragische Weise. Mungo sah Spotted Elk an, dass er seinen Tod kommen sah. Sie hatten Sitting Bull getötet, also würden sie ihn nicht verschonen. Es hatte ihn unendliche Überwindung gekostet, seine Gruppe anzuweisen zu Red Cloud ins Reservat zu ziehen. Aber genau das war ihr Ziel, wenngleich es genug Minneconjou gab, die sich wünschten, niemals dort anzukommen.
„Ich weiß, dass du nicht viel vom Geistertanz hältst", sagte Spotted Elk plötzlich, „Ist es, weil du die Hoffnung verloren hast, oder weil du etwas siehst, das den Sioux verborgen ist?"
Mungo wusste es nicht. Er sagte: „Ein bisschen was von beidem, denke ich."
„Was siehst du, Mungo?"
„Ich sehe, dass der Geistertanz die Sioux ins Verderben schicken kann. Ich sehe, dass er keine Grundlage hat und lediglich aus Verzweiflung Hass erwachsen lässt. Es ist ein Aberglaube, das ist meine Meinung."
Spotted Elk nickte: „Aber alles ist besser als Verzweiflung, sogar Hass."
Mungo überlegte lange und sagte schließlich: „Da hast du vielleicht Recht. Aber es ist eine egoistische Sichtweise."
„Darüber weiß du am besten Bescheid, nicht wahr?", und da war wieder das Lächeln, traurig und herausfordernd. Keuchend kam Spotted Elk schließlich zu einem Schluss, den er vermutlich schon vor dem Gespräch mit Mungo gefasst hatte: „Ich werde ihnen sagen, sie sollen sich nicht widersetzen. Mehr können wir derzeit nicht tun, um unser Leben zu retten."
Danach legte sich Spotted Elk wieder auf sein Lager und wartete stoisch darauf, dass seine Krankheit von alleine heilte. Mungo schüttelte langsam den Kopf.
Gespräche mit Spotted Elk fanden nie auf Augenhöhe statt, auch wenn der Häuptling es gerne so arrangiert hätte. Er hatte die Art, die Führung der Unterhaltung sofort an sich zu reißen. Seine Aussagen waren dabei so präzise, dass kaum ein Gegenargument zündete. Es lag daran, dass Spotted Elk erst nachdachte und dann sprach. Wenn er eine Frage stellte, dann kannte er die Antwort bereits. Spotted Elk verließ sich nicht auf die Meinung anderer, auch wenn er vorgab, sie sich anzuhören. In Gesprächen suchte er Bestätigung oder die Möglichkeit seine bereits bestehenden Ansichten an denen der Gegenseite zu messen.
Jetzt aber war er unsicher, fiel Mungo auf, als er das provisorisch aufgebaute Zelt des Häuptling verließ. Es gibt zwei Seiten und er kann sich für keine der beiden entscheiden. Und auch gegen keine. Er war nervös gewesen, hatte ihn sogar beleidigt. War es ein Zeichen der Angst oder eines der Schwäche?
Mungo konnte sich Spotted Elk nicht als schwach vorstellen. Er war der Stolzeste von allen gewesen, der Weiseste und der Geachtetste. Er war niemals blindlings in einen Konflikt geritten, sondern alle seine Gefechte geplant – egal, ob auf dem Schlachtfeld oder bei einer Diskussion. Ihn jetzt verunsichert zu sehen, tat weh.
Hinzu kam, dass ihm neben seinem Alter nun auch noch eine akute Krankheit zusetzte. Mungo fürchtete, dass es etwas Ernstes war, das ihn über kurz oder lang umbringen konnte. Es hörte sich an wie eine Lungenentzündung, konnte aber auch etwas Schlimmeres sein. Die nächsten Tage würden zeigen, ob Spotted Elk in der Lage sein würde, mit den Soldaten zu verhandeln. Aber es sah eher so aus, als müsste er den Rest des Weges ins Reservat in einem Wagen gefahren werden. Er würde sich nicht einmal auf einem Pferd halten können, wie sollte er da mit den Soldaten verhandeln, die ohne Zweifel kommen würden?
Spotted Elk strahlte das Bewusstsein aus, dass dieser Winter den Anfang vom Ende darstellte. Etwas würde passieren und danach, wäre es vorbei. Der letzte Rest des so legendären Stolzes würde zerstört werden, da war sich Mungo sicher. Stolze Menschen konnte man nicht wie Vieh behandeln, einpferchen und entrechten. Doch genau das war es, dass die Weißen vorhatten und sie hatten es beinahe geschafft.
Als Mungo sich von Spotted Elk verabschiedet hatte, klang es bereits wie ein Abschied für immer, auch wenn Mungo es nicht so beabsichtigt hatte: „Du und ich, wir beide werden es nicht sein, die das Problem lösen, Si Tanka. Wir sind schon längst der Willkür ausgeliefert. Bleibt zu hoffen, dass die Vernunft ihren Weg findet."
„Irgendwann wird sie das", hatte Spotted Elk gesagt, „Später sind die Menschen immer schlauer. Aber Geschichte wird von Siegern geschrieben, Mungo. Uns bleibt nur zu hoffen, dass sie uns nicht vergessen werden, wenn sie uns schon vernichten."
Der Dezember blieb schneereich und unwirtlich. Das Feuerholz für die nächtlichen Lager musste rationiert werden. Der Zug der Minneconjou kam nur langsam voran. Die Frauen, Männer und Kinder wickelten sich in Decken und Felle ein, während sie auf den völlig überanstrengten Pferden saßen. Die Frauen hielten ihre Kinder warm, die Männer hielten sich an ihren Waffen fest. Spotted Elk kämpfte um jeden Atemzug.
Die Ruhe vor einem Sturm hätte nicht trügerischer sein können. Doch etwas lag in der Luft. Die Rachegelüste Einzelner schien greifbar zu werden und über dem Zug zu schweben. Sitting Bull hinzurichten war ein Sakrileg, eine Provokation, eine Kriegserklärung.
Mungo jedoch erkannte, dass es nicht die Kriegserklärung war, sondern den Anfang vom Ende einer ganzen Serie von Kriegshandlungen darstellte. Die Union wollte sie ein für alle Mal loswerden. Sie hatten Sitting Bull getötet, weil sie glaubten, er stelle eine Gefahr dar, er würde seine Anhänger gegen die Regierung aufwiegeln. Schließlich hatte der alte Lakota bereits bewiesen, was er von den weißen Leuten hielt.
Genau wie Spotted Elk, der in der Reihe der berühmten Indianerhäuptlinge an dritter Stelle stand.
Und schließlich kamen die Soldaten. Nur eine kleine Delegation ritt hinunter in das Tal, in dem die Sioux für die Nacht lagerten.
Nur wenige Tage nachdem die Nachricht vom Tod Sitting Bulls die Sioux erreicht hatte, erklärte man ihnen, dass sie alle ihre Waffen abgeben müssten und schürte so das Misstrauen derer, die ohnehin schon keine Freunde der Weißen waren.
„Sie wollen uns zurück ins Reservat schicken!", dieses Gerücht machte schnell die Runde und provozierte Zorn und Unbehagen. Nur widerwillig gaben sie ihre Waffen ab.
Es war eine Sache, Spotted Elk nach Pine Ridge zu folgen, aber es war eine andere Sache, von den Soldaten dort hin gebracht zu werden.
Doch sie gaben ihre Waffen ab und das beruhigte sowohl Mungo als auch Spotted Elk, der die Aktion nicht persönlich überwachen konnte, da er inzwischen so geschwächt war, dass er nicht mehr aufrecht sitzen konnte. Das Leben im Reservat war zwar eine einzige Demütigung, doch immerhin war es ein Leben und nicht der Tod. Sie waren schon einmal im Cheyenne-River-Reservat gewesen, bevor sie wieder fortgezogen waren, wie es ihrer Natur entsprach. Es war eng und karg dort gewesen, aber das war es hier auch.
Schließlich sickerte aber durch, dass diesmal es nicht zurück ins Reservat gehen sollte, sondern zu einem Bahnhof, der sie in ein Militärlager bei Omaha bringen sollte. Wer nun noch Waffen besaß, scheute sich, sie abzugeben und reagierte stur auf die herablassende Art der Soldaten.
Ein Militärlager. Sollte nicht Sitting Bull auch in ein solches gebracht werden, als man ihn tötete? Waren sie jetzt alle Gefangene?
Von der Kavallerie eskortiert zu einem Bahnhof zu ziehen, alles zurückzulassen, um dann als Gefangene ums nackte Überleben zu betteln, war keine Option. Nicht einmal Spotted Elk konnte das von seinen Anhängern verlangen. Die Sioux kooperierten nicht.
Colonel James Forsyth war höchstpersönlich erschienen und beaufsichtigte die Aktion. Als er sah, wie wenige Waffen die Sioux freiwillig abgegeben hatten, wurde er ärgerlich: „Das kann nicht alles sein! Habt ihr ihnen gesagt, dass nur dann Frieden einkehren kann, wenn sie ihre Waffen abgeben? Habt ihr ihnen gesagt, dass es nicht toleriert wird, wenn auch nur ein Messer in ihrem Besitz bleibt?"
Das hatten seine Soldaten alles gesagt und alle Sioux hatten es gehört. Aber wenn man jahrelang nur Lügen zu hören bekommt, hört man irgendwann auf, etwas zu glauben und so waren die Worte der Soldaten mit Unwillen aufgenommen worden.
„Und was ist mit Ihnen?", fragte ein Soldat unfreundlich, als er Mungo in den Reihen der Indianer entdeckte. Er war bekannt bei den Weißen der Gegend, weil er häufig für Übersetzungsarbeiten hinzugezogen wurde. Beliebt war er jedoch nicht. Belächelt vielleicht. Aber diese Angelegenheit war zu ernst, als dass man Witze über ihn machen wollte. Niemand wusste, wo Mungo herkam und wieso es ihn zu den Sioux verschlagen hatte – außer die Sioux selbst. Auch kannte niemand seinen wirklichen Namen und in den Forts vermutete man, dass es sich um einen ehemaligen Verbrecher handeln musste, der auf der Flucht bei den Indianern Obdach gesucht hatte. Er war potenzielle gefährlich und mit ebenso wenig Respekt zu behandeln wie die restlichen Rothäute.
Nun aber glaubte man, dass es ungerecht war, einen Weißen wie einen Indianer zu behandeln. Mungo bemerkte diesen Sinneswandel zu spät.
„Was soll sein?", fragte er zurück. Er wusste, dass die Soldaten sich unwohl fühlten, ihn zu entwaffnen. Auch hatte er seinen Revolver nicht abgegeben.
„Sie kommen hier her!", befahl der Soldat.
Mungo kam und stellte sich zu ihm, auf weitere Befehle wartend. „Was ist?", fragte er, als nichts geschah.
„Sie bleiben bei uns heute Nacht."
„Heißt das, ich werde nicht nach Omaha geschickt?", wollte Mungo wissen.
„Das werden wir herausfinden, Mister Mungo."
Offenbar hatten die Soldaten vor, nun endgültig herauszufinden, wer er war. Schon häufig hatten sie ihn gefragt, mal freundlicher, mal unfreundlicher. Niemals hatte er ihnen geantwortet. Nun, er hatte nichts dagegen, die Nacht bei den Soldaten zu verbringen. Dort gab es ein Lagerfeuer und halbwegs gutes Essen.
Während Mungo hinüber zum provisorischen Lager der Soldaten schritt und mit einer lässigen Handbewegung Colonel Forsyth grüße, gab der gerade den Befehl, die Zelte der Indianer nach Waffen zu durchsuchen.
Die Aktion dauerte mehrere Stunden, da es rund hundert Tipis zu durchsuchen gab und die Soldaten nicht überall willkommen geheißen wurden. Auch war die Ausbeute an Waffen, die gefunden wurde, nicht besonders ergiebig und Forsyth unzufrieden, als man ihm dies mitteilte.
Mungo sah, wie die Soldaten die Sioux antreten ließen, um zu prüfen, ob sie die Waffen am Körper versteckten. Eine weiterer Demütigung, dachte Mungo, dem man seinen Revolver bereits abgenommen hatte. Er wusste nicht genau, was er nun war. Zivilist? Bürger? Gefangener? Offenbar wussten die Soldaten das selbst nicht, denn sie konnten sich nicht entscheiden, ob Mungo bewachte werden musste oder ob man sich mit ihm unterhalten durfte.
Mungo machte es ihnen leicht. Er antwortete auf keine der Fragen, die man ihm stellte und entschied sich für die Stellung des Gefangenen, zu Unrecht festgehalten und dennoch nicht gebrochen. Diese Haltung hatte er sich von den Sioux abgeschaut. Sie wirkte würdevoll und menschlich.
Seit Stunden hockte Mungo auf einem Stuhl unter einer Plane, die als Schutz vor Wind und Schnee dienen sollte, dabei jedoch kläglich versagte. Er blickte hinab auf das Tal, in dem die Indianer ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie nannten die Gegend „Wounded Knee", weil die Biegung des Flusses an ein verletztes Knie erinnerte. Mungo hatte die Soldaten auf den Anhöhen bereits bemerkt, als er noch unten im Tal gewesen war. Zuvor hielt er sie für eine normale Sicherheitsmaßnahme. Langsam aber wurde er unruhig bei dem Gedanken an sie. Vermutlich lag es daran, dass sie ihn entwaffnet hatten und er ihnen nichts entgegenzusetzen hatte.
Lächerlich, anzunehmen, ein Revolver könnte etwas gegen die Kavallerie ausrichten, dachte Mungo, aber ich war schon immer etwas töricht und auf meine Waffen fixiert.
Mungos Blick wurde von einem Tumult eingefangen. Da unten ging etwas schief bei der Leibesvisite, stellte er fest. Es gab ein Handgemenge und ein Mann wurde zu Boden geschleudert. Mungo wollte aufspringen, als er erkannte, was vorgefallen war: Jemand hatte begonnen, den Geistertanz zu tanzen. Eine offene Provokation, die die Soldaten sofort verstanden.
Ein Wunder, dass kein Schuss fiel, dachte Mungo, als er sich wieder auf seinen Stuhl setzen musste. Ein junger Soldat wies ihn darauf hin, ohne allzu deutlich zu machen, dass er ihn als Gefangenen ansah: „Wenn Sie sich wieder setzen würden? Ich darf Sie nicht aus den Augen lassen."
Wovon war der Junge eingeschüchtert?, fragte sich Mungo und lehnte sich zurück. Ein junger Kerl, schmal wie ein Handtuch und noch Pickel im Gesicht – was trieb ihn zum Militär? Er wusste noch nichts von der Welt und ihrer Grausamkeit. Vielleicht war das der Grund, warum Soldaten immer jünger wurden. Der Tag wird kommen, da wirst du dich zurückwünschen an den wärmenden Ofen deiner Mutter, dachte Mungo. Und: Glaub mir, ich weiß Bescheid!
Mungo tat seinem Wächter nicht den Gefallen, dass er das Wort an ihn richtete. Egal, wie jung und unerfahren der Junge war, er sollte spüren, dass er verachtet wurde für das, was er war. Ein solches Gefühl konnte für das spätere Leben eine wichtige Erfahrung darstellen.
Nur kurze Zeit, nachdem sich der Tumult um den Geistertänzer aufgelöst hatte, kam es erneut zu einem Gerangel unten im Tal. Diesmal konnte die Situation nicht so schnell stabilisiert werden und es gab Geschrei. Frauen kreischten, Kinder begannen zu weinen.
Unaufhörlich bellten die Soldaten irgendwelche Befehle, die ein Großteil der Sioux nicht verstanden: „Ruhe behalten! Zurücktreten! Halten Sie Abstand! Bleiben Sie hier!" Und: „Jetzt gib schon das verdammte Ding her!"
Mungo sprang auf, um besser sehen zu können. Sein Wächter war ebenso schockiert wie er und vergaß, ihn aufzufordern, sich wieder hinzusetzen.
„Was ist da los?", rief Mungo, als wüsste es der Junge, der neben ihm stand.
„Offenbar haben sie ein Gewehr oder sowas gefunden", spekulierte der junge Soldat.
„Was werden sie jetzt tun?", wollte Mungo wissen, der fürchtete, der Krieger könnte vor den Augen aller hingerichtet werden.
„Sie werden es ihm abnehmen", lautete die Antwort.
Er wird es ihnen nicht geben, dachte Mungo. Wenn einer eine Waffe nicht freiwillig hergibt, sie am Körper trägt, damit sie bei der Zeltdurchsuchung nicht beschlagnahmt wird, dann wird er sie unter keinen Umständen abgeben. Auch nicht, wenn man es ihm befiehlt.
Mungo versuchte zu erkennen, wer der militante Waffenbesitzer war, doch seine Augen ließen ihn im Stich. Schon länger hatte er Probleme damit. Schließlich verriet es ihm die Stimme des Sioux, die zu ihm hinauf schallte als er rief: „Das ist Diebstahl! Ich habe dieses Gewehr gekauft! Es gehört mir! Ich habe es gekauft!"
Black Coyote, dachte Mungo, was für ein Schwachkopf!
Mehrere Hände zerrten an dem fraglichen Gewehr. Mungo kannte es. Black Coyote hatte es seit Wochen stolz präsentiert als Beweis dafür, was für ein gutes Geschäft er gemacht hatte. Dabei hatte man ihn übers Ohr gehauen. Das Gewehr war nicht neuwertig und auch wenn Black Coyotes ominöser Handelspartner ihre Echtheit beteuerte, hielt Mungo die Winchester für eine billige Kopie. Keinen einzigen Schuss hatte Black Coyote bisher damit abgegeben, aus Angst man würde ihm das Ding wegnehmen. Und jetzt war es trotzdem soweit. Ironie des Schicksals.
Doch gerade als Mungo glaubte, das Handgemenge würde sich endlich zu Gunsten der Soldaten auflösen, krachte es einmal und das Geräusch hallte in der plötzlichen, entsetzlichen Stille wider. Alle schwiegen. Verwirrt sah man sich um. Niemand war zu Schaden gekommen. Der Schuss hatte sich aus Versehen gelöst und war in die Luft gegangen. Black Coyote war von allen am überraschtesten und entschuldigte sich sogleich mit großen Gesten.
Dummer Junge, dachte Mungo. Vergiss es, jetzt werden sie dir das verdammte Ding erst recht nicht wieder geben. Halt die Klappte und stell dich zurück in die Reihe! Mach schon! Black Coyote aber verstand vermutlich überhaupt nichts. Er war nicht nur ein Schwachkopf, sondern auch taub-stumm. Sein Verstand erfasste die Situation nicht und die Ratschläge seiner Stammesgenossen konnte er nicht hören oder zuordnen. Dazu ging es in dem Tal da unten zu sehr drunter und drüber.
Am Ende machte es jedoch keinen Unterschied, ob Black Coyote irgendetwas von dem verstand, was da vorging. Was auch immer er zu tun gedachte, er kam nicht mehr dazu. Mungo, immer noch stehend, sah wie Forsyth eine Handbewegung vollführte und damit offensichtlich einen Befehl gab.
Mungo stürzte nach vorne. Der Junge, der immer noch neben ihm stand, ließ sein Gewehr fallen und riss ihn grob zurück. Jetzt fühlte Mungo sich wirklich wie ein Gefangener. Er fiel zurück und schrie: „Nein! Nein! Nein!"
Doch diese Rufe konnten keine Kugeln aufhalten.
„Er hat nichts getan!", rief Mungo, auf den Knien liegend, aber das hörte niemand. Und es hätte ihm auch niemand geglaubt.
„Ihr verdammten Feiglinge!", und das brachte ihm einen Schlag mit dem Gewehrkolben ein. Danach schwieg er.
Die Götter, falls es sie gab, mochten den Erfinder des Maschinengewehrs verdammen, fand Mungo. Noch nie war etwas Gutes von diesen Dingen ausgegangen. Er krallte sich im Schnee fest, weil er sich an irgendetwas festhalten musste.
Er konnte nicht hinsehen. Dass er es hören musste, war bereits mehr, als er ertragen konnte. Die Maschinengewehre ratterten unermüdlich, ohne Mitleid mit den kreischenden Menschen im Tal zu haben. Es kam Mungo vor, als würde diese Hölle kein Ende mehr nehmen, bis es schließlich still wurde, dann dunkel.
Von der Flucht einiger Sioux, dem Tod der Soldaten, die sich bei den Indianern unten im Tal aufgehalten hatten, den Aufräumarbeiten am nächsten Morgen und dem wunderbaren Fund eines lebendigen, kleinen Mädchens im Schnee vier Tage nach dem Massaker bekam Mungo nichts mit. Erst später erfuhr er, dass Spotted Elk bei dem Massaker getötet worden war und mit ihm ein Großteil der Sioux, die sich gutgläubig für die Leibesvisite aufgestellt hatten. Von den Massengräbern sah er ebenfalls nichts.
Wo war er gewesen? Das fragte sich Mungo später immer wieder. Niemand hatte ihn aufgehalten, als er davon gerannt war, die Anhöhe hinauf und hinter die Reihen der Hotchkiss-Geschütze, die in der Nacht schweigen durften. Die Soldaten waren damit beschäftigt, Löcher zu buddeln, Leichen zu zählen und sich Lügen auszudenken, wie sie das ganze später entschuldigen konnten.
Wo war er gewesen? Durch den Schnee stolpernd, allein und sich bewusst, dass es vorbei war. Wieder einmal hatte er alles verloren und war gezwungen, irgendwie irgendwo neu anzufangen.
Tränen hinterließen ihre Spuren auf seinem Gesicht, als er beschließen musste, als Dave Jenkins zurück in die Zivilisation zu kehren. Niemals hatte er geglaubt, dass er diesen Namen je wieder benutzen würde.
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